Im Zuge der öffentlichen Empörung im Sommer 2020 über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie gelangten auch Infos über die Wohnbedingungen dortiger Arbeiter:innen an die Öffentlichkeit. Auch in den sechziger und siebziger Jahren wurden Arbeitsmigrant*innen ähnlich menschenunwürdig untergebracht. Damals wie heute regte sich jedoch auch Widerstand gegen diese Wohnverhältnisse.
Im Juli 2020 stellten die Ordnungsbehörden im nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück (dem Sitz der Tönnies Holding) hunderte Bescheide an zumeist osteuropäische Tönnies-Beschäftigte zu, in welchen der weitere Verbleib in häuslicher Quarantäne angeordnet wurde. Dabei waren sie zu diesem Zeitpunkt bereits vier Wochen unter Quarantäne. Vorausgegangen war ein massiver Ausbruch von Covid-19 in der örtlichen Fleischfabrik und darauffolgend deren vorübergehende Schließung. Im benachbarten Verl wurde sogar eine ganze Siedlung mit Bauzäunen abgeriegelt, wobei Infizierte und Nicht-Infizierte gemeinsam ihrem Schicksal überlassen wurden. Grundlagen waren jeweils Allgemeinverfügungen der Kommunen, des Kreises Gütersloh oder der Landesregierung. Die Bescheide nahmen Bezug auf offenbar gefälschte Corona-Tests und angebliche Anhörungen der Betroffenen. Vom deutschen Staat allein gelassen in oft erbärmlichen Wohnverhältnissen. Unvorstellbar, dass eine solche Maßnahme für deutsche Staatsangehörige angeordnet worden wäre.[1]
Bei einer durch die massiven Covid-19-Ausbrüche ausgelösten Kontrolle der Arbeitsschutzverwaltung des Bundeslandes NRW wurden 2020 rund 650 Sammel- und Gemeinschaftsunterkünfte überprüft, welche von über 5.300 Personen bewohnt waren. Dabei gab es knapp 1.900 Beanstandungen. Von fehlenden Hygienemaßnahmen über „Schimmelpilzbefall, Einsturzgefahr, undichte Dächer, katastrophale Sanitäreinrichtungen, Ungezieferbefall und Brandschutzmängel“ war alles dabei, was man sich an menschenunwürdigen Wohnbedingungen vorstellen kann. Die meisten Wohnungen waren außerdem überbelegt. Vier Wohnungen mussten als Folge der Beanstandungen geräumt werden.[2] Die Covid-19-Pandemie und der Umgang der deutschen Behörden und Unternehmen mit den migrantischen Arbeiter:innen verschärfen ohnehin unhaltbare Zustände. Zwar gab es auch offenen und kollektiven Widerstand, wie etwa den Streik der Erntehelfer:innen in Bornheim bei Bonn.[3] Doch größtenteils sind die Arbeiter:innen noch zu vereinzelt in ihren Problemlagen.
Vorwärts, und nicht vergessen
1955 unterzeichneten die BRD und Italien das erste sog. Anwerbeabkommen. Bis 1968 folgten vergleichbare Abkommen mit acht weiteren Staaten. Bis zum Anwerbestopp 1973 kamen etwa 14 Millionen sog. Gastarbeiter:innen[4] in die BRD, von denen um die 11 Millionen wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten. Eingesetzt wurden sie zumeist für harte und dreckige Arbeit in der Industrie, aber auch im Handwerk oder auf dem Bau. Dabei war ursprünglich ein Rotationsmodell vorgesehen, nachdem die Arbeiter:innen nur für eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben sollten. Dementsprechend erfolgte zumeist auch die Unterbringung in selbst für damalige Verhältnisse bescheidenen Unterkünften. Simon Goeke beschreibt in seiner spannenden Studie „Wir sind alle Fremdarbeiter“, wie sich gegen die Wohnbedingungen schon früh Widerstand regte.[5] Denn nicht nur mit den Arbeitsbedingungen und Löhnen waren die die Gastarbeiter:innen unzufrieden: „Tatsächlich führte […] gerade die Enge und Abgeschlossenheit der Wohnheime schon früh zu Protesten, und auch in späteren Arbeitsniederlegungen und außerbetrieblichen Kämpfen blieb die Lage der ausländischen Bevölkerung auf dem Wohnungsmarkt ein zentrales Thema.“[6] 1964, als sich bereits über eine Million Arbeiter:innen in die BRD aufhielten, lebten 84% von ihnen in von ihren jeweiligen Arbeitgeber:innen bereitgestellten Sammelunterkünften. Gerade einmal 2 % von ihnen verfügte über ein eigenes Schlafzimmer. Zwar änderte sich dies relativ zügig und bereits 1968 lebte die Mehrheit in Privatwohnungen. Jedoch standen ihnen im Schnitt nur zwei Drittel des Wohnraums von Deutschen zur Verfügung.[7] Schon früh kam es daher zu meist spontanen Arbeitsniederlegungen von migrantischen Arbeiter:innen. Diese richteten sich auch immer wieder gegen die Wohn- und Lebensbedingungen.
So etwa im November 1962, als italienische Arbeiter:innen des Volkswagen-Werks in Wolfsburg in einen spontanen Streik traten: „Etwa 1.800 Beschäftigte waren nach einer Nacht mit Krawallen und brennenden Barrikaden in der werkseigenen Wohnsiedlung nicht zur Frühschicht erschienen.“[8] Auslöser war der Tod eines italienischen Arbeiters und die dafür von seinen Kolleg:innen verantwortlich gemachte gesundheitliche Versorgung in den Wohnheimen. Dabei war die wohnliche Qualität der Unterbringung nicht einmal das Problem. Vielmehr bedrückte die Isolation die Arbeiter:innen: „Auch wenn es nicht darum gehen kann, einen Vergleich mit heutigen Wohnstandards durchzuführen, muss doch allgemein davon ausgegangen werden, dass die Unterbringung in einer eingezäunten Wohnsiedlung auf Betriebsgelände, gemeinsam mit knapp zweitausend anderen Männern, Spannungen und Unzufriedenheiten auslösen konnte.“[9] Die Streiks wurden zwar anfangs mit Repressionen beantwortet, hunderte Migrant:innen wurden entlassen oder verließen den Betrieb mehr oder wenig freiwillig. Relativ schnell reagierten aber der Betriebsrat bei VW und die IG Metall und begannen Vertrauensleutestrukturen, also eine betriebliche gewerkschaftliche Vertretung, für die ausländischen Kolleg:innen zu bilden. Mit Lorenzo Annese wurde 1965 bei VW Wolfsburg der erste nichtdeutsche Betriebsrat gewählt. Die Einbindung der migrantischen Beschäftigten in die demokratischen Strukturen des Betriebes und der Kommune ermöglichte diesen einen Weg, „Unzufriedenheiten schneller zu kommunizieren, wodurch Konflikte erkannt, und Eskalationen frühzeitig verhindert wurden.“[10]
Aber hier Urlaub? Nein danke!
Eine Besonderheit migrantischer Arbeitskämpfe stellten Streiks gegen Entlassungen dar, die vom Betrieb wegen verspäteter Rückkehr aus dem Urlaub ausgesprochen wurden. Prominentestes Beispiel hierfür ist der von der deutschen Presse damals abfällig als „Türkenstreik“ titulierte Arbeitskampf bei Ford in Köln 1973.[11] Aber auch die Arbeitsniederlegung von spanischen und portugiesischen Arbeiter:innen beim Automobilzulieferer Karmann in Osnabrück im gleichen Jahr muss erwähnt werden.[12] Bei diesen Streiks ging es vor allem um das Recht, den Jahresurlaub zusammenhängend im Sommer nehmen zu dürfen, um diesen bei Freund:innen und Familie in den Herkunftsländern verbringen zu können. Dies hatte sicherlich nicht nur nostalgische Gründen oder war dem besseren Wetter geschuldet. Es hing vielmehr auch mit den Lebensumständen im „Gastland“ zusammen, der von der deutschen Mehrheitsgesellschaft verweigerten Integration, dem partiellen Ausschluss sozialer Teilhabe und den oftmals noch prekären Wohnbedingungen.
Zwar war das Verhalten der deutschen Gewerkschaften bei vielen betrieblichen Auseinandersetzungen mit migrantischer Beteiligung nicht immer glücklich. Die fehlende Solidarisierung mit den bzw. die teils offene Agitation gegen die Streikenden bei Ford 1973 kostete die IG Metall viel Vertrauen.[13] Dass die allgemeine Wohnsituation der migrantischen Arbeiter:innen und ihrer Familien problematisch war, hatten die Gewerkschaften aber durchaus auf dem Schirm. So kam es ab Ende der sechziger Jahre zu entsprechenden Anträgen auf Gewerkschaftstagen, öffentlichen Bekundungen sowie vereinzelt sogar zu Tarifverträgen, welche bessere Unterkünfte vorsahen.[14]
Mit dem Anwerbestopp 1973 stellte sich für viele Migrant:innen die Frage, ob sie in Deutschland bleiben sollten. Da es für viele derjenigen, die sich dafür entschieden, eine endgültige Entscheidung war, begannen sie auch zunehmend, sich nach dauerhaften Bleiben für sich und ihre Familien umzuschauen. Dabei waren sie weiteren rassistischen Erfahrungen ausgesetzt. Murat Çakır, Regionalbüroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen, berichtet, wie er mit seinen Eltern auf Wohnungssuche war. Nach einem Telefongespräch mit einem Vermieter erfolgte eine Einladung zur Wohnungsbesichtigung. Als er den Mietvertrag unterschreiben wollte, sah der Vermieter den Namen und sagte: „Oh, meine Mieter wollen aber keine Türken im Haus.“[15]
Rettung durch neues Arbeitsschutzkontrollgesetz?
Zurück ins Heute: Nach langem Hin und Her wurde in der letzten Sitzungswoche des Jahres 2020 das sogenannte Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz) von Bundestag und -rat beschlossen. Dies ist vor allem dem konsequenten Druck der Gewerkschaften zu verdanken, die nicht lockerließen und das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit trugen. Dass der bereits im Juli 2020 vorgelegte Gesetzesentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) erstmal auf Eis lag, war der Lobbypolitik der Fleischbarone geschuldet. Insbesondere die nordrhein-westfälische CDU intervenierte heftig gegen die geplanten Regelungen wie das (nun zeitlich gestaffelte) Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit und schärferen Arbeitsschutz. Der Gedanke ist nicht fernliegend, dass dies mit den jährlichen großzügigen Spenden von Clemens Tönnies an die CDU in Verbindung zu bringen ist.
In der Gesetzesbegründung wird durchaus die vorhandenen Probleme benannt, z.B., dass „bei Gemeinschaftsunterkünften außerhalb des Betriebsgeländes oder von Baustellen für die zuständigen Aufsichtsbehörden der Länder die Schwierigkeit [besteht], die verantwortlichen Betreiber, die Adressen der Gemeinschaftsunterkünfte sowie Angaben zu den dort untergebrachten Personen und deren Unterbringungsdauer zu ermitteln.“ Oder dass die betroffenen Arbeiter*innen „ganz überwiegend aus dem Ausland“ sind und „aufgrund von Sprachbarrieren sowie Unkenntnis ihres Anspruchs auf eine angemessene Unterbringung nicht in der Lage [sind], sich selbständig adäquaten Wohnraum zu beschaffen.“[16] Zwar schafft das Gesetz nun Möglichkeiten, Arbeitgeber*innen zu verpflichten, angemessene Unterkünfte für ihre Beschäftigten bereitzustellen und definiert auch gewisse Vorgaben für diese Wohnungen. Ob das aber in der Praxis zu spürbaren Verbesserungen der Wohn- und Lebensbedingungen der migrantischen Beschäftigten führen wird, wird man abwarten müssen. Denn bisher wurde sich, wie die beschriebenen Kontrollen gezeigt haben, nicht an geltendes Recht gehalten.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte schon im Juli in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf angemerkt, dass bei den nun getroffenen Regelungen „Klärungs- und Nachbesserungsbedarf“ bestehe: „Der Entwurf sieht eine neue Kategorie von ‚Gemeinschaftsunterkünften‘ vor, was geltende Standards nach dem Arbeitsstättenrecht aufweicht.“[17] Weiterhin kritisiert er, dass die im Gesetz vorgesehene „Unterscheidung der Standards nach der Länge der Beschäftigung“ beispielsweise Saisonarbeiter:innen benachteilige und es weiterhin keinen wirksamen Schutz gegen überteuerte Mieten und somit die indirekte Umgehung des Mindestlohnes gebe. Die Vorgaben sind also schwammig und es steht zu befürchten, dass es weiterhin zu eklatanten Missständen kommen wird bzw. die bestehenden nur teilweise behoben werden.
Die für die allermeisten der betroffenen Arbeiter:innen geltende Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union ist für sie nur teilweise von Vorteil. Denn sie suggeriert eine rechtliche Gleichstellung gegenüber deutschen Beschäftigten, welche tatsächlich nicht exisitiert. Monieren Saisonarbeiter:innen in der Landwirtschaft etwa fehlerhafte Abrechnungen, werden sie damit bedroht, im nächsten Jahr keinen Job mehr zu bekommen. Eine andere Methode von Arbeitgeber:innen ist die Festsetzung irrsinniger Akkordlöhne. Diese werden nachträglich wieder in Stunden umgerechnet, um das Mindestlohngesetz zu umgehen.[18]
Das Problem heißt Rassismus
Es handelt sich um ein durch und durch ausbeuterisches und vor allem zutiefst rassistisches System. Rassistisch seitens der Unternehmen, welche die soziale Situation ausländischer Beschäftigter gnadenlos ausbeuten. Dies bewegt sich teilweise noch im Rahmen des Erlaubten, geht aber oftmals weit darüber hinaus. Rassistisch aber auch seitens Öffentlichkeit und Politik. Denn die Missstände sind seit Jahren bekannt, wurden aber lange geduldet, um die Profite einer Menschen, Tiere und Umwelt verachtenden Industrie zu sichern und den Verbraucher*innen billiges Fleisch auf den Teller zu bringen. Aufgrund dieses weiterhin bestehenden strukturellen Rassismus werden gut gemeinte Gesetze allein nicht reichen.
Als Reaktion auf die öffentliche Kritik an der Unterbringung „seiner“ Arbeiter*innen, gab Tönnies bekannt, neue Wohnungen zu errichten. „Es sollten ‚gut ausgestattete Wohneinheiten zu ortsüblichen, marktüblichen Mietpreisen‘ entstehen – etwa voll möblierte Singlewohnungen von 16 Quadratmetern für 300 Euro Warmmiete oder Apartments für Paare von 27 Quadratmetern für 400 bis 450 Euro warm – je nach Lage.“[19] Optisch erinnern die geplanten Wohneinheiten an Studierendenwohnheime und die Preise mögen vielen Studis fast paradiesisch vorkommen. Gebaut wird allerdings nicht in Berlin oder München, sondern irgendwo in Ostwestfalen, wo die übliche Quadratmetermiete eher mit Schleswig oder der Lausitz vergleichbar ist. Eine andere angekündigte Maßnahme ist die Übernahme der Mietverträge von Werkvertragsarbeiter:innen, welche seit dem. 1. Januar 2021 fest angestellt werden müssen. Das ändert freilich erstmal nichts an den Wohnbedingungen vor Ort: „Im Ortsbild von Sögel sind die Unterkünfte der Schlachthofmitarbeiter leicht auszumachen. An vielfach verwahrlosten Häuserfassaden kleben lange Einwohnerlisten an den Briefkästen. Aus Müllcontainern quellen gelbe Säcke.“ Die als helfende Reaktion verkaufte Ankündigung der Übernahme bestehender Unterkünfte offenbart sich somit als zusätzliche Profitquelle für den Milliardär Tönnies. Damit stellt er vor allem unter Beweis, dass er nicht auf den Kopf gefallen ist und die Regeln des politischen Betriebes der BRD verstanden hat.
Strike back!
Es lohnt sich daher der Blick in die Vergangenheit, als Betroffene oft selbst das Heft in die Hand genommen und sich kollektiv gegen ihre miesen Wohnbedingungen gewehrt haben. Bisher findet vor allem eine Unterstützung von außen statt. So erstattete etwa die „Aktion Arbeitsunrecht“ aus Köln am 23. Juni 2020 Strafanzeige „wegen Mietwuchers bei der Unterbringung von südeuropäischen Arbeitern vor allem in der Fleischindustrie in einer Vielzahl von Fällen, verteilt über diverse örtlich zuständige Staatsanwaltschaften.“[20] Ob diese Anzeige zu Ermittlungen und einer Anklage nach § 291 Abs. 1 Nr. 1 StGB führt, bleibt abzuwarten. Die beschriebenen Zustände sollten eigentlich ausreichen und sind auch schon hinreichend öffentlich bekannt: „Die Arbeiter*innen haben zumeist nur ein Bett in einem Zimmer gemietet, das mit einer Vielzahl von Personen (zwischen 4-6) belegt ist; Sie können eventuell darüber hinaus kleine Zusatzräume (Bad, WC, Küche) nutzen, die im Regelfall allerdings dann gleich noch für mehrere Zimmer, d. h. für eine Vielzahl weiterer Personen nutzbar sind.“ Für diese Massenunterbringung müssen dann „mindestens 150 € im Monat teilweise auch 250 € und mehr gezahlt werden.“[21] Für besonders schwere Fälle, wie den gewerbsmäßigen Wucher, ordnet § 291 Abs. 2 S. 2 StGB eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren an. Dass der sog. Wucher nach § 291 StGB ein Offizialdelikt ist und damit eine Straftat, die die Staatsanwaltschaft von Amts wegen verfolgen muss, hat diese bisher wenig interessiert.
Die Gewerkschaften tun sich noch immer schwer mit der Organisierung der osteuropäischen Arbeiter:innen. Das hat zum einen ganz praktische Gründe, wie Sprachbarrieren oder im Fall von Saisonarbeiter:innen die relativ kurze Verweildauer in Deutschland. Aber auch strukturell ist beispielsweise die recht kleine Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) oft machtlos gegenüber der politisch gut vernetzten Lebensmittelindustrie. Unverzichtbar ist daher aktuell die Arbeit des Projektes „Faire Mobilität“, welches Wanderarbeiter:innen in mehreren Sprachen berät und gerade in den letzte Wochen und Monaten mit einer Informationskampagne vor den Toren großer Fleischbetriebe aktiv war.
Abhilfe könnten auch wirksame rechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten schaffen, etwa ein Verbandsklagerecht, mit welchem Gewerkschaften die Rechte Betroffener in deren Namen geltend machen würden. Die heute in § 107 GewO abgesicherte Abschaffung des Trucksystems, also der Vergütung durch Sachbezüge, ist eine Errungenschaft gewerkschaftlicher Kämpfe. Ebenso müssen Beschäftigte gleich ihrer Herkunft frei über ihren Wohnraum bestimmen dürfen, so dass etwa eine Kündigung des Arbeitsplatzes nicht automatisch zum Verlust der Wohnung führt.
Am Beispiel der Werkswohnungen lässt sich die künstliche Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre gut verdeutlichen. Die Gewerkschaften können das Arbeitsschutzkontrollgesetz zwar als eigenen Erfolg verbuchen. Die Arbeiter:innen bei Tönnies haben jedoch keinen direkten Draht ins BMAS. Das wirksamste Mittel, um sich Gehört zu verschaffen, wäre an die Politik und Öffentlichkeit adressierter, und damit nach gängiger Auffassung politischer, Streik. „Entscheidungsfindungsprozesse auf staatlicher Ebene laufen stets unter zivilgesellschaftlicher Einflussnahme ab.“[22] Es wäre eine schöne Pointe, wenn wie vor fünfzig Jahren es wieder Migrant:innen sind, die den (politischen) Streik als Mittel zum Kampf um bessere Wohn- und Lebensbedingungen für sich reklamieren.
Literaturempfehlung:
Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter“ – Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960 – 1980, 2020.
Artikel der Aktion gegen Arbeitsunrecht
[1] Siehe hierzu den „Monitor“-Beitrag vom 03.08.2020: https://www.youtube.com/watch?v=cLsGg-8gsr0 (Stand 15.12.2020).
[2] Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz), 4 f. Abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/219/1921978.pdf (Stand 15.12.2020).
[3] Siehe hierzu die umfangreiche Materialsammlung der FAU Bonn: https://bonn.fau.org/arbeitskampf-bei-spargel-ritter/ (Stand 15.12.2020).
[4] Kritische Rezeption des Begriffes „Gastarbeiter“ bei Christoph Rass – „Gastarbeiter“. Zur Geschichte eines Schlüsselbegriffs der Produktion von Migration. Abrufbar unter: https://nghm.hypotheses.org/2388 (Stand 15.12.2020)
[5] Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter“ – Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960 – 1980, 2020.
[6] Goeke (Fn. 5), 54.
[7] Ebenda.
[8] Goeke (Fn. 5), 78.
[9] Goeke (Fn. 5), 81.
[10] Goeke (Fn. 5), 87.
[11] Gelungene Darstellung bei Goeke (Fn. 5), 112 ff.
[12] Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder, 2007, 296 ff.
[13] Goeke (Fn. 5), 121.
[14] Goeke (Fn. 5), 222 ff.
[15] Der lange Marsch der Migration, Podcast „Rosalux History“, Folge 4. Abrufbar unter: https://www.rosalux.de/rosalux-history (Stand 15.12.2020).
[16] Fn. 1, 26 f.
[17] Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 23.07.2020. Abrufbar unter: https://www.dgb.de/themen/++co++e9c75f6a-e779-11ea-9647-525400e5a74a (Stand 14.15.2020).
[18] Faire Mobilität: Betrogen bei der Ernte. Abrufbar unter https://www.faire-mobilitaet.de/faelle/++co++242a1146-ce00-11e9-8d8b-52540088cada (Stand 15.12.2020).
[19] Spiegel – Tönnies will Wohnungen für Arbeiter bauen. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/toennies-will-wohnungen-fuer-arbeiter-bauen-a-1746a3c7-72a4-4bda-9cfa-7dd50b8174c6 (Stand 15.12.2020).
[20] Strafanzeige wegen Mietwuchers bei der Unterbringung von südeuropäischen Arbeitern vor allem in der Fleischindustrie in einer Vielzahl von Fällen, verteilt über diverse örtlich zuständige Staatsanwaltschaften. Abrufbar unter: https://www.blog-rechtsanwael.de/wp-content/uploads/2020/06/StrafanzeigeMietwucher.pdf (Stand 15.12.2020).
[21] Ebenda, 2.
[22] Theresa Tschenker, Verbot des politischen Streiks, in: Grundrechtereport 2020, 110.