Von True-crime-Podcasts über Tageszeitungen bis zur Klatschpresse – kein Tag vergeht, an dem Strafprozesse nicht Gegenstand von Berichterstattung und breiten öffentlichen Diskussionen sind. Wie wirkt sich dies auf die richterliche Urteilsfindung aus? Wie sind solche Einflüsse einzuordnen und zu bewerten?
Großes Publikum, gespannte Gesichter, der Vorhang geht auf: Es dreht sich um Geschichten, die gruseln, empören, bestürzen, und die sich doch alle so zugetragen haben sollen. Der Gerichtsprozess wurde schon von dem Publizisten Maximilian Harden aus der Kaiserzeit als „prägnanteste Form des Dramas“ bezeichnet.[1] Dementsprechend groß ist das allgemeine Interesse an Strafprozessen: Berichte in jeglicher Form erfreuen sich enormer Beliebtheit. Ursache des Interesses sind häufig einzelne Verfahrensbeteiligte: Ex-Fußballnationalspieler, Realitystars oder auch Fernsehmoderatoren. Oftmals erlangen Gerichtsprozesse allerdings auch ohne Beteiligung prominenter Personen aus ihrer Eigenart oder anderen Gegebenheiten heraus eine gewisse Prominenz.
Prozesse werden zum Gegenstand intensiver Berichterstattung und breiter öffentlicher Debatten. Doch was bedeutet es im Hinblick auf die Urteilsfindung und die richterliche Unabhängigkeit, wenn das Verfahren nicht nur in den Räumlichkeiten des Gerichts stattfindet, sondern quasi überall in der Gesellschaft präsent ist?
Die Garantie richterlicher Unabhängigkeit als wesentlicher Grundsatz der Urteilsfindung nach Art. 97 Grundgesetz (GG) schützt Richter*innen zum einen vor externer Beeinflussung. Zum anderen geht aus der Vorschrift der Auftrag der inneren Unabhängigkeit an Richter*innen hervor, sich bei der Urteilsfindung von äußeren Einflüssen zu befreien.[2] Das Urteil soll, wie es der richterliche Amtseid nach § 38 Deutsches Richtergesetz vorsieht, „nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person“ getroffen werden und so „nur der Wahrheit und Gerechtigkeit“ dienen.
Diese Idealvorstellung kollidiert allerdings leicht mit den realen Umständen, denn Prozesse werden regelmäßig eben nicht aus einem rein juristischen Interesse an dem jeweiligen Fall medial verfolgt. So transportierte beispielsweise die Diskussion über den Prozess gegen den Ex-Fußball-Nationalspieler Metzelder wegen Besitzes kinderpornografischen Materials starke Empörung und Vergeltungsbedürfnisse.
Einflüsse am Beispiel des Chemnitz-Prozesses
Strafprozesse können auch zu einer Verstärkung rassistischer und nationalistischer Denkmuster führen. Das zeigt ein Prozess, in dem es um eine Messerattacke auf dem Chemnitzer Stadtfest 2018 ging. In dem folgenden Prozess wurde eine Person syrischer Nationalität angeklagt. Daraufhin kam es im Oktober zu heftigen Ausschreitungen und rassistischen Hetzjagden in Chemnitz. Diese bewirkten ein bundespolitisches Beben (unter anderem scharfe Auseinandersetzungen in der Regierungskoalition) sowie die Verlegung des Prozesses aus Sicherheitsgründen nach Dresden. Nicht nur die radikale Rechte forderte in diesem Fall lautstark harte Strafen, auch die Chemnitzer Oberbürgermeisterin äußerte, bei einem Freispruch würde es „schwierig für Chemnitz“[3]. In dieser politisch aufgeheizten Lage wurde der Angeklagte zu neun Jahren Haft verurteilt. Die Äußerung der Vorsitzenden Richterin, es bestehe „kein Zweifel an der Schuld des Angeklagten“[4] steht in krassem Widerspruch zu einigen damaligen Pressestimmen. So titelte die ZEIT zu diesem Fall: „Im Zweifel für den Mob“ [5]; eine SPIEGEL-Journalistin schrieb von einem „schwarze[n] Tag für den Rechtsstaat“ [6].
Verfahren wie diese veranlassen zur Diskussion über die Frage, ob ein abschließendes Urteil in derartigen Fällen wirklich dem Finden einer „gerechten“ Lösung dient oder nicht doch primär der gesellschaftlichen Befriedung.
Gerichtsberichterstattung und Demokratie
Dabei sind Berichterstattung zu richterlichen Urteilen und Diskussion darum wesentliche Bestandteile des demokratischen Systems. Nur so kann eine Kontrolle der Rechtsprechung funktionieren, die wiederum Voraussetzung für das Vertrauen in das System ist und so die Legitimität desselben stärkt. Nicht ohne Grund leitet sich aus dem Rechtsstaatsprinzip der Öffentlichkeitsgrundsatz als Prozessmaxime strafrechtlicher Verfahren ab, der in § 169 Gerichtsverfassungsgesetz sowie in Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention normiert ist. Eine gewisse demokratische Rückkopplung der Rechtsprechung ist im Übrigen auch gesetzlich intendiert. So normiert § 268 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO): „Urteile ergehen im Namen des Volkes“. Zwar darf diese Formulierung nicht als unmittelbare Verbindung verstanden werden, sie macht jedoch gleichzeitig deutlich, dass die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG ebenso demokratisch verwurzelt ist. Die Auseinandersetzung mit Gerichtsverfahren und deren Ausgang wird somit bezweckt und durch den rechtlichen Rahmen gezielt gefördert. Auch aus politischer Perspektive ergibt sich eine gewisse Relevanz der Gerichtsberichterstattung: Sie ermöglicht, Prozesse und Urteile einzuordnen, kritische Berichterstattung kann überdies Missstände aufdecken und auch strukturelle Probleme der staatlichen Organisation sichtbar machen.
Rechtsprechung soll nach dem Öffentlichkeitsgrundsatz also zwar zugänglich und verständlich werden, für das Urteil ist jedoch im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO einzig und allein durch den*die Richter*in sowie nach dem Unmittelbarkeitsgrundsatz als Prozessmaxime nur dasjenige relevant, was sich im Rahmen der Hauptverhandlung abgespielt hat. Große öffentliche Diskussionen gerichtlicher Verfahren bergen das Risiko, dass sich dies verschiebt und Richter*innen unbewusst beeinflusst werden. Die große Öffentlichkeit bestimmter Prozesse und damit verbundene vehemente Äußerungen bergen ein erhebliches Risiko der unbewussten Beeinflussung der Richter*innen. Eine zutiefst emotional aufgeladene öffentliche Debatte, die insbesondere zu Straftaten häufig wahrzunehmen ist, in der für das erwartete Urteil Gefühle des Grusels, der Abscheu oder Skandale eine deutlich größere Rolle zu spielen scheinen als ein faires Verfahren für die angeklagte Person, steht in deutlichem Widerspruch zu den Anforderungen, die an Richter*innen bei der Urteilsfindung gestellt werden.
Es zeigt sich also ein Dilemma: Gesellschaftliche Diskussionen um Gerichtsprozesse sind auf der einen Seite aus demokratischer Perspektive wichtig, auf der anderen Seite können sie in einem gewissen Spannungsverhältnis zu anderen rechtsstaatlichen Prinzipien stehen und stellen ein Risiko der Beeinflussung der Richter*innen dar. Eine Entschärfung oder Lösung dieses Konflikts scheint nur äußerst schwer vorstellbar.
Lösung als Aufgabe der Richter*innen?
Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2018 gaben nur 2 % der befragten 400 Strafrichter*innen an, wahrgenommen zu haben, dass mediale Berichterstattung einen (sehr) starken Einfluss auf die Berufsrichter*innen hat.[7] 89 % der damals Befragten hielten diesen Einfluss für gering bzw. sehr gering. Auch wenn ein solcher Einfluss nicht eindeutig nachweisbar ist, zeigt die Drastik dieser Befragungsergebnisse – bei allen Unwägbarkeiten bezüglich der Repräsentativität der Befragung – einen relevanten Teil des Problems: ein fehlendes Gefahrbewusstsein der Richter*innen. Schließlich zeigt allein der Fall in Chemnitz, dass eine Problematik hier zumindest zu vermuten ist.
Ein Baustein zur Adressierung des Problems ist die Auseinandersetzung damit auf individueller Ebene: Die Richter*innen müssen bei der Urteilsfindung regelmäßig auch mit sich selbst „kritisch ins Gericht gehen“. Etwaige Einflüsse müssen sie sich bewusst machen, um sie in der Folge von den entscheidungserheblichen Elementen abstrahieren zu können. Medienkompetenz und Elemente der Entscheidungspsychologie müssen als Handwerkszeug dafür bereits im Rahmen der juristischen Ausbildung vermittelt werden. Kein*e Richter*in befreit sich mit dem Anziehen der Robe und dem Betreten des Sitzungssaals von öffentlichem Druck und unbewusster Beeinflussung. Klar ist gleichzeitig, dass auch ein Bewusstmachen der möglichen Einflüsse nicht unmittelbar zu einer rationalen Entscheidung unabhängig von den äußeren Faktoren führt. Erkenntnisse der Critical Legal Studies, die den Einfluss von gesellschaftlichen Verhältnissen (wie z. B. Rassismus) auf Recht und Rechtsfindung untersuchen, verdeutlichen, wie sehr nicht-juristische Faktoren Einfluss auf die richterliche Entscheidung nehmen. Gerade in der medialen Auseinandersetzung kann über Phänomene wie Framing oder Agenda-Setting auf sehr subtile Weise eine Beeinflussung stattfinden. Dass sich ein*e Richter*in davon umfänglich befreien kann, scheint fernliegend. Und dennoch: Ohne die richterliche Auseinandersetzung mit der Wirkung der Prominenz bestimmter Strafverfahren bleibt die verfassungsrechtlich als Herausforderung aufgegebene innere Unabhängigkeit in der medialisierten Gesellschaft insbesondere in Verfahren mit aktiver medialer Meinungsmache nicht mehr als eine von der Realität weit entfernte Idealvorstellung.
Der Widerspruch bleibt also, am Ende liegt es auch an der Öffentlichkeit, diese Entwicklungen weiter zu verfolgen. Gerade die Medien, die Ursprung des „Problems“ sind, müssen hier weiter den Finger in die Wunde legen und die Rechtsprechung kritisch verfolgen. Diese Ironie zeigt gleichzeitig anschaulich, wie nah Funktionen und Risiken medialer Berichterstattung und öffentlicher Diskussionen zu Gerichtsverfahren beieinander liegen.
[1] So wiedergegeben von Rudolf Gerhardt, Gerichtsshows, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2003, 68.
[2] Vgl. Helmuth Schultze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 97 Rn. 40.
[3] S. auch zur Kritik daran ZEIT v. 22.3.2019, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/barbara-ludwig-oberbuergermeisterin-strafprozess-chemnitz-richterbund (Stand aller Links: 08.10.2021).
[4] ZEIT v. 22.8.2019, https://www.zeit.de/news/2019-08/22/verteidigung-fordert-freispruch-im-chemnitz-prozess.
[5] ZEIT v. 23.8.2019, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-08/chemnitz-prozess-urteil-alaa-s-toedliche-messerattacke-rechtsextremismus.
[6] SPIEGEL v. 22.8.2019, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/chemnitz-im-namen-des-zornigen-volkes-kommentar-zum-urteil-a-1283266.html.
[7] Vgl. Hans Mathias Kepplinger / Pablo Jost / Martin Wohlrabe, Strafprozesse unter dem Einfluss von Online- und Offline-Medien aus Sicht von Richtern und Staatsanwälten, 2018, https://www.kepplinger.de/files/Ergebnisse_Umfrage_V2_0.pdf, Tab. 7.