Nach einer Auseinandersetzung zwischen dem Präsidium der Goethe-Universität und dem Frankfurter Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) hat das Frankfurter Verwaltungsgericht dem AStA zahlreiche politische Äußerungen verboten. Als Grundlage dient eine juristische Dogmatik, die seit ihrer Entstehung auf die Repression linker Studierender gerichtet ist.
In letzter Zeit häufen sich die Fälle, in denen das Präsidium der Goethe-Universität gegen ihre eigene Studierendenschaft vorgeht. Oft geht es ihm darum, an Informationen über linke studentischen Veranstaltungen oder Gruppen zu kommen – und diese Informationen dann weiterzugeben. 2019 forderte es den AStA auf, Namen von linken kurdischen Studierenden herauszugeben – mutmaßlich auf Anforderung des türkischen Generalkonsuls.[1] Im März 2021 gab das Präsidium auf eine Anfrage der AfD Landtagsfraktion zur „Unterstützung eines Arbeitskreises Antifa“ Klarnamen von Veranstalter:innen an die AfD weiter.[2]
Auch juristisch hat die Auseinandersetzung eine neue Dimension erreicht. Innerhalb des letzten Jahres verhängte das Präsidium gleich zwei Bußgeldbescheide gegen den Frankfurter AStA. Dieser habe sowohl durch das Teilen eines Demonstrationsaufrufes auf Facebook, als auch durch die Veröffentlichung eines Artikels in der AStA-Zeitung sein „hochschulpolitisches Mandat“ überschritten. Die anschließende Klage des AStAs vor dem Frankfurter Verwaltungsgericht hatte keinen Erfolg. Stattdessen verbot das Verwaltungsgericht dem AStA noch weitere politische Aussagen – dieser hätte sich auch nicht zur Fridays-for-Future-Bewegung, zu den Protesten in Hongkong oder zur Situation von Geflüchteten während der Pandemie äußern dürfen.
Dieses Urteil ist nicht nur ein gutes Beispiel dafür, wie Universitätspräsidien deutschlandweit gegen die eigene Studierendenschaft vorgehen. An der Geschichte des politischen Mandats der Studierendenschaft lässt sich zeigen, wie der Staat immer dann neue Repressionswerkzeuge konstruiert, wenn er die bürgerliche Ideologie von links angegriffen sieht, und wie es das Recht schafft, diese Werkzeuge als objektiv und neutral zu verkleiden. So kann sich das Präsidium der Goethe-Universität bei der Bewertung von Meinungsäußerungen auf eine scheinbar neutrale Rechtsprechung berufen, welche zwar nur dazu geschaffen wurde, missliebige studentische Aktivitäten zu unterdrücken, ihm aber das Gefühl geben kann, hierbei objektiv im Recht zu sein.
Unrühmliche Vergangenheit
Denn politische Äußerungen von Studierendenschaften waren in Deutschland lange kein Problem. Als sich 1920 die ersten verfassten Studierendenschaften bildeten, wurden sie schnell von nationalistischen, antisemitischen und republikfeindlichen Kräften dominiert. Diese nutzten die Studierendenschaften dafür, die „nationalpolitische Erziehung“ voranzutreiben. Bereits 1931 übernahm der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) die Führung über die „Deutschen Studentenschaft“, den Dachverband der Studierendenschaft.[3] In der Folge richtete der NSDStB die Studierendenvertretung auf das Führerprinzip und den Rassenkampf aus und organisierte 1933 Bücherverbrennungen.[4] 1945 wurde der Deutsche Studentenbund als NS-Organisation verboten.
Auch in der Nachkriegszeit äußerten sich die Studierendenschaften weiterhin politisch. Die Alliierten sahen in den Studierendenschaften die Chance zu einer demokratischen Erziehung der Studierenden und setzten diese wieder ein.[5] Die größtenteils vom Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) dominierten westdeutschen ASten machten es sich zur Aufgabe, die Politik von Adenauer zu unterstützen, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu fordern und sich kritisch mit der Tagespolitik in der DDR auseinanderzusetzen.[6] So organisierte beispielsweise der Marburger AStA 1961 Proteste gegen eine Veranstaltung mit DDR-Volkskammerpräsident Johannes Dieckmann, welcher eine Annäherungspolitik im Kalten Krieg anstrebte. Infolgedessen wurde der Veranstaltungsort aus der Demonstration heraus mit Steinen und Wurfgeschossen angegriffen.[7] Politische, allen voran aber systemstützende Äußerungen der ASten wurden toleriert und von Seiten der Politik befürwortet.[8] Dementsprechend existieren aus dieser Zeit keine Gerichtsurteile zum politischen Mandat, die Legitimität allgemeinpolitischer Aussagen durch die ASten wurde weder von Seiten der Universität, noch von Seiten einzelner Studierender hinterfragt.
Politische Justiz
Dies änderte sich in den folgenden Jahren. Mit der Studierendenbewegung verschob sich auch die politische Zusammensetzung der ASten. Statt sich systemstützend zu äußern, wurde jetzt Kritik geübt – die mit Repression beantwortet wurde. So wurden Veranstaltungen zu Kernwaffenversuchen, Aktionen gegen nationalsozialistische Ärzte und Proteste gegen die Einführung der Apartheidpolitik in Südafrika von den Universitätsleitungen unterbunden.[9]
Im Juni 1967 fanden in Berlin Demonstrationen gegen den Besuch des iranischen Schahs statt, bei denen der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Als sich der Tübinger AStA daraufhin mit den Demonstrationen solidarisierte und den Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz zum Rücktritt aufforderte, klagten zwei Tübinger Studierende gegen diese Äußerungen – und bekamen Recht. In der ersten höchstrichterlichen Entscheidung zum politischen Mandat von Studierendenschaften legte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) die Grundsätze fest, nach denen das politische Auftreten von ASten noch heute beurteilt wird.
Nach dieser Rechtsprechung wird der oder die einzelne Student:in beim (freiwilligen) Eintritt in die Universität auch gleichzeitig (aber nicht notwendigerweise freiwillig) Mitglied der Studierendenschaft.[10] Diese sei folglich ein öffentlicher Zwangsverband und die Zwangsmitgliedschaft somit an sich schon ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) der Studierenden. Da der Staat nur zur Wahrnehmung bestimmter öffentlicher Zwecke befugt sei, Verbände mit Zwangsmitgliedschaft zu gründen, dürfe die Studierendenschaft nur „legitime öffentliche Aufgaben wahrnehmen.“ Teilweise wird mit dieser Argumentation sogar heute noch die Verfassungsmäßigkeit der Studierendenschaften angezweifelt. So seien nach einem Teil des Schrifttums private Organisationen besser geeignet, die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Belange der Studierenden wahrzunehmen.[11] Die Rechtsprechung kam, auch wenn diese neoliberale Polemik nicht übernommen wurde, zu einem ähnlichen Ergebnis: Die Studierendenschaften trifft hiernach die Pflicht zur „äußersten Zurückhaltung“ bei politischen Betätigungen. Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Studierenden könne nur insoweit gerechtfertigt sein, als ein öffentliches Interesse an der Studierendenschaft bestehe, was eben nur bei hochschulbezogenen Aussagen der Fall sei. Sogenannte „allgemeinpolitische Äußerungen“ seien so ein Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit der Studierenden, wogegen sowohl einzelne Studierende als auch die Hochschulleitung vorgehen könne. Im Fall des Tübinger AStA brachte bereits die Vorinstanz die neue Linie der Rechtsprechung auf den Punkt: „Nicht jeder Tod eines Studenten ist hochschulbezogen.“[12]
Kriminalisierung und Kodifikation
Mit diesem Urteil endete die Phase der unhinterfragten politischen Aktivitäten von Studierendenschaften. In den folgenden Jahren wurden die westdeutschen ASten mit zahlreichen Verfahren überzogen. Hierbei entstand eine Rechtsprechung, die den ASten politische Meinungsäußerungen untersagte und zur Durchsetzung Ordnungsgelder festsetzte. Teilweise wurde sogar versucht, strafrechtlich gegen die einzelnen Studierendenvertreter:innen vorzugehen.[13] So entschied der Bundesgerichtshof 1981, dass die Verwendung von Haushaltsmitteln für „allgemeinpolitische Zwecke“ Untreue und somit strafbar sei.[14]
Doch auch damit war der politische Kampf gegen die linken Studierendenschaften noch nicht abgeschlossen. 1976 wurde das Hochschulrecht nach längerer politischer Auseinandersetzung kodifiziert. In § 41 Abs. 1 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) wurde nun gesetzlich festgeschrieben, dass das Landesrecht vorsehen kann, „dass an den Hochschulen zur Wahrnehmung hochschulpolitischer, sozialer und kultureller Belange der Studierenden […] Studenten[sic!]schaften gebildet werden.“
Die Kompetenzen der Studierendenschaft wurden nun also auch gesetzlich auf hochschulpolitische, soziale und kulturelle Belange begrenzt. Auch die Kodifikation als Kann-Vorschrift diente hier einer politisch motivierten Beschränkung der Studierendenschaften: 1976 waren Studierende in allen Bundesländern in Studierendenschaften organisiert, der § 41 Abs. 1 HRG diente also nicht zur Klarstellung studentischer Selbstverwaltung, sondern ermöglichte es den Landesregierungen, die Studierendenschaften abzuschaffen. So geschah es ein Jahr später in Baden-Württemberg. Hans Filbinger, damaliger Ministerpräsident der baden-württembergischen Landesregierung und Militärrichter im Nationalsozialismus, begründete die Entscheidung damit, „den terroristischen Sumpf an den Universitäten“ ausrotten zu wollen und gab zu: „Wenn es uns gelänge, mit dem RCDS, der Jungen Union oder der Schüler-Union die ASten zu besetzen, wäre die Lage anders.”[15]
Die neutrale Hochschule
Doch auch die gesetzliche Begrenzung der Aufgaben der ASten auf hochschulpolitische, soziale und kulturelle Belange konnte den Konflikt nicht entschärfen – nicht nur, weil viele ASten sich weiter „allgemeinpolitisch“ äußerten. Die künstliche Aufspaltung in Äußerungen, die als hochschulpolitisch gelten, und solche, die das nicht tun, führt zwangsläufig zu nicht unerheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten. Natürlich sind Universitäten und Studierende als Teil der Gesellschaft immer mit „allgemeinen“ Problemen oder Fragen beschäftigt, die sie aber oft auf spezifische Weise betreffen. So ist beispielsweise die Wohnungspolitik keine Frage, mit der sich nur Studierende auseinandersetzen, aber es betrifft sie – aufgrund ihres in der Regel sehr geringen Einkommens – eben besonders. Gleichzeitig ist die Universität als Ort der Forschung und Lehre aber nicht nur ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, von hier werden auch immer wieder gesamtgesellschaftliche Debatten angestoßen.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass bis heute nicht geklärt ist, welche Aussagen den ASten nun erlaubt sind und welche nicht. 1979 stellte das BVerwG zumindest fest, dass nur eine „nachhaltige und uneingeschränkte Kundgabe nichthochschulbezogener, allgemeinpolitischer Meinungen und Forderungen“ einen Unterlassungsanspruch des oder der einzelnen Studierenden begründen könne.[16] Damit muss einerseits eine Wiederholungsgefahr gegeben sein, die aus zahlreichen Rechtsverstößen in der Vergangenheit hergeleitet wird.[17] Andererseits bietet das Kriterium der Uneingeschränktheit zumindest einen gewissen Handlungsspielraum: Danach sind nur solche Äußerungen rechtswidrig, welche schwerpunktmäßig allgemeinpolitisch sind. Rechtmäßig können auch solche Äußerungen sein, die bei der Behandlung von hochschulpolitischen Fragen einen „Brückenschlag“ zu allgemeinpolitischen Fragen ziehen, „solange und soweit dabei der Zusammenhang zu studien- und hochschulpolitischen Belangen deutlich erkennbar bleibt.“ [18]
Doch auch dort, wo ein studentischer Bezug zweifelsfrei gegeben ist, sind ASten durch die Theorie des „Brückenschlags“ nicht vor Beschneidung ihrer politischen Arbeit geschützt. Denn sobald ASten nicht selbst „allgemeinpolitisch“ auftreten, sondern anderen politischen Gruppen Räume, Gelder oder Plattformen anbieten, um politische Bildungsarbeit zu fördern, müssen sie sich an das Neutralitätsgebot halten, verschiedenste politische Positionen also gleichberechtigt nebeneinander fördern. So wurde dem AStA Kassel beispielsweise verboten, einen Kalender zu verbreiten, in welchem über die faschistischen Strukturen in Burschenschaften und studentischen Verbindungen aufgeklärt wurde, weil dieser „keine dem Neutralitätsgebot genügende sachliche Auseinandersetzung mit studentischen Verbindungen enthalte, sondern vielmehr eine überwiegend polemisch-plakative Kritik an den Burschenschaften, die in ihrer Form tendenziell auf eine Bekämpfung dieser studentischen Verbindungen abziele.“[19]
Zu politisch, zu links
Ähnlich verhält es sich auch im Fall des Frankfurter AStA. Dieser gibt eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift heraus, bei der neben hochschulpolitischen Themen auch allgemeinpolitische Fragen erörtert werden. Dies ist zwar rechtlich absolut zulässig, da einerseits das Herausgeben einer Zeitung durch § 77 Abs. 2 Nr. 5 des Hessischen Hochschulgesetzes (HHG) gedeckt ist und sich die Verfasser:innen (zumindest soweit es sich um Fremdbeiträge handelt) auf die Meinungsfreiheit berufen können. Allerdings passt dem Frankfurter Verwaltungsgericht die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung nicht: Fremdbeiträge seien nur dann zulässig, wenn sich in ihnen „die Vielfalt der politischen Meinungsbildung in Artikeln mit unterschiedlichen politischen Standpunkten“ widerspiegle.[20] Da die Zeitung aber „eine einseitige linkspolitische Ausrichtung“ habe und Kritik „an der Klassengesellschaft, an einer autoritären Gesellschaftsordnung sowie am bestehenden System“ geübt werde, liege ein Verstoß gegen das „politische Neutralitätsgebot“ vor.[21] Hier hilft es dem AStA auch nicht, dass dieser nach dem HHG auch die Aufgabe hat, politische Bildung zu betreiben.
Durch das Argument einer vermeintlichen Neutralität wird so politische Arbeit faktisch unterbunden – man stelle sich eine Zeitung vor, die bei studentischer Wohnungsnot während einer Pandemie auch Texte abdrucken muss, in welchen steht, dass man auch auf die Interessen von Immobilienfirmen und Großanlegern Rücksicht nehmen müsse. Dass solche Texte von Studierenden in der Regel auch gar nicht geschrieben werden, also keine „Vorzensur“[22] vorliegt, sondern politische Positionen innerhalb der Studierendenschaft typischerweise eher dem linken Spektrum zurechenbar sind, kommt dem Verwaltungsgericht nicht in den Sinn. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hatte hier zumindest erkannt, dass studentische Aktivitäten nicht unbedingt vergleichbar mit denen anderer „Zwangsverbände“ wie z.B. Handelskammern sind.[23] Zynisch ist das Frankfurter Urteil auch deswegen, weil es die Verbreitung eines Artikels verbietet, in welchem gerade die dem Urteil zugrundeliegende bürgerliche Idee einer „neutralen gesellschaftlichen Mitte“ verworfen wird, da antisemitische und völkische Denkmuster in weiten Teilen der Gesellschaft vorkommen.[24]
Für eine neue Dogmatik
Der Fall zeigt, dass die Grenzen der politischen Arbeit von ASten immer noch zutiefst unklar sind. Es ist weder geklärt, wo genau der Unterschied zwischen „Hochschulpolitik“ und „Allgemeinpolitik“ besteht, noch ist klar, wie (und vor allem warum) sich ein AStA einer neutralen Position verpflichten soll, die einerseits aufgrund ihrer Indifferenz absolut ungeeignet ist, politische Bildungsarbeit zu leisten und andererseits nicht die politische Zusammensetzung der Studierendenschaft widerspiegelt. Dass die juristische Dogmatik versagt, ist kein Zufall.
Die Geschichte des (allgemein-)politischen Mandats der Studierendenschaften zeigt, dass die juristische Auseinandersetzung stets politisch motiviert war. Die hieraus entstandene Rechtsprechung gibt den Universitätsleitungen so wahlweise die Möglichkeit, sich mit einer „kritischen Studierendenschaft“ zu schmücken, oder gerichtlich gegen diese vorzugehen und ihre Ideologie hierbei von den Gerichten bestätigt zu bekommen. Unter dieser Abhängigkeit von dem Wohlwollen der Universitätspräsidien können Studierendenschaften ihr Selbstverwaltungsrecht und ihren Auftrag zur politischen Bildung nicht nachkommen.
Einer kritischen juristischen Analyse muss es daher darum gehen, die ideologisch motivierte Klassifikation der Studierendenschaften aufzubrechen und diese als Rechtsobjekt neu zu denken. Ansätze dafür gibt es bereits seit den siebziger Jahren. Als damals die erste Repressionswelle über die nun linken ASten rollte, meldeten sich zahlreiche kritische Rechtswissenschaftler:innen zu Wort, um die durch die politische Kontroverse entstandene Frage nach dem Rechtsstatus von Studierendenschaften zu klären.
Und tatsächlich lässt sich die „herrschende Meinung“ bei dieser Frage gut kritisieren. Studierendenschaften als „öffentlich-rechtliche Zwangsverbände“ zu charakterisieren und so rechtlich mit Handels- oder Ärztekammern gleichzusetzen, erscheint schon auf den ersten Blick fernliegend. Die Immatrikulation auf rechtlicher Ebene künstlich aufzuspalten und so zu konstruieren, dass Studierende freiwillig in die Universität, aber unfreiwillig in die Studierendenschaft eintreten würden, geht an der Realität vorbei.[25] Tatsächlich wollen Studierende als Studierende Teil der Universität werden. Die Notwendigkeit ihrer Organisation in der Studierendenschaft als Teilkörperschaft der Universität (und eben nicht als Zwangsverband) folgt logisch aus der großen Zahl der Studierenden und der dadurch, im Vergleich zu anderen Gruppen, erschwerten Interessenvertretung.[26] Die gewählten Studierendenvertretungen spiegeln zudem die politischen Mehrheitsverhältnisse der Studierenden wider. Dass allein aus dieser Organisationsform die Unzulässigkeit eines umfassenden politischen Mandats folgen soll, ist darum Unsinn. Juristisch unhaltbar wird das Argument des Zwangsverbandes heute allein schon dadurch, dass es in Sachsen möglich ist, aus der Studierendenschaft auszutreten und insofern eine Zwangsmitgliedschaft dort schon nach dem Wortsinn nicht bestehen kann, den Studierendenvertretungen aber trotzdem kein allgemeinpolitisches Mandat zugesprochen wird.
Gegenmeinung
Die stärkste Waffe der „herrschenden Meinung“ gegen ein umfassendes politisches Mandat der Studierendenschaften ist jedoch die These, dass den ASten kein Grundrechtsschutz zustehe. Dies wird damit begründet, dass die Studierendenschaft als öffentlich-rechtlicher Verband Teil der mittelbaren Staatsverwaltung sei und sie nicht gleichzeitig Träger von hoheitlicher Gewalt und grundrechtsberechtigt sein könne.[27] Aber auch hier sprechen gute Gründe gegen die vorgebrachten Argumente. Zum einen ist die Studierendenschaft Teil der Universität und so schon räumlich unbestreitbar dem grundrechtlich geschützten Bereich der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) zuzuordnen. Zum anderen liegt dieser Auffassung ein verkürztes Bild der Trennung von Staat und Gesellschaft zugrunde. Universitäten sind zwar öffentlich-rechtlich organisiert, als solche sind sie aber nicht Teil der Staatsverwaltung, sondern Grundlage einer demokratisierten Öffentlichkeit.[28] Dieser Funktion können sie aber nur dann gerecht werden, wenn sie auch in Opposition zum Staat stehen, diesen also durch den öffentlichen Diskurs kontrollieren können. Hierdurch begründet ist die Universität zwar durch ihre öffentlich-rechtliche Organisationsform zumindest auch Träger hoheitlicher Gewalt, ihr steht aber ein durch das Grundgesetz geschütztes Recht auf akademische Selbstverwaltung zu. Dieses leitet sich nicht durch die mittelbare Staatsverwaltung vom Staat ab, diese Autonomie muss gerade vom Staat gewährleistet werden.[29]
Ähnlich verhält es sich mit der Studierendenschaft als Teil der Universität. Sie ist eben keine einseitige Trägerin hoheitlicher Gewalt und kann sich, vergleichbar mit anderen öffentlichen Verbänden wie Kirchen oder Rundfunkanstalten, nach Art. 19 Abs. 3 GG auf alle Grundrechte berufen, welche ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind.[30] Hier kommen neben der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) auch die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und die „Studierfreiheit“ im Sinne einer „Ausbildungsfreiheit am hochschulisch organisierten Wissenschaftsprozess“[31] (Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG) in Betracht. Dies wird auch von der Rechtsprechung zumindest nicht ausgeschlossen: Das BVerwG ließ diese Frage bewusst offen, machte aber klar, dass es auch mit Grundrechtsschutz ein politisches Mandat aufgrund der durch das HRG beschränkten Kompetenzen abgelehnt hätte.[32]
Wenn aber anerkannt wird, dass sich Studierendenschaften auf diese Grundrechte berufen können, ist diese Haltung inkonsequent. Denn dann sind die durch das HRG festgelegten Aufgaben der Studierendenschaft keine „Kompetenzen“, die der Staat den Studierendenschaften freundlicherweise überlässt. Eine solche Kompetenz kann es auch gar nicht geben, grundgesetzliche Freiheiten sind eben keine Aufgaben, sondern Abwehrrechte. Die der Studierendenschaft verliehenen Aufgaben im HRG sind also keine Einschränkungen der Rechte der Studierendenschaft, sondern die Konkretisierung eines zusätzlichen Wirkungsbereichs der studentischen Selbstverwaltung, welche einen Grundrechtsschutz außerhalb dieser Aufgaben aber nicht ausschließen kann.[33] Streng genommen ist daher auch der hier verwendete Begriff des politischen „Mandats“ missverständlich. Er suggeriert, es ginge um einen vom Staat abgeleiteten Auftrag und nicht um die Grundrechtsausübung von Studierendenschaftsorganen. Allerdings hat sich der Begriff des Mandats, auch wenn es technisch betrachtet eher um eine „Berechtigung“ geht, bei allen Beiträgen zum Thema durchgesetzt.[34]
Weitermachen!
Politische Äußerungen von ASten sind also kein einseitiger Eingriff in die Grundrechte der einzelnen Studierenden, die Rechte der Studierendenschaft können höchstens durch die Grundrechte der Mitglieder begrenzt werden. Und auch an dieser Stelle muss bezweifelt werden, ob politische Äußerungen demokratisch legitimierter studentischer Vertreter:innen wirklich in die Grundrechtssphäre einzelner Studierender eingreifen. Die negative Meinungsfreiheit als verletztes Grundrecht scheidet aus – schließlich wird die einzelne Student:in in ihrem Recht, keine oder eine andere Meinung zu äußern, durch Aussagen der Studierendenvertreter:innen nicht begrenzt. Die aus dem körperschaftlichen Willensbildungsprozess entstandene Aussage wird ihr auch nicht zugerechnet.[35] Auch ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit scheidet bei politischen Aussagen aus, denn dem einzelnen Mitglied werden durch politische Äußerungen keine Pflichten auferlegt.
Einzelnen Studierenden, welche sich durch die politischen Aussagen der studentischen Vertreter:innen nicht repräsentiert fühlen, bleibt also nichts anderes übrig, als sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, die Teilhaberechte an dem studentischen Selbstverwaltungsrecht wahrzunehmen und den politischen Willensbildungsprozess in den dafür geschaffenen demokratisch organisierten Strukturen der Studierendenschaft mit zu gestalten. Diese Option ist den Mitgliedern durchaus zumutbar – schließlich wurden diese Strukturen samt Oppositionsrechten und Minderheitenschutz genau hierfür geschaffen. Ihnen aber stattdessen den Weg zu den Gerichten freizuschaufeln, wie es die herrschende Meinung tut, greift von außen in diesen Willensbildungsprozess ein und ist deshalb undemokratisch.
Gleiches gilt im Übrigen für Universitätspräsidien. Deren rechtsaufsichtliche Maßnahmen mögen in Einzelfällen gerechtfertigt sein – etwa, wenn es zu eindeutigen Rechtsverstößen durch Studierendenschaftsorgane kommt. Bei politischen Äußerungen sind sie es nicht. Das Recht auf studentische Selbstverwaltung darf gerade beim politischen Meinungskampf nicht von der ebenfalls politischen Agenda der Universitätsleitung abhängig sein.
Die ASten haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass sie nicht bereit sind, auf die Ausübung ihrer Meinungsfreiheit zu verzichten. Auch in Frankfurt wird der Streit um ein politisches Mandat weitergehen. Die beste Lösung wäre es, die unlogische und politisch motivierte juristische Dogmatik abzuschaffen. Um dies zu erreichen, reicht der politische Kampf nicht aus: Eine Kodifikation eines umfassenden politischen Mandats ist auf der Grundlage der aktuellen Dogmatik kaum denkbar. Hier muss der politische Kampf mit dem juristischen verbunden werden.
Weiterführende Literatur:
Ulrich K. Preuß, Das politische Mandat der Studentenschaft, 1969.
Helmut Ridder / Karl Heinz Ladeur, Das sogenannte politische Mandat von Universität und Studierendenschaft, 1973.
Erhard Denninger, Das politische Mandat der Studentenschaft, Kritische Justiz, 1994.
[1] Marie Kehler, Studenten befürchten Spionage, FAZ, 22.11.2019, https://bit.ly/3xwol5J (Stand aller Links: 25.04.2021).
[2] http://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/6/03356.pdf (Namen mittlerweile geschwärzt).
[3] Projekt archiv e. V., Die Unterdrückung der Kritik, Rote Hilfe Zeitung, 1998, https://bit.ly/32LD3Yb.
[4] Gruppe kritischer Studierender, Von Sturmhauben und Maulkörben, AStA Zeitung Uni Frankfurt, 2020 (5), 5.
[5] Kasi, „Nicht jeder Tod eines Studenten ist hochschulbezogen“, FU70: Gegendarstellungen, 2018, 147 (149).
[6] Projekt archiv e. V., Die Unterdrückung der Kritik, Rote Hilfe Zeitung, 1998, https://bit.ly/32LD3Yb.
[7] Gruppe kritischer Studierender, Von Sturmhauben und Maulkörben, AStA Zeitung Uni Frankfurt, 2020 (5), 5.
[8] Projekt archiv e. V., Die Unterdrückung der Kritik, Rote Hilfe Zeitung, 1998, https://bit.ly/32LD3Yb.
[9] Ebenda.
[10] BVerwG, Urt. v. 26. September 1969 – VII C 65.68.
[11] So z.B. Werner Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 2004, 691 f.
[12] VG Sigmaringen, 02.02.1968 – III 364/67.
[13] Gruppe kritischer Studierender, Von Sturmhauben und Maulkörben, AStA Zeitung, 2020 (5), 5 (6).
[14] BGH, Beschl. v. 23.10.1981, Az.: 2 StR 477/80.
[15] Fabian Everding, Der kastrierte AStA, Kupferblau, 2010, https://bit.ly/3tWGs2w.
[16] BVerwG, Urt. v. 13. Dezember 1979 – 7 C 58.78.
[17] OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. Februar 2015 – 2 ME 274/14.
[18] BVerwG, Urt. v. 12. Mai 1999 – 6 C 10/98.
[19] VGH Kassel, Grundrecht der Meinungsfreiheit für AStA, NVwZ-RR 2005, 114.
[20] VG Frankfurt, Urt. v. 11. Februar 2021 – 4 K 461/19.F.
[21] Ebenda.
[22] So unterstellt von VG Frankfurt, Urt. v. 11. Februar 2021 – 4 K 461/19.F.
[23] OVG Lüneburg, Beschl. v. 24. Februar 2015 – 2 ME 274/14.
[24] Nika, Stop Talking, AStA Zeitung Uni Frankfurt, 2020 (2), 5.
[25] So auch: Ulrich K Preuß, Das politische Mandat der Studentenschaft, 1969, 85.
[26] So auch: Helmut Ridder/ Karl Heinz Ladeur, Das sogenannte politische Mandat von Universität und Studierendenschaft, 1973, 37 f.
[27] Thieme (Fn. 11) 690 f.
[28] Ridder/Ladeur (Fn. 23) 18.
[29] BVerfG, Beschl. v. 24. Juni 2014, 1 BvR 3217/07, Rn.55.
[30] So auch: Preuß (Fn. 22), 26 ff.
[31] Erhard Denninger, Das politische Mandat der Studentenschaft, Kritische Justiz, 1994, 10.
[32] BVerwGE, 59, 139, 140.
[33] So auch: Ridder/Ladeur (Fn. 23) 40.
[34] Siehe hierzu auch: Preuß (Fn. 22), 14f.
[35] So auch: Ridder/Ladeur (Fn. 23) 55.