Wohl selten wird Wohnraum, oder besser der Mangel eines solchen, so sehr von politischen Großwetterlagen geprägt wie an der Außengrenze der EU. In Griechenland hausen Schutzsuchende über lange Zeit in Lagern – doch trotz Pandemie und Brandkatastrophen zeichnet sich kein Paradigmenwechsel in Brüssel ab.
„Try to see if you can sleep on the ground with your own beloved ones“, spricht Sabis Stimme aus dem Smartphone von Terry Reintke, die für die Fraktion Grüne/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament sitzt. „Try it without having enough food, water or some sort of a shelter“.
Sabi stammt aus Afghanistan und ist Geflüchteter auf Lesbos. An diesem 17. September 2020 tragen Reintke und ihr Fraktionskollege Erik Marquardt seine Worte in die Sitzung des Europäischen Parlaments[1]. Unterbrochen wird die Aktion von Sitzungsleiterin Katarina Barley (Progressive Allianz der Sozialisten und Demokration (S&D)): Nur Parlamentarier:innen seien berechtigt, vor dem Parlament sprechen. Insofern ist ihr kein Vorwurf zu machen, symbolisch wirkt ihre Intervention gegen den Appell eines unmittelbar Betroffenen dennoch. Die Stimmen von Migrant:innen wurden und werden von den Entscheider:innen in Brüssel nicht gehört.
In seinem Statement, das Reintke nun weiter vorträgt, umreißt Sabi in mahnenden Worten die Obdachlosigkeit und die materielle Not, von der seit dem Brand des Lagers Moria am 9. September 2020 Tausende Geflüchtete – Männer*, Frauen* und Kinder – auf Lesbos betroffen waren. Vor dem Brand hatten die mehr als 12.000 Bewohner:innen nach ersten Coronafällen in dem Camp bereits einige Tage in Quarantäne verbringen müssen. Das Statement zeigt, wie stark sich Lebensrealitäten unterscheiden je nachdem, welchen Status das Unionsrecht einem Menschen zuweist. In der Brandnacht realisiert sich eine von vielen Bedrohungen, denen Bewohner:innen griechischer Lager seit Jahren ausgesetzt sind – möglicherweise der bisherige katastrophale Höhepunkt einer Politik, die menschenunwürdige Lager an den Außengrenzen eingerichtet und in diesen Lagern menschenunwürdige Zustände geduldet hat.
Die Zäsur in der griechisch-türkischen Ägais
Ende Februar 2020 erlitt die bisherige Migrationspolitik der EU Risse: Die Türkei kündigte einseitig das seit 2016 bestehende Migrationsabkommen mit der EU auf. In diesem Abkommen hatte die EU der Türkei finanzielle Hilfen in Milliardenhöhe und Visaerleichterungen in Aussicht gesellt, sofern die europäische Außengrenze für aus der Türkei kommende Migrant:innen unerreichbar bliebe. Für Asylsuchende, die dennoch Unionsgebiet erreichen, sollte das Abkommen eine schnelle Entscheidung und ggf. Rückführung gewährleisten. Damals bewirkte das EU-Türkei-Abkommen eine rapide Verschärfung des europäischen Grenzregimes: Aus Hotspots, die ursprünglich zur Registrierung von Migrant:innen vorgesehen waren, entwickelten sich Gefängnisse, in denen Menschen entgegen den menschenrechtlichen Haftstandards inhaftiert wurden. Auch die Grundlinien des Asylverfahrens wurden den Anforderungen aus der Grundrechte-Charta der EU (GRCh), dem Unionssekundärrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht mehr gerecht.[2]
Infolge der Aufkündigung des Abkommens konnten zahlreiche Migrant:innen von der Türkei aus ungehindert die griechischen Inseln erreichen. Griechenland ist gegen die zunehmende Einwanderung massiv vorgegangen, hat die höchste Notstufe ausgerufen und ab März 2020 die Bearbeitung von Asylanträgen ausgesetzt. In Brüssel stießen die verschärften Maßnahmen auf ein positives Feedback. Die Verschärfung des Grenzregimes insbesondere durch die griechischen Behörden und die EU-Agentur Frontex wurde von der Union im Sinne der mitgliedsstaatlichen Solidarität mitgetragen. Für die Asylsuchenden auf dem Weg zu und in den Lagern auf den griechischen Inseln hatte das Zerwürfnis zwischen der EU und der Türkei dagegen beträchtliche Auswirkungen: Die hygienischen Zustände und die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln und medizinischen Gütern[3] verschärften sich weiter, da Griechenland Geflüchtete nicht mehr auf das Festland weiterreisen ließ und Hilfsorganisationen den Zugang zu den Lagern erschwerte.[4]
Zementierung der Hotspots?
Dann brennt Moria, das größte griechische Lager. Viele Kommunen bieten humanitäre Aufnahmen an, in der Zivilgesellschaft wird ein Neustart laut wie selten gefordert. Doch als unmittelbare Abhilfe stellt die EU neue Zeltlager auf, in denen angemessene hygienische Zustände und ausreichend Schutz vor Niederschlag und Kälte weiterhin eine Utopie bleiben.
Ende September wird klar: Einen ernsthaften Neuanfang strebt die EU nicht an. Als Kommissarin Ylva Johansson zwei Wochen nach dem Brand den neuen Asyl- und Migrationspakt[5] vorstellt, erwähnt sie Moria mit keinem Wort. Stattdessen eine Beschwerde: In den Nachrichten stehe nur das, was „nicht so gut laufe“, die „irregulären Ankünfte“; dabei werde die Union durch legale Einwanderung doch so sehr bereichert.[6] Allerdings ist es ihr Ressort für Innere Angelegenheiten, das in der Handlungspflicht steht und die Ereignisse an den EU-Außengrenzen mit geltenden Menschenrechtsstandards in Einklang bringen muss.
Was für ein Migrations- und Asylrecht dürfen Ankommende in der EU erwarten? Das Spektrum der ihnen zustehenden Rechte richtet sich nach ihrem Status. Migrant:innen aus wirtschaftlichen Beweggründen sind vor einer unrechtmäßigen Inhaftierung – ohne hinreichenden Haftgrund oder über eine unverhältnismäßig lange Dauer – geschützt. Einen höheren Schutzstatus genießen Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 A Nr. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 (GFK) – Menschen, deren Leben oder Freiheit in ihrem Herkunftsstaat durch Verfolgung aufgrund ihrer ethnischen, religiösen oder sozialen Zugehörigkeit, ihrer Nationalität oder ihrer politischen Überzeugung bedroht sind. Um sicherzugehen, dass Schutzberechtigte diesen international garantierten Schutz beanspruchen können, muss die EU Asylanträge einzelfallbezogen und umfassend prüfen. Dies ergibt sich aus den in Völker- und Unionsrecht garantierten Rechten, die kontinuierlich gewahrt und durch effektive Rechtsschutzmechanismen einklagbar sein müssen. Leitlinie ist das Prinzip der Nicht-Zurückweisung, das die Abschiebung von Schutzsuchenden in Staaten verbietet, in denen ihnen Folter oder Verfolgung drohen (Art. 33 GFK). Dieses Recht können Menschen nur in besonders engen Ausnahmefällen verwirken. In der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) wird dieses Prinzip durch die Rechte auf Leben und Freiheit (Art. 2 und 5) sowie das Verbot von Folter (Art. 3) konkretisiert; das Primärrecht (d.h. das übergeordnete „Verfassungsrecht“) der EU erklärt die GFK zur verbindlichen Leitlinie der Asylpolitik (Art. 78 Abs. 1 Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV)) und verbietet (Kollektiv-) Ausweisungen und Abschiebungen in unsichere Staaten (Art. 19 GRCh).
Zwei-Klassen-System im neuen Asylverfahrensrecht
Der neue Pakt wird diesen Anforderungen allerdings nicht gerecht. Vorgesehen ist zunächst eine Stärkung des Grenzschutzes von Herkunfts- und Transitstaaten durch Haushaltsmittel der EU. Diese Investitionen hindern Schutzbedürftige bereits physisch daran, Asyl in der EU zu erhalten, denn ein Asylantrag kann nur auf Unionsgebiet gestellt werden. Die Investitionen verfolgen einen ähnlichen Ansatz wie das EU-Türkei-Abkommen – die EU kauft sich von der Verantwortung für die Aufnahme internationaler Schutzsuchender frei.
Sofern diese dennoch die Außengrenze der EU, insbesondere die griechischen Inseln erreichen, werden sie mit einem verschärften Grenzregime konfrontiert. Zunächst wird in einem regulär fünftägigen Screeningverfahren ermittelt, ob überhaupt ein regulärer Asylantrag gestellt werden kann, weil erkennbar Aussichten auf Anerkennung der Asylberechtigung bestehen (Art. 6 Abs. 3 Screening-VO). Der Vulnerabilitätscheck als wichtiger Bestandteil des Screenings (Art. 10) wird in dieser kurzen Zeit Schutzbedürfnisse jenseits von offensichtlichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen allerdings kaum identifizieren können, zumal diese Checks nicht verpflichtend von den Behörden durchzuführen sind. Zu denken ist etwa an die Bedürfnisse von LGBTIQ*-Menschen, die in ihrem Herkunftsstaat von Verfolgung betroffen sind.[7] Daher ist es wahrscheinlich, dass Menschen ungerechtfertigt dem anschließenden beschleunigten Grenzverfahren zugeteilt werden. Denjenigen Menschen stünde im neuen Zwei-Klassen-System dann kein reguläres Asylverfahren mehr zu. Durch mangelnde Informationen, Verfahrensgarantien und mangels Zugang zu Rechtsbeistand wird Betroffenen eine gerichtliche Überprüfung des Verfahrensausgangs erschwert.
Das beschleunigte Grenzverfahren betrifft grundsätzlich auch Menschen, die keine Papiere vorzeigen, aus einem als sicher eingestuften Drittstaat einreisen oder aus Staaten stammen, deren Staatsangehörige in weniger als 20 % der Fälle erfolgreich Asyl in der EU beantragen (Art. 40 Abs. 1 lit. c, i Asylverfahrens-VO). Sie finden an der Außengrenze statt, wobei sich die rechtliche Fiktion, dass die Migrant:innen dabei nicht das Territorium eines Mitgliedsstaats betreten (Art. 41 Abs. 6, 13 Asylverfahrens-VO), nur durch eine Einschränkung ihrer tatsächlichen Bewegungsfreiheit durchsetzen lassen dürfte. Diese Fiktion ist erforderlich, weil bei Betreten des territorialen Geltungsbereich des Unionsrechts (Art. 52 EUV) wesentliche Rechte, insbesondere das Recht zu einem regulären Asylantrag, aktiviert werden. Für eine Verfahrensdauer von bis zu 12 Wochen (Art. 41 Abs. 11 Asylverfahrens-VO) sind somit Inhaftierungen möglich.
Effizienz statt Menschenrechte
Es ist im Grundsatz verfehlt, individuellen Migrant:innen nach generalisierenden Kriterien gar nicht erst die Möglichkeit zu einem regulären Asylantrag zu gewähren – damit eignet sich dieses maximal effiziente Verfahren nicht zu einer umfassenden Prüfung der Schutzbedürftigkeit einzelner Menschen. Entgegen vielseitiger Beschwerden von Menschenrechtsorganisationen soll auch die zulässige Haftdauer für abgelehnte Asylbewerber:innen von vier auf bis zu zwölf Wochen erweitert werden (Art. 41a Abs. 2 Asylverfahrens-VO). Mit der Inhaftierung soll verhindert werden, dass die Betroffenen sich von der Außengrenze wegbegeben und sich so einer Abschiebung entziehen. Diese Rahmenbedingungen kommen einer Fortführung der gescheiterten „Hotspots“ gleich – viele Hilfsangebote, insbesondere rechtlicher oder medizinischer Art, werden Betroffene dort nicht erreichen.[8] Bemerkenswert ist, dass im Falle eines hohen Migrationsaufkommens reguläre Asylverfahren weitgehend ausgesetzt werden können (Art. 4 Abs. 1 lit. a Krisen-VO). Im „Krisenfall“ werden die zulässigen Inhaftierungsperioden um jeweils acht Wochen ausgeweitet, insgesamt können Migrant:innen damit 40 Wochen lang in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden. So werden „Hotspots“ als Gefängnisse nicht als äußerstes Mittel, sondern regulär im europäischen Grenzregime fortbestehen.
Schließlich soll das in Art. 7 der Screening-VO vorgesehene Monitoring sicherstellen, dass die beteiligten staatlichen und EU-Akteure fundamentale Grundrechte zu jedem Verfahrenszeitpunkt eingehalten werden. Aber auch dieses Monitoring wird keinen effektiven Rechtsschutz fördern können. Es fehlen Sanktionsandrohungen gegenüber den Mitgliedsstaaten. Dass das Monitoring jeweils auf mitgliedsstaatlicher Ebene verantwortet wird, lässt Zweifel an der Unabhängigkeit des Verfahrens aufkommen. Vielmehr sollte das Monitoring durch die EU finanziert und durch die Mitbeteiligung von zivilgesellschaftlichen Organisationen geprägt sein.[9]
Bei alledem dürfen die Auswirkungen der Coronapandemie nicht unberücksichtigt bleiben. Als die Pandemie die Lager erreichte und Infektionsfälle in den medizinisch erbärmlich ausgestatteten Zeltlagern auftraten, war für 40.000 Menschen der Rückzug in eigene vier Wände unmöglich. Die Duldung dieser Zustände verstößt gegen die auch von Griechenland ratifizierte Europäische Sozialcharta (Art. 11 und 13) und andere Grundsätze für die Aufnahme von Schutzsuchenden (etwa Art. 17 Abs. 2 RL 2013/33/EU).
Wessen Interessen beherrschen Asylpolitik?
In Brüssel blockieren vordergründig die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) eine Neuausrichtung. Sie weisen auch konsequent Verteilungsmaßnahmen zurück, die zur Entlastung von Italien und Griechenland in Kommissionsbeschlüssen vorgesehen sind. Anfang April 2020 verurteilte der EuGH Polen, Tschechien und Ungarn in Vertragsverletzungsverfahren, nachdem die drei Staaten es versäumt hatten, regelmäßig Kontingente für die Umsiedlung von Schutzsuchenden in ihr Hoheitsgebiet mitzuteilen.[10]
Die geographisch bedingt ungerechte Zuständigkeitsverteilung im Dublin-System ist ein weiterer Grund für fortwährende Menschenrechtsverstöße an den Außengrenzen. Italien und Griechenland kriminalisieren das humanitäre Engagement von NGOs und begehen eigenständig Rechtsverstöße, wenn Italien seine Häfen für private Seenotrettungsschiffe verschließt und die griechische Küstenwache in Pushbacks verwickelt ist.
Andererseits fallen die mangelnde Unterstützung aus Brüssel sowie innenpolitische Vorbehalte gegen eine einseitige Belastung des nationalen Asylsystems ins Gewicht. Gerade seit der Aufkündigung des Türkei-Deals hat sich der Druck auf Griechenland nochmals verschärft. Das Lippenbekenntnis zur Solidarität, zur „gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeit unter den Mitgliedsstaaten“ in der Einwanderungspolitik (Art. 80 AEUV) muss daher dringend umgesetzt werden. Ohne die Zuständigkeitskriterien wesentlich zu ändern, führt der neue Pakt den abenteuerlichen Begriff der „flexiblen Solidarität“ (Art. 45 Asyl- und Migrationsmanagement-VO) ein: Mitgliedsstaaten sollen sich gegenüber den von Migration unmittelbar betroffenen Staaten solidarisch zeigen. Ob die Staaten aber tatsächlich Asylbewerber:innen in ihr Hoheitsgebiet umsiedeln oder nur Kapazitäten in den unmittelbar von Migration betroffenen Staaten ausbauen? Europäische Solidarität in dieser wichtigen europäischen Angelegenheit wird zum cherry picking je nach nationaler Opportunität. Zu einer Aufnahme von Geflüchteten verpflichtet dies keinen Staat. Von effektiver Solidarität wird wenig übrig bleiben, wenn sich sämtliche Mitgliedsstaaten dagegen entscheiden, Asylsuchende aus Griechenland und Italien zu übernehmen.[11]
Es bleiben die „Abschiebepatenschaften“, ein höchst fragwürdiger und enttarnender Begriff: Ein nicht aufnahmewilliger Staat kann immerhin Griechenland oder Italien solidarisch bei Abschiebungen von auf deren Staatsgebiet befindlichen Menschen unterstützen (Art. 55 AMM-VO). Wirkungsvoll wird der Solidaritätsmechanismus vor allem da, wo es um ein Grundanliegen des neuen Migrationspakts geht: Abgelehnte Asylbewerber:innen effektiv in ihre aus EU-Perspektive als „sicher“ geltenden Herkunftsstaaten abzuschieben.
Wechselwirkung zwischen europäischen Gerichten und der Politik
Europäische Gerichte können und sollen Menschenrechtsverletzungen Grenzen aufzeigen. Das Urteil des EGMR im Fall ND & NT v Spain liest sich dagegen als gerichtliche Bekräftigung des rigiden Grenzregimes: Die Große Kammer des EGMR hob im Februar 2020 ein Urteil der Vorinstanz auf, nach dem die unmittelbare Abschiebung eines Ivorers und eines Maliers am spanisch-marrokanischem Grenzzaun in Melilla gegen deren in der EMRK garantierte Rechte verstößt. Es liege vielmehr keine nach Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK verbotene kollektive Ausweisung vor, da den Antragsstellern ein „own culpable conduct“ vorzuwerfen sei.[12] Die Afrikaner hätten „trotz legaler Einreisemöglichkeiten“ den Grenzzaun gemeinschaftlich in einer größeren Gruppe überklettert. Diese Rechtsprechungslinie ist erheblich kritisiert worden; nach Recherchen von Forensic Architecture sind auch Tatsachen unzutreffend ermittelt worden: Eine legale Möglichkeit für Menschen aus Subsaharaafrika, in den spanischen Exklaven unbehelligt von spanischen und marrokanischen Behörden einen Asylantrag zu stellen, bestehe faktisch nicht.[13] Unter diesen Umständen sendet das Urteil ein fatales Signal. Spanien sieht sich inzwischen mit einem weiteren vor dem EGMR anhängigen Verfahren konfrontiert.[14]
„Wir Flüchtlinge haben geglaubt, dass die Menschenrechte in Europa respektiert werden“. Für Sabi und viele andere bleibt dies eine enttäuschte Hoffnung. Die Menschenrechte als zentrales Wertegerüst der Union werden zugunsten von Unionsbürger:innen respektiert; im Umgang mit Schutzsuchenden steht in der Asylpolitik eine menschenrechtsfeindliche Effizienz an oberster Stelle.
Unter diesen Umständen ist die EU nicht mehr glaubwürdig. Das friedensnobelpreisgekrönte Verständigungsprojekt setzt für seine Mitgliedsstaaten die Akzeptanz von Menschenrechten als rechtlich-moralischen Wertekonsens voraus. Diesem Anspruch wird die EU-Politik immer weniger gerecht. Insbesondere darf eine Staatengemeinschaft, die sich die Menschenrechte auf die Fahnen und in die primärrechtlichen Leitlinien ihres Vertragswerks schreibt, nicht zulassen, dass Menschen in unwürdigen Unterkünften an der Außengrenze hausen müssen, anstatt ihr Leben in Freiheit an einem Ort zu verbringen, den sie Zuhause nennen wollen. Nach den Ereignissen des Pandemiejahres 2020 darf es ein kollektives Wegschauen und Verdrängen von Seiten der EU-Institutionen, der Mitgliedsstaaten und der europäischen Gerichte nicht mehr geben.
Weiterführende Medien:
FRA, Update of the 2016 FRA Opinion on fundamental rights in the hotspots set up in Greece and Italy, 4.3.2019, https://fra.europa.eu/en/publication/2019/update-2016-fra-opinion-fundamental-rights-hotspots-set-greece-and-italy
Barbara Joannon et al., New Pact on Migration: An Exacerbation of Past Failures in Shiny New Packaging, 30.9.2020, Border Criminologies Blog (Oxford), https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2020/09/new-pact
Recherche zu der Situation in Spanien (Video, 14 Minuten), https://forensic-architecture.org/investigation/pushbacks-in-melilla-nd-and-nt-vs-spain
[1] Erik Marquardt, Video, Twitter, 15.9.2020, https://twitter.com/ErikMarquardt/status/1306589284355383298 (alle Fn. in diesem Artikel Stand 06.12.2020).
[2] European Union Agency For Fundamental Rights (FRA), Update of the 2016 FRA Opinion on fundamental rights in the hotspots set up in Greece and Italy, 4.3.2019, https://fra.europa.eu/en/publication/2019/update-2016-fra-opinion-fundamental-rights-hotspots-set-greece-and-italy.
[3] Interview mit Clara Anne Brünger, Desaströse Zustände in den Elendslagern, DLF Kultur, 8.10.2019, https://www.deutschlandfunkkultur.de/anwaeltin-zur-situation-auf-lesbos-desastroese-zustaende-in.1008.de.html?dram:article_id=460508.
[4] Rodothea Seralidou/Thomas Bormann, Hilflosigkeit, Abschottung und Hass, DLF Kultur, 11.3.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/griechenland-und-die-gefluechteten-hilflosigkeit.979.de.html?dram:article_id=472165.
[5] Überblick über die zum Migrations- und Asylpakt gehörigen Dokumente unter https://ec.europa.eu/info/publications/migration-and-asylum-package-new-pact-migration-and-asylum-documents-adopted-23-september-2020_en.
[6] Ylva Johansson, Rede vom 23.9.2020, https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2019-2024/johansson/announcements/new-pact-migration-and-asylum_en.
[7] Barbara Joannon et al., New Pact on Migration: An Exacerbation of Past Failures in Shiny New Packaging, 30.9.2020, Border Criminologies Blog (Oxford), https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2020/09/new-pact.
[8] Human Rights Watch, The Pact on Migration and Asylum, 8.10.2020, https://www.hrw.org/news/2020/10/08/pact-migration-and-asylum.
[9] Human Rights Watch et al., Statement: Turning rhetoric into reality – New monitoring mechanism at European borders should ensure fundamental rights and accountability, November 2020 https://www.hrw.org/sites/default/files/media_2020/11/FINAL%20Statement%20IBMM%20November%202020.pdf.
[10] EuGH, Urteil vom 2.4.2020, C-715/17; C-718/17; C-719/17, Rn. 189.
[11] Nikolaj Nielsen, EU ‚front-line states‘ want clearer migration rules, EU-Observer, 26.11.2020, https://euobserver.com/migration/150196.
[12] EGMR, Urteil vom 13.2.2020, ND & NT v. Spain [GC], Nr. 8675/15 und 8697/15, § 231.
[13] https://forensic-architecture.org/investigation/pushbacks-in-melilla-nd-and-nt-vs-spain.
[14] Gabriela Sánchez, Un caso de un inmigrante apaleado en Melilla en 2014 mantiene vivo el debate europeo sobre las devoluciones en caliente, 18.6.2020, eldiario.es, https://www.eldiario.es/desalambre/presentan-estrasburgo-falsedades-delegaciones-inmigrante_1_6065759.html.