Die nationalsozialistische Vergangenheit der Rechtswissenschaft sowie Justiz ist an den meisten juristischen Fakultäten nach wie vor Randthema. Nach zahlreichen Reformvorschlägen sollte nun endlich eine verbindliche Implementierung des NS-Unrechts als Teil eines kritischen Studiums erfolgen.
Die Frage, wer Karl Larenz war, in einem Absatz zu beantworten, ist wohl nicht leicht. Es muss jedoch verwundern oder eher entsetzen, wenn ein gängiges Vorbereitungswerk für die mündlichen Prüfungen der juristischen Staatsexamina einen Vorschlag von Larenz von 1935 für einen neuen § 1 BGB zitiert („Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist; Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist.“), und danach dessen Haltung zum NS-Regime lediglich als „umstritten“ einordnet.[1] Dies ist nur ein Beispiel von vielen, das die Ansprüche an und die tatsächliche Wissensstände im Hinblick auf die NS-Vergangenheit der deutschen Rechtswissenschaft und Justiz aufzeigt. Denn, wenngleich in heutigen juristischen Einführungs-Lehrbüchern gelegentlich Kapitel zur NS-Unrechtsgeschichte oder Hinweise auf Kontinuitäten enthalten sind, finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen der juristischen Fakultäten nur selten einschlägige Veranstaltungen. Gerade in den Pflichtfächern – der*die Student*in der Rechtswissenschaft mag sich an dieser Stelle einmal erinnern und prüfen – erfolgt eine Thematisierung selten bis gar nicht.[2]
Die Festschreibung des NS-Unrechts als verbindlichen Lehrinhalt der juristischen Ausbildung ist immer wieder Thema und Gegenstand von Diskussionen. Erst kürzlich brachte Bundesjustizministerin Lambrecht einen weiteren Vorschlag ins Gespräch.[3] Aber trotz jahrelanger Diskussionen, diverser Reaktionen und Stellungnahmen[4] stellt dieser nun lediglich eine Änderung des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) in Aussicht, was allerdings kaum Hoffnung auf Veränderungen macht, da erst die Änderung der Justizausbildungsgesetze der Länder für Verbindlichkeit sorgen würde.[5]
Die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht ist jedoch nicht nur lohnend und sollte zur Allgemeinbildung ausgebildeter Jurist*innen gehören, sondern scheint darüber hinaus in Zeiten eines Erstarkens der Rechten, einer Zunahme von Rassismus und Antisemitismus geradezu geboten.[6] Grund zur Beschäftigung mit der NS-Unrechtsgeschichte besteht aber vor allem deshalb, blickt man auf die Mitwirkung und Unterstützung der weit überwiegend männlichen Jurist*innen[7] im NS-Regime und die personellen wie sachlichen Kontinuitäten nach 1945. Damit einher ging auch die lange vermiedene Aufarbeitung der Verfehlungen des Jurist*innenstandes zwischen 1933 und 1945.[8] Um die Pervertierung des Rechts durch Jurist*innen während dieser Zeit und die Kontinuitäten zu veranschaulichen, sollen im Folgenden zwei Beispiele vorgestellt werden.
Nationalsozialistisches Strafrecht und NS-Kriminologie
Ab 1933 bemühten sich zahlreiche Strafrechtler an den deutschen Fakultäten einmal mehr, die NS-Ideologie, den Gedanken eines völkischen, eines biologistisch-rassistischen Volksbegriffes in das Strafrecht zu übersetzen. Anknüpfend an die antiliberalen Tendenzen des Weimarer Strafrechts wurde dieses von Freisler, Mezger, Schaffstein und Weiteren radikalisiert, im Sinne der NS-Ideologie ethisiert und politisch wie naturrechtlich aufgeladen. Als vordergründigen Strafzweck wurde demnach, auch in Orientierung am sog. „gesunden Volksempfinden“, der Schutz der Volksgemeinschaft auserkoren und neben erzieherischen Aspekten vor allem auf die „Reinigung des Volkskörpers“ abgezielt.[9] So bewegte man sich vom Tat- zum Täterstrafrecht und entwickelte, vor allem Freisler, ein Willensstrafrecht, das schon allein einen irgendwie gearteten „volksfeindlichen Willen“ bestrafen sollte. Zu Ende gedacht, bedeutete dies die Auflösung der Unterschiede zwischen Versuch und Vollendung sowie zwischen Täterschaft und Teilnahme.[10]
Auch die NS-Kriminologie lässt sich als „Legitimationswissenschaft“ für die nationalsozialistische Ideologie einordnen. Durch biologistische Ansätze und Lehren wie die vom „geborenen Verbrecher“ und dem „unverbesserlichen Straftäter“, der unschädlich gemacht werden sollte, wurde dies untermauert und das Strafrecht gezielt gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen eingesetzt. Konkret spiegelte sich dieses Denken in Gesetzesvorhaben wie dem „Gewohnheitsverbrechergesetz“ sowie der „Volksschädlingsverordnung“ wider.[11]
Den Richtern kam dabei die Rolle zu, auch unter Einbeziehung des „Führerwillens“, die NS-Ideologie in ihren Urteilen umzusetzen.[12] Bernd Rüthers und Ingo Müller haben in ihren bahnbrechenden, heute grundlegenden Werken gezeigt, wie Richter durch „unbegrenzte Auslegung“ das NS-Rechtsdenken als „furchtbare Juristen“ in ihre Urteile einfließen ließen und zwar durch alle Rechtsgebiete. Todesurteile wegen Bagatelldelikten oder Scheidungen von „Rassenmischehen“ gehörten beispielsweise zum täglichen Brot vieler Juristen.[13]
„Das NS-Strafrecht kam weder aus dem Nichts noch ist es nach 1945 völlig verschwunden“, was sich im Hinblick auf die Anknüpfung an das Weimarer Strafrecht, aber auch an den Tatbeständen des Mordes, der Untreue, dem Institut der Sicherungsverwahrung sowie dem Begriff der „schädlichen Neigungen“ im Jugendgerichtsgesetz und vielen weiteren sachlichen Kontinuitäten zeigt.[14] Personelle Kontinuitäten lassen sich am Beispiel der Verbindungen zwischen der „Kieler Schule“ und der Göttinger Fakultät veranschaulichen.
Kieler Schule und die Göttinger Fakultät
Die „Kieler Schule“ bildete im NS-Regime eine Art Vorzeigefakultät, die eine ganze Reihe an überzeugten NS-Juristen versammelte, welche die NS-Ideologie besonders engagiert in das Recht umzusetzen bzw. ein eigenständiges nationalsozialistisches Recht zu schaffen versuchten. Bekannte Mitglieder waren unter anderem Dahm und Schaffstein, die auch maßgeblich bei der Entwicklung des NS-Strafrechts mitwirkten.[15] Einige Mitglieder hatten zuvor an der Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät gewirkt oder dort ihre Ausbildung absolviert. An dieser selbst wurde ab 1933 eine rigide Personal- und Berufungspolitik betrieben, die darauf abzielte, NS-treue Professoren im Lehrkörper zu installieren, wobei die fachliche Kompetenz kaum relevant war. Bis 1938 wurden so, maßgeblich beeinflusst von der Gruppe um Schürmann, Rath und Siegert, die der Kieler Fakultät Konkurrenz machen wollten, ein Großteil der Lehrstühle ausgetauscht, indem aus rassistischen, antisemitischen und politischen Gründen entlassen, weggelobt, zwangsemeritiert und verleumdet wurde.[16]
Nach 1945 fanden sich vorwiegend unbelastete, vertriebene und einige jüngere Professoren auf den Lehrstühlen der Göttinger Fakultät. Obgleich die meisten NS-Professoren entlassen worden, teilweise auch im Krieg gefallen waren, kehrten dennoch einige dieser nach und nach auf ihre alten Positionen zurück. Der Fokus lag nämlich weniger auf Wiedergutmachung als auf der Reintegration der Belasteten, wenngleich sich die meisten im Rahmen der Entnazifizierung, vorangetrieben durch gegenseitige Entlastungsschreiben, am Ende in der Kategorie V (Unbelastete) wiederfanden. So wurden insbesondere in den 50er Jahren einige Größen der Kieler Schule, wie bereits genannter Schaffstein, nach Göttingen berufen, was wiederum den Weggang Unbelasteter zur Folge hatten.[17]
Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit
Das Bild der Göttinger Fakultät fügt sich gut in die allgemeine Vergangenheitspolitik Konrad Adenauers nach 1945 ein, die es den meisten Jurist*innen ermöglichte, weiter ihren Tätigkeiten nachzugehen.[18] Auch eine Verurteilung des Jurist*innenstandes im Nürnberger Juristenprozess konnte daran, wohl auch wegen der ausbleibenden gesellschaftlichen Verurteilung, nichts ändern.[19] Die Aufarbeitung und Befassung mit der NS-Unrechtsgeschichte in der Rechtswissenschaft und Justiz selbst ist überaus langsam sowie mühsam verlaufen und noch immer bestehen einige Forschungslücken im Hinblick auf Teilbereiche dieser.[20] Stellt man nun aber heute die Frage, wie die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht in die juristische Ausbildung integriert werden kann, finden sich eine ganze Reihe von Vorschlägen.[21] Anders als an mancher Stelle behauptet, muss die bereits mehrfach angestoßene und geführte Debatte nicht erst eröffnet, sondern vielmehr die Umsetzung von Reformen endlich bestritten werden.[22] Das eher trüb gezeichnete Bild der Befassung mit dem NS-Unrecht mag sich etwas aufhellen, nimmt man die vereinzelt hervorragenden Lehrveranstaltungen oder von studentischer Seite betriebenen Arbeitskreise, Kolloquien, Veranstaltungsreihen sowie neuerdings auch Podcasts in den Blick. Das studentische Interesse besteht und ist groß, aber von universitärer Seite passiert kaum etwas.
Für eine Ergänzung des Pflichtstoffes sind verschiedene Ansätze denkbar. Vorgeschlagen wird zum einen, die NS-Unrechtsgeschichte noch stärker in den allgemeinen Grundlagenfächern wie der Rechtsgeschichte und der juristischen Methodenlehre zu berücksichtigen. Zum anderen wird auf die Pflichtfächer verwiesen, im Rahmen derer eine Thematisierung ebenfalls möglich ist. Jedoch haben, was diese beiden Ansätze angeht, wie eingangs erwähnt, die Grundlagenfächer allgemein einen schweren Stand in der juristischen Ausbildung und auch in den allgemeinen Vorlesungen sind Bezugnahmen auf die NS-Vergangenheit spärlich.[23]
Nie wieder. Schon wieder. Immer noch.
Angeregt werden soll deshalb vorliegend (zusätzlich) zu einem eigenen Grundlagenfach, das die Auseinandersetzung mit dem NS-Unrecht zum Gegenstand hat. Dass dabei verschiedene Herangehensweisen sowie Ansätze gewählt werden können und auch die Berücksichtigung diverser Faktoren notwendig ist, versteht sich von selbst.[24] Vorteil einer eigenen Grundlagenveranstaltung ist aber, dass so eine ausführliche und explizite Befassung mit der Thematik gewährleistet wäre.
Weiter ließe sich eine solche Grundlagenveranstaltung auch erweitern, indem auch andere Formen des Unrechts aus der deutschen Rechtsgeschichte in den Blick genommen werden. Zu denken ist dabei an die DDR, aber auch weitergehend an die Thematisierung deutschen Kolonialunrechts. Zudem könnten Kontinuitäten, und Zusammenhänge mit neueren Phänomenen, wie der erwähnten Zunahme an Rassismus und Antisemitismus, thematisiert werden.[25] Dadurch würden Möglichkeiten der Rechtskritik und der kritischen Selbstreflexion als Jurist*in gelernt, sowie das Nachdenken über das Recht und die Rolle von Macht und Recht gefördert. Die Behandlung dieser Unrechtsgeschichten würde zukünftige Jurist*innengenerationen in ihren Urteilen und ihrer Sensibilität für Unrecht schärfen und im besten Fall zukünftiges Unrecht verhindern.[26] Denn, wie eine Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums München mit dem Titel „Nie wieder. Schon wieder. Immer noch.“ zuletzt deutlich gemacht hat, ist der Appell des „Nie wieder!“ stets gefährdet im Angesicht des „Schon wieder“ und „Immer noch“ und muss deshalb besonders laut sein.[27] Deshalb: Nie wieder!
Lektüre- und Hörempfehlungen:
Kai Ambos, Nationalsozialistisches Strafrecht, 2019.
Eva Schumann (Hrsg.in), Kontinuitäten und Zäsuren, 2008.
Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 1987.
Podcast Mal nach den Rec
[1] Stephan Pötters/Christoph Werkmeister, Basiswissen für die mündlichen Prüfungen, 2020, S. 29; s. dazu auch Ralf Frassek, Göttinger Hegel-Lektüre, Kieler Schule und nationalsozialistische Juristenausbildung, in Schumann 2008, S. 45-63.
[2] Vgl. dazu Frank Bleckmann, Das Justizunrecht des 20. Jahrhunderts gehört in die juristische Ausbildung!, in ZDRW 2019 (1), S. 76-84.
[3] Christine Lambrecht, Neu über Recht und Unrecht nachdenken, in FAZ vom 28.01.2021, abrufbar unter <https://bit.ly/3580ImQ> (zuletzt abgerufen am 11.06.2021).
[4] Vgl. nur zum letzten Referent*innenentwurf aus dem BMJV unter anderem die Stellungnahmen des Bundesrates (abrufbar unter <https://bit.ly/3zgsgUW>), des DAV (abrufbar unter <https://bit.ly/3wgS41p>) sowie des DRiB (abrufbar unter <https://bit.ly/3cBfDdj>), (Stand jeweils 11.06.2021).
[5] Vgl. dazu Hannes Ludyga, Das NS-Justizunrecht als Prüfungsstoff in den staatlichen und universitären juristischen Prüfungen, in ZDRW 2019 (1), S. 16-29.
[6] Vgl. dazu beispielhaft Ronen Steinke, Terror gegen Juden, 2020.
[7] S. zur Unterdrückung von Juristinnen bis 1945 Bajohr/Rödiger-Bajohr, Die Diskriminierung der Juristin bis 1945, in KJ 1980 (1), S. 39-50. S. auch Röwekamp, Diskriminierung oder Beteiligung? Juristinnen zwischen 1933 und 1945, in djbZ 2008 (3), 125-127.
[8] Vgl. dazu grundlegend Ingo Müller 1987; Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968; Eva Schumann 2008.
[9] Vgl. dazu ausführlich Kai Ambos 2019, S. 17 ff., 26 ff., 87 ff.
[10] Ebd., S. 44 ff., 102 ff.
[11] Kai Ambos, NS-Kriminologie – Kontinuität und Radikalisierung, in Dessecker et al. (Hrsg.), Angewandte Kriminologie – Justizbezogene Forschung, 2019, S. 299-322.
[12] Kai Ambos (Fn. 9), S. 35 f., 99 ff.
[13] Bernd Rüthers (Fn. 8); Ingo Müller, (Fn. 8); s. beispielhaft auch Hans Wrobel, Anfechtung von Rassenmischehen, in KJ 1983, S. 349-374.
[14] So Kai Ambos (Fn. 9), S. 22.
[15] Vgl. dazu allgemein Jörn Eckert, Was war die Kieler Schule, in Säcker (Hrsg.), Recht und Rechtslehre im Nationalsozialismus, 1992, S. 37-70; ferner Kai Ambos (Fn. 9), S. 87 ff.; Ralf Frassek (Fn. 1), S. 49 ff.
[16] Vgl. dazu ausführlich Eva Schumann, Die Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1933-1955, in dies. 2008, S. 65-121.
[17] Ebd., S. 107 ff.
[18] Vgl. dazu allgemein Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, 2012; ferner Marc von Miquel, Juristen: Richter in eigener Sache, in Frei (Hrsg.), Hitlers Eliten nach 1945, S. 165-214.
[19] Annette Weinke, Die Nürnberger Prozesse, 2019, S. 68 ff.
[20] S. dazu Bundesministerium der Justiz, Die Rosenburg – 2. Symposium zur Verantwortung von Juristen im Aufarbeitungsprozess, 2013, abrufbar unter <https://bit.ly/3czpLDD> (Stand 11.06.2021).
[21] Vgl. nur oben Fn. 4.; s. auch die zitierten Beiträge in ZDRW 2019 (1).
[22] S. dazu a. A. Frank Schorkopf, Juristenausbildung sollte den Blick erweitern, in FAZ vom 10.2.2021, abrufbar unter <https://bit.ly/3gunMRU> (Stand 11.06.2021).
[23] Vgl. zu den Vorschlägen die Beiträge in ZDRW 2019 (1).
[24] S. dazu Christoph Gusy, Aus der Geschichte lernen: NS-Unrecht im Jurastudium – Einige Vorüberlegungen und 10 Thesen, in ZDRW 2019 (1), S. 1-15.
[25] Vgl. ferner dazu Cengiz Barskanmaz, Rassismus und Recht, 2019.
[26] Vgl. dazu auch Frank Bleckmann (Fn. 2), S. 82 ff.
[27] NS-Dokumentationszentrum München, Ausstellung zum Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945, 2017; s. auch Frei/Maubach/Morina/Tändler, Zur rechten Zeit, 2019.