Als erste Frau im deutschsprachigen Raum überhaupt habilitierte sich Ilse Staff 1971 im Öffentlichen Recht. Sie setzte sich dafür ein, die nationalsozialistische Vergangenheit im Justizapparat aufzudecken und hatte eine Vorreiterinnenrolle, was kritisches Denken, Gleichstellung und linksliberale Ideen anbelangt. Alles zu einer Zeit, in der eine strittige Auseinandersetzung mit solchen Themen ein Novum war.
Ilse Staff wurde im Jahr 1928 in Hannover geboren und setzte sich zeitlebens für ein rechtsstaatlich-demokratisches Verständnis des Grundgesetzes ein. Rechtswissenschaften studierte sie in Würzburg, Frankfurt am Main und – im Jahr 1948 durchaus ungewöhnlich – in Pisa, Italien. Die Staatsexamina legte sie 1952 und 1957 ab. Mit ihrem Werk „Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation.“ war sie im Jahr 1964 eine der Ersten, die sich innerhalb der Rechtswissenschaft mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus beschäftigte. Dabei kann Ilse Staff durchaus eine Vorreiterinnenrolle zugesprochen werden: ihr Werk erschien bereits 4 Jahre vor der bekannten Schrift „Die unbegrenzte Auslegung“ von Bernd Rüthers zur gleichen Thematik, die 1968 erschien und sich unter anderem auf Ilse Staffs Werk bezieht.[1]
Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der Rechtswissenschaft
Ilse Staff beschäftigte sich mit der Materie zu einer Zeit, in der die unausgesprochene Übereinkunft bestand, nicht über die NS-Vergangenheit zu sprechen.[2] Sobald das Entnazifizierungsverfahren durchlaufen wurde, konnten ehemalige Richter:innen wieder im Justizdienst tätig werden und Karriere machen. Allein im Jahr 1956 waren 80 Prozent aller Richter – Hier wird bewusst auf das Gendern verzichtet, da es sich lediglich um männliche Richter handelte – des BGH zuvor in der NS-Justiz tätig gewesen.[3] Große Teile der deutschen Justiz versuchten, ihre Rolle in der NS-Zeit zu verklären, die Verantwortung von sich zu weisen und suchten die Schuld außerhalb ihres Berufsstandes.[4] So äußerte sich noch im Jahr 1968 der ehemalige Vorsitzende des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff dahingehend, dass Richter:innen den NS-Gesetzen wehrlos ausgeliefert gewesen seien und Widerstand nicht möglich gewesen wäre, obwohl sich widersetzende Richter:innen tatsächlich lediglich zwangsversetzt oder in den vorzeitigen Ruhestand gesetzt worden waren.[5] Ilse Staffs Werk beinhaltet eine Zusammenstellung und Kommentierung zahlreicher Dokumente und Gerichtsurteile, welche die Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus aufzeigen sollen. Da sie unter anderem darlegte, dass vor allem Richter:innen bei ihrer alltäglichen Justizarbeit Auslegungsspielräume nutzten, um der Rechtsdoktrin der NS-Propaganda zu folgen, obwohl die rechtliche Dogmatik ein anderes Ergebnis gefordert hätte,[6] ist es nicht verwunderlich, dass Ilse Staff aufgrund ihrer Arbeit aneckte.[7]
Auch war Ilse Staff eng mit Fritz Bauer befreundet, der als hessischer Generalstaatsanwalt die treibende Kraft für den Beginn der Auschwitz-Prozesse 1963 war und mit dem sie sich persönlich und politisch gut verstand.[8] Ein Grund, warum Ilse Staff sich intensiv mit dem Nationalsozialismus beschäftigte, könnte die Geschichte ihres Ehemanns Curt Staff gewesen sein. Dieser ist 1901 geboren und schloss sich bereits 1919 der SPD an. Er wurde nach der „Machtergreifung“ Hitlers auf offener Straße zusammen geschlagen und war 1935/36 für 14 Monate im Konzentrationslager Dachau inhaftiert.[9]
Volle Fahrt voraus?
Ilse Staff verfolgte ihren beruflichen Weg zunächst zügig: mit 29 Jahren war sie promoviert und Volljuristin. In ihrer Dissertationsschrift wählte sie einen rechtsphilosophisch-historischen Zugang und beschäftigte sie sich mit dem Wandel des Begriffs der Gnade in verschiedenen Staatsformen.[10] Generell galt ihr wissenschaftliches Interesse den Grundlagen des Rechts, insbesondere der Rechts- und Staatsphilosophie. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit lag dabei in der Auseinandersetzung mit Staatsrechtslehrern der Weimarer Republik, nämlich Carl Schmitt und Hermann Heller. Während sie die Arbeit von letzterem würdigte, stellte sie die antidemokratischen und totalitären Ansätze Carl Schmitts deutlich heraus. Ilse Staff interessierte sich zudem für die politischen Auswirkungen des Rechts. Auch engagierte sie sich selbst: für politisch aktive Studierende übernahm sie während ihrer Zeit als Professorin an der Johann Wolfang Goethe-Universität in Frankfurt am Main sogar die Strafverteidigung.[11]
Direkt nach dem zweiten Staatsexamen im Jahr 1957 ging sie eine Ehe mit Curt Staff ein. In den darauffolgenden zwölf Jahren war sie in diversen Gebieten temporär beschäftigt, unter anderem beim Hessischen Rundfunk, bis sie 1964/65 als Oberstudienrätin im Hochschuldienst für die Fächer Jugendrecht, Schulrecht und bildungsphilosophische Propädeutik zuständig war.[12] Dass ihre Karriere diesen Umweg über den erziehungswissenschaftlichen Fachbereich durchlief scheint ungewöhnlich für eine klassische rechtswissenschaftliche Laufbahn – männliche Kollegen gingen in der Regel direkt weiter zu einer juristischen Assistentenstelle an der Universität. Eine solche hatte Ilse Staff nie inne.[13]
Durchsetzen in der männerdominierten Wissenschaftswelt
Gerade in den Rechtswissenschaften wird Frauen der Zugang zu Professor:innenstellen oftmals erschwert. Auch heute noch ist die Situation an Universitäten einem nicht hinnehmbaren Ungleichgewicht ausgesetzt: Obwohl seit mehr als 20 Jahren deutschlandweit in den Rechtswissenschaften weit mehr als die Hälfte der Studienanfänger:innen weiblich sind,[14] der Frauenanteil der erfolgreichen Absolvent:innen der ersten juristischen Staatsprüfung bei 58 Prozent[15] und der der Promovierenden immerhin noch bei 42 Prozent liegt[16], liegt der der Habilitand:innen bei 35 Prozent[17] und der der Professor:innenschaft bei lediglich 19 Prozent[18]. Gerade hier wird deutlich, dass männliche dominierte Strukturen konstant beibehalten zu werden scheinen.[19] Die deutsche Professor:innenschaft ist seit jeher eine männerdominierte.
Nicht zu vernachlässigen ist zudem, dass sich Ilse Staff in einer männerdominierten Wissenschaftswelt wohl oft auch mit Stigmatisierungen zu kämpfen hatte, die ihr den schnellen Aufstieg an der rechtswissenschaftlichen Universität erschwerten. Vorbehalte über die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen waren weit verbreitet.[20] Dass auch Ilse Staff mit vielen Hindernissen gekämpft haben könnte, erscheint nicht fernliegend.
Inspiration Ilse Staff
Aller Widrigkeiten zum Trotz und mit unvorstellbarer Standhaftigkeit hat sie sich einem männerdominierten System gestellt. Auch nach ihrer Emeritierung im Jahr 1993 blieb sie noch weiterhin publizistisch tätig. Ihren Lebensweg mit allen Hemmnissen meisterte sie mit Witz und Humor, auch wusste sie sich geistreich auszudrücken. Über einen Aufsatz von E.-W. Böckenförde sagte sie: „Daß dem Beitrag etwas Besonderes (und deshalb Erwähnenswertes) anhaften muß, ergibt sich bereits daraus, daß er [..] die schriftliche Fassung eines Vortrages darstellt, den der Verfasser in Tokio, Amsterdam, Berlin, Sevilla und Warschau gehalten hat, ohne daß ihm dies offenbar je langweilig geworden wäre.“[21]
Ihr Wirken erstreckt sich nicht nur auf ihre wissenschaftliche Arbeit: Sie war auch Teil der Frankfurter Schule und gehörte in den 1950er und 1960er Jahren somit einer intellektuellen, linksliberalen Bewegung an, die bis heute den (politischen) Diskurs prägt.
Ilse Staff starb am 15. November 2017 in Hannover. Ihr Lebensweg, Werk, politisches Schaffen und juristischer Geist kann als Vorbild dienen, unbeirrbar für eine gute Sache einzustehen. und sich nicht von äußerlichen Widrigkeiten und strukturellen Benachteiligungen den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen.
Weiterführende Literatur:
Ute Sacksofsky, Ilse Staff – die erste deutsche Staatsrechtlehrerin, Arbeitspapier des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt/M. Nr. 11/2015.
Ute Sacksofsky, Kritische Vorreiterin und erste deutsche Staatsrechtslehrerin, Nachruf auf Ilse Staff (1928-2017), Kritische Justiz (KJ) Band 51, Nr.1, 2018.
Ilse Staff, Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation, 1978.
[1] Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, 92, 107 f.
[2] Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. IV, 2012, 84.
[3] Stephan Alexander Glienke, Der Dolch unter der Richterrobe. Die Aufarbeitung der NS-Justiz in Gesellschaft, Wissenschaft und Rechtsprechung der Bundesrepublik, Zeitgeschichte Online v. 01.12.2012, https://zeitgeschichte-online.de/themen/der-dolch-unter-der-richterrobe (Stand aller Links: 31.10.2021).
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] Ilse Staff, Justiz im Dritten Reich, 1964, 181 f..
[7] Sacksofsky KJ 2018, 4.
[8] Sacksofsky 2015, Rn. 19.
[9] Ebenda, Rn. 18.
[10] Ilse Staff, Das Gnadenrecht, 1954.
[11] Sacksofsky 2015, Rn. 11.
[12] Ebenda, Rn. 4, Rn. 29.
[13] Ebenda, Rn. 30.
[14] Markus Sehl, Frauen in der Wissenschaft – dein Geschlecht zählt, Legal Tribute Online v. 07.08.2014, https://www.lto-karriere.de/beruf/stories/detail/frauen-karriere-jura-professorin-uni; Statistisches Bundesamt, Studienanfänger:innen nach Geschlecht und Fach im Zeitverlauf seit dem WiSe 1998/99.
[15] Bundesamt für Justiz, Zahl erfolgreicher Juraabsolventen 2018 auf konstant hohem Niveau – Anteil der Frauen liegt bei über 58 Prozent, 28.04.2020, https://www.bundesjustizamt.de/DE/Presse/Archiv/2020/20200428.html.
[16] Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur, Statistik der Promovierenden, 21.August 2020, 9, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschulen/Publikationen/Downloads-Hochschulen/promovierendenstatistik-5213501197004.pdf?__blob=publicationFile.
[17] Statistisches Bundesamt, Personal an Hochschulen, Fachserie 11 Reihe 4.4, 08.10.2021, 27, 29.
[18] Ebenda, 109.
[19] Ulrike Schultz / Anja Böning / Ilka Peppmeier / Silke Schröder, De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, 17.
[20] Lorraine J. Daston, Weibliche Intelligenz: Geschichte einer Idee, in: Wolf Lepenies (Hrsg.). Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin, 1989, 213-229.
[21] Ilse Staff, Kompetenzerweiterung des Bundesverfassungsgerichts durch Böckenförde, KJ 1999, 103 (103).