Otto Kirchheimer ist heute nicht mehr vielen Jurist:innen ein Begriff. Seine dürftige Rezeption ergibt sich aus seiner bewegten Lebensgeschichte zwischen verschiedenen Fachdisziplinen und politischen Systemen. Und gerade deshalb lohnt es sich auch, seine Texte wieder zu entdecken.
Ich bin auf Otto Kirchheimer wegen der Aufsätze gestoßen, die er zwischen 1928 und 1932 geschrieben hat. Schrecklich klarsichtig analysiert er, wie die Verwirklichung der in der Weimarer Verfassung angelegten Versprechen in weite Ferne rückt. Er zeigt auf, wie sich der Rechtsstaat Stück für Stück auflöst, welche gesellschaftlichen Gruppen davon profitieren und welche Mitverantwortung insbesondere die Juristen[1] dieser Zeit trifft.
1932 schreib Kirchheimer über die Entmachtung des Parlaments während der Präsidialkabinette Brünings: „[d]ie Gewissheit, dass es sich hier nur um eine vorübergehende Erscheinung handelt, entbindet uns nicht von der Pflicht, zu verfolgen, wie sich der Gesetzgebungsstaat auflöst und wie sich das Zwischenstadium der allumfassenden Herrschaft der verwaltenden Bürokratie vorläufig verfestigt“.[2] Dieser Haltung ist er in seinen Texten treu geblieben, die zugleich schonungslos realistisch und hoffnungsvoll sind. Ich möchte Otto Kirchheimer zunächst anhand seiner bewegten Lebensgeschichte vorstellen, dann der Frage nachgehen, warum er nicht zur juristischen Prominenz gehört, und abschließend zeigen, warum wir ihn trotzdem wiederentdecken sollten.
Seine Leben
Otto Kirchheimer wurde 1905 in Heilbronn geboren. Schon als Schüler war er politisch aktiv, als Student schloss er sich dann dem sozialistischen Studentenverband an und gehörte dem linken Flügel der SPD an. Ab 1924 studierte er in Münster, Köln, Berlin und Bonn. Seine häufigen Studienortwechsel ergaben sich dabei aus seinen fachlichen Interessen: er wollte in Münster den Professor für Philosophiegeschichte Karl Vorländer hören, dessen Schriften zu Sozialismus und Marxismus er schon als Schüler gelesen hatte, nach Köln zog ihn sein Interesse für den Soziologen Max Scheler. In Berlin schrieb er sich dann tatsächlich, wie er schon lange der Familie gegenüber vorgab, an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät ein, wo er in Rudolf Smends Vorlesungen sein staatswissenschaftliches Interesse entdeckte. Dieses führte ihn schließlich auf Smends Empfehlung hin zu Carl Schmitts staatstheoretischen Seminaren nach Bonn. Dort schloss Kirchheimer auch sein Studium ab und promovierte bei Carl Schmitt 1927 „Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus“.[3]
Das Verhältnis von Carl Schmitt und dem zu diesem Zeitpunkt noch erklärten Sozialisten Kirchheimer hat Anlass für zahlreiche Auseinandersetzungen gegeben. Ein Großteil der ohnehin schon dürftigen Auseinandersetzung mit Otto Kirchheimer dreht sich daher um die Frage, wie sehr er in seinem Werk von Carl Schmitt beeinflusst wurde und ob man ihn als den ersten Links-Schmittianer bezeichnen kann. Um aber nicht noch einen Beitrag zur Überrepräsentation Carl Schmitts in der deutschen Rechtswissenschaft zu leisten, möchte ich an dieser Stelle auf die ergiebige Forschungsliteratur verweisen.[4]
Nach seinem Referendariat ließ sich Kirchheimer in Berlin nieder und war dort als Anwalt und Dozent tätig. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in wissenschaftlichen und politischen Zeitschriften und bemühte sich der Destruktion des deutschen Verfassungsstaates entgegenzuwirken. Als Kommunist und Jude durfte er ab April 1933 nicht mehr als Anwalt tätig sein. Seine Exfrau, die Rote-Hilfe-Anwältin Hilde Kirchheimer-Rosenfeld, flüchtete mit der gemeinsamen Tochter in die Schweiz. Nachdem er im Mai 1933 für einige Tage wegen des „Verdachts politischer Umtriebe“ inhaftiert wurde und nur durch einen glücklichen Zufall freikam, floh Kirchheimer über Luxemburg nach Paris. Dort schloss er sich den ebenfalls migrierten Mitgliedern des Frankfurter Institut für Sozialforschung (FIS) an und folgte diesen 1937 in die USA. Mit seinen beiden Freunden Franz Neumann und Ernst Fraenkel gehörte er zu den Juristen am FIS. Seine eher staatszentrierte Perspektive und sein gutes Verständnis des deutschen Institutionengefüges waren ein wichtiger Beitrag für die Analysen des NS-Staats, die das FIS in diesen Jahren erstellte. Ab 1943 arbeitete er mit Neumann und Fraenkel im „Office for Strategic Services“ für den US-amerikanischen Außengeheimdienst. In dieser Funktion wirkte er an der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse und den Entnazifizierungsprogrammen mit.[5] Nach dem zweiten Weltkrieg blieb Kirchheimer in den USA. Seine Tätigkeit für den Geheimdienst und die antikommunistische Haltung in der McCarthy-Ära erschwerten seine wissenschaftliche Arbeit. Doch nach verschiedenen akademischen Stationen hatte er ab 1961 an der Columbia University eine Professur für Political Science inne und veröffentlichte sein Hauptwerk, die „Poltische Justiz“. 1965 starb er überraschend im Alter von 60 Jahren.[6]
Sein Promistatus
Kirchheimer wird nur noch sporadisch rezipiert und wenn wir als Maßstab nehmen, wie viele Jurastudierende heute noch seinen Namen kennen, können wir ihn wohl kaum zur juristischen Prominenz zählen. Das liegt zum einen an seiner durch den Nationalsozialismus erzwungenen Migration. Viele akademische Beziehungen rissen damals ab und nachdem nach 1945 fast alle Rechtswissenschaftler in Amt und Würden blieben, war es wohl auch nicht einfach, neue Kontakte zur deutschen Rechtswissenschaft zu knüpfen. Kurz vor seinem Tod war ein Ruf an die Universität Freiburg an ihn ergangen. Es hätte der deutschen Rechtswissenschaft bestimmt gutgetan, hätte er diesen annehmen können.
Ein weiteres Rezeptionshindernis ist seine Methode. In seinen Texten vermischen sich immer wieder verfassungsdogmatische und herrschaftssoziologische Erwägungen. In seinen späteren Arbeiten kommen auch immer mehr institutionentheoretische Betrachtungen hinzu, die wir heute der Politikwissenschaft zurechnen würden. Sowohl von Rechtswissenschaftler:innen als auch von Sozialwissenschaftler:innen verlangt er daher, sich auf Argumentationsweisen einzulassen, die ihnen fremd sind.
Wir können Kirchheimer also nicht wirklich zur Juraprominenz zählen, der dieses Heft gewidmet ist. Das heißt aber nicht, dass seine Texte nicht wert wären, wieder entdeckt zu werden.
Seine Neuentdeckung
Otto Kirchheimers Lebenslauf war geprägt vom Wechsel zwischen politischen Systemen, zwischen Ländern und zwischen Disziplinen, entsprechend vielfältig sind auch die von ihm behandelten Themen. Ich möchte mich daher auf die Beschreibung seiner besonderen Methode beschränken.[7]
Kirchheimer hat nicht an einem systematischen Theoriegebäude gearbeitet, sondern ging eher induktiv vor, aus Anlass eines konkreten politischen Ereignisses, einer rechtlichen Reform oder einer von ihm wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderung. Ein Freund sagte über ihn, er habe „eine zuweilen fast unheimliche Fähigkeit [gehabt], aus dem Strom der Ereignisse das Entscheidende herauszufischen und zu analysieren“.[8] Seine Texte lassen sich also auch nicht problemlos auf aktuelle Konstellationen übertragen. Dennoch denke ich, dass es sehr gewinnbringend ist sie wieder zu lesen – sie zeigen, was Rechtswissenschaft sein kann, wenn sie ihre eigene gesellschaftliche Rolle ernst nimmt. Für besonders spannend halte ich dabei seine frühen, noch vor der Migration in Deutschland verfassten Aufsätze. In dieser Zeit war Kirchheimer noch fest verwurzelt im deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs. Das ist deswegen so interessant, weil er in direkter Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, Otto Koellreutter und anderen Staatsrechtlern ist, die sich teilweise nur Monate später dem NS-Staat angedient und diesem durch ihr wissenschaftliches Arbeiten den Weg bereitet haben.
Diese Auseinandersetzungen zeigen sich zum Beispiel in Kirchheimers Aufsatz „Legalität und Legitimität“, den er im Sommer 1932 veröffentlicht hat. Darin verbindet er verfassungsdogmatische Arbeiten zum Bedeutungswandel des Rechtsbegriffs Legalität mit einer soziologischen Diagnose dazu, welche gesellschaftlichen Gruppen und staatlichen Institutionen von diesem Verfassungswandel profitieren. Ein weiteres Beispiel ist seine Analyse der Weimarer Reichsverfassung in „Weimar… und was dann?“ von 1930, in der er zeigt welche Spannungen zwischen Verfassungsordnung und gesellschaftlicher Wirklichkeit bestehen. Dabei gelingt ihm, was besonders schwierig an rechtssoziologischen Betrachtungen ist: Er zeigt auf welche Bedeutung gesellschaftliche und ökonomische Machtverhältnisse für die Verfassungsordnung haben, ohne zugleich davon auszugehen, dass juristische Verhältnisse keinen normativen Eigenwert haben und sich ganz und gar in den gesellschaftlichen auflösen.
Weiterführende Literatur:
Hubertus Buchstein, Einleitung zu Otto Kirchheimer – Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2017.
Joachim Perels, Weimarer Demokratie und gesellschaftliche Machtverhältnisse. Zur Methode der Verfassungsanalysen Otto Kirchheimers. In: Wolfgang Luthardt / Alfons Söllner (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus: Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, 1989, 57-64.
Frank Schale, Parlamentarismus und Demokratie beim frühen Otto Kirchheimer. In: Robert van Ooyen (Hrsg.), Kritische Verfassungspolitologie: das Staatverständnis von Otto Kirchheimer, 2011, 141-175.
[1] Ich verzichte an dieser Stelle bewusst auf eine geschlechtsneutrale Formulierung, denn obwohl Frauen seit 1922 juristische Berufe ergreifen konnten, trifft Kirchheimers Kritik in erster Linie die deutsche Staatsrechtslehre, die noch für Jahrzehnte sehr männlich geprägt bleiben sollte.
[2] Otto Kirchheimer, Legalität und Legitimität, Die Gesellschaft 1932, 8 (9).
[3] Vgl. Buchstein 2017, 15 (19-23).
[4] Einführend zu dieser Kontroverse Schale 2011, 141 (143).
[5] Zu seiner Arbeit für das FIS und den Geheimdienst vgl. Hubertus Buchstein, Kritische Theorie der Politik, Leviathan 2019, 215,
[6] Zu seinen späten Lebensjahren John Herz, Otto Kirchheimer – Leben und Werk 1989, in: Wolfgang Luthardt / Alfons Söllner (Hrsg.), Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus: Otto Kirchheimer zum Gedächtnis, 1989, 11-23.
[7] Eingehender zu seiner Methode Joachim Perels 1989, 57 (58).
[8] Vgl. dazu Herz 1989, 11 (17).