Lange Zeit prägten Männer die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Erna Scheffler war die einzige Frau unter 24 Verfassungsrichter:innen der ersten Stunde. Gegen die Widerstände ihrer Zeit ist sie Juristin geworden und hat in ihrer Amtszeit am BVerfG maßgeblich zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frau und Mann beigetragen.
Erna Scheffler (geb. Friedenthal) kommt am 21.09.1893 in Breslau zur Welt. Gegen die patriarchalen Strukturen des Kaiserreichs kommt um 1890 verstärkter Widerstand aus verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung auf. Mit elf Jahren erlebt Scheffler, wie nach dem Tod ihres Vaters die Entscheidungen über Vermögens- und Familienfragen nicht von ihrer Mutter getroffen werden dürfen. Stattdessen wird ihr Onkel als Vormund vorangestellt.[1] Ein frühes Schlüsselerlebnis? Sie strebt ein selbstbestimmtes Leben und deswegen nach ihrem Abitur an einem Jungengymnasium ein berufsbildendes Studium an. Ab 1908 ermöglicht die preußische Ausbildungsreform auch Abiturientinnen die Immatrikulation. Im Sommersemester 1911 beginnt Scheffler ihr Medizinstudium in Heidelberg. Nach einem Semester wechselt sie Stadt und Fach und wird bis 1914 in München, Berlin und Breslau Rechts- und Staatswissenschaften studieren. Als (überwiegend) einzige Studentin der Fakultät erfährt sie kaum Akzeptanz. Ihre Anwesenheit und Wortbeiträge im Hörsaal werden von den Kommilitonen mit „scharrenden Füßen“ bedacht.[2]
Ihr Studium darf sie im Jahr 1914 nicht mit dem ersten Staatsexamen abschließen, das verbietet ihr das Ausbildungsrecht. Zunächst promoviert sie also – als erste Frau an der Breslauer Fakultät – bis 1914 über „straftilgende Maßnahmen“. Sie bringt ihr Studium willensstark zu Ende, auch ohne die Perspektive auf eine Berufstätigkeit als Volljuristin. Zunächst arbeitet Scheffler als juristische Hilfskraft, dann in der sozialen Fürsorge im besetzten Belgien. 1916 heiratet sie ihren ersten Mann, die Ehe wird in den 1920er-Jahren geschieden. Wie sie erfährt[3], wird das Recht noch bis 1959 Ehefrauen eine nachteiligere Stellung als nichtverheirateten Frauen einräumen.
Freiräume und nationalsozialistische Repression
Die Liberalisierung des Ausbildungsrechts in der Weimarer Republik ermöglicht es ihr, in den Jahren 1922 bzw. 1925 endlich die juristischen Staatsexamina zu absolvieren und dann als Rechtsanwältin insbesondere im Kriegsschadensrecht zu arbeiten. 1928 erreicht sie das Mindestalter, um in Berlin Gerichtsassessorin zu werden. In der Spätphase der Weimarer Republik ist ihre Ernennung zur Amtsrichterin im Jahr 1932 alles andere als selbstverständlich. Gerade die Richterschaft hinterfragt die psychologische Eignung von Frauen und fürchtet die zunehmende Konkurrenz durch Juraabsolventinnen. Andererseits werden in der Weimarer Republik Grundsteine gelegt für Geschlechtergerechtigkeit im Recht, an die Scheffler als Richterin in der jungen Bundesrepublik anknüpfen wird.[4]
Die NSDAP beendete bereits im Sommer 1933 Schefflers Amtszeit. Das nationalsozialistische Beamtenrecht verbannte Frauen ab Ende 1933 generell aus dem höheren Staatsdienst, Scheffler wurde wohl schon zuvor aus antisemitischen Motiven – sie wird als „Halbjüdin“ eingestuft – entlassen.[5] Ein bitterer persönlicher Rückschlag. Scheffler kann weitere zwölf Jahre nicht juristisch arbeiten. In den düsteren Jahren der faschistischen NS-Diktatur schlägt sie sich mit Hilfsarbeiten durch. Sie wird nicht geahnt haben, welche besondere Rolle ihr in der Findungsphase der jungen westdeutschen Demokratie als Juristin zukommen wird. Im Krieg verteilt sie Lebensmittelkarten, bevor sie sich schließlich ab Januar 1945 bis zum Kriegsende in einer Berliner Gartenlaube versteckt hält. Ihren zweiten Mann Georg Scheffler darf sie aufgrund der Rassengesetze erst nach dem Krieg heiraten, inzwischen ist sie auch Mutter.
Eine hohe Berufung
Was braucht es, um diese besondere demokratische Institution mittragen zu dürfen, die am 07.09.1951 in Karlsruhe gegründet wird? Das passende Chromosomenpaar ist ein klarer Vorteil. Abgesehen davon setzt der damalige § 3 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)[6] ein Mindestalter von 40 Jahren voraus, die Befähigung zum Richteramt, außerdem „besondere Kenntnisse im öffentlichen Recht und […] [Erfahrung] im öffentlichen Leben“. Nach Kriegsende wird Scheffler bald wieder als Richterin tätig, zunächst am Amtsgericht, dann in der Düsseldorfer Verwaltungsgerichtsbarkeit und damit im öffentlichen Recht. Erfahrung im öffentlichen Leben? Ganz besonders profiliert sich Scheffler 1950 mit ihrem meinungsstarken Hauptreferat auf dem 38. Deutschen Juristentag.
Zwei Jahre zuvor hatte Elisabeth Selbert im Parlamentarischen Rat die noch heute geltende Formulierung von Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz – „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – erkämpft. Scheffler greift in ihrem Referat diesen Verfassungssatz auf und erläutert, an welchen Schauplätzen das patriarchale Recht diesem Verfassungsanspruch angepasst werden muss: Auch die Mutter soll ihre Staatsangehörigkeit an das Kind weitergeben und nach Heirat behalten dürfen. Beamtinnen und Beamte sollen gleiche Besoldung, gleiches Wohnungsgeld und gleiche Hinterbliebenenversorgung erhalten. Vehement fordert Scheffler die Abschaffung von „Zölibatsklauseln“, die berufstätige Frauen bei Eheschließung in den Ruhestand zwangen. Im Steuerrecht setzt sie sich für eine getrennte Besteuerung ein. Im Familienrecht schließlich wirbt sie für eine gemeinschaftliche Ausübung der Elternrechte und den Abbau väterlicher Privilegien.
Schefflers Referat, freilich in der männlich dominierten Zivilrechtslehrerschaft umstritten, bringt ihr für ihre juristische Argumentationsstärke viel Anerkennung ein. Die einige Jahre in der Justiz tätige Richterin beweist damit ihre überdurchschnittliche Befähigung im Sinne von § 3 Abs. 2 BVerfGG.[7] Nur sollten auch Verfassungsrichterinnen die Entscheidungen in Karlsruhe mitgestalten? Die einzige Bundestagsabgeordnete im Richterwahlausschuss fordert, in beiden zwölfköpfigen Senaten müsse jeweils mindestens eine Frau vertreten sein. Elisabeth Selbert ist prädestiniert; sie gilt allerdings als „zu politisch“ für das BVerfG.[8] Die parteilose Scheffler hingegen wird von der SPD und dem Land Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen und neben 23 Richtern in das BVerfG gewählt. In zwölf Jahren Amtszeit wird sie mehrere richtungsweisende Urteile des Ersten Senats mittragen.
Gegen das Patriarchat im Recht
In dieser Zeit begegnet Scheffler die wichtige Frage, wie das Familien- und Erbrecht von 1900 an das Verfassungsversprechen von 1949 angeglichen werden kann. Anders als in der DDR stößt progressive Familienpolitik in der Bundesrepublik der 1950er Jahre an ihre Grenzen: Einerseits sollte der junge Staat auch durch die „Familie als Schule der Demokratie“ gestützt und bestärkt werden; selbst Teile der Kirchen forderten eine Abkehr von patriarchal-autoritären Familienbildern.[9] Die Adenauer-Regierung vertrat andererseits eine konservativ-patriarchale Familienpolitik. Eine ins einschlägige „Frauenreferat“ des Bundesinnenministeriums abgeordnete Richterin wird beinahe entlassen, weil sie eine stärkere Einbindung der Männer in häusliche Arbeit forderte.[10] Und im zweiten Adenauer-Kabinett amtierte ab 1953 mit Franz-Josef Wuermeling ein Familienminister, der die Hierarchie der Geschlechter als „Garantin der Stabilität gegen nationalsozialistische Vergangenheit und Kommunismus der Gegenwart“ verteidigte.[11]
Dieser Reformunwille führte zu dem ersten wichtigen Urteil unter Schefflers Berichterstattung[12]. Das lag im Ausgangspunkt an Art. 117 Abs. 1 GG: Zum 01.04.1953 trat gem. Art. 117 Abs. 1 GG die Verfassungswidrigkeit derjenigen Normen des Familienrechts ein, die dem Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstanden. Eine Neuregelung hatte die Bundesregierung bis zum Stichtag allerdings auch nicht vorgenommen – also klafften plötzlich Lücken im 4. Buch des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Das OLG Frankfurt reichte deswegen einen Normenkontrollantrag beim BVerfG ein: Art. 117 Abs. 1 GG könne verfassungswidrig sein, soweit die durch ihn verursachten Regelungslücken ebenfalls dem Verfassungsanspruch des Art. 3 Abs. 2 GG nicht entsprechen. Erna Scheffler und ihre Kollegen sahen sich vor einem schon rechtslogisch bemerkenswerten Problem, denn grundsätzlich lassen sich Verfassungsnormen nicht anhand von anderen (gleichrangigen) Verfassungsnormen auslegen. Das BVerfG hatte zwei Alternativen: Es konnte Art. 3 Abs. 2 GG einerseits als Rechtssatz anerkennen, aus dessen Auslegung sich unmittelbar Rechtsfolgen im Familienrecht ableiten lassen. Wenn Art. 3 Abs. 2 GG andererseits nur einen politischen Programmsatz darstellen sollte, wäre im Sinne der Rechtssicherheit eine Weiteranwendung des vorkonstitutionellen Familienrechts geboten.[13] Das BVerfG entscheidet sich für eine Anerkennung von Art. 3 Abs. 2 GG als unmittelbaren Rechtssatz, und das unter Berufung auf die Radbruch‘sche Formel – die bislang nur bei der Verurteilung von NS-Unrecht angewandt worden war. Das BVerfG entschied, dass Art. 3 Abs. 2 GG anhand von diesen über der Verfassung stehenden Gerechtigkeitserwägungen durch Richterrecht konkretisiert werden kann. Die von Art. 117 Abs. 1 GG verursachten Rechtslücken wurden also von Gerichten ausgefüllt.
Der Stichentscheid
Als der Erste Senat sein Urteil verkündet, steht bereits ein Gesetzesentwurf zur Debatte im Bundestag, mit dem das Parlament die Deutungshoheit wieder an sich ziehen will. CDU und FDP setzen gegen die SPD schließlich das Letztentscheidungsrecht („Stichentscheid“) sowie das Alleinvertretungsrecht des Ehemannes durch.[14] Vier Mütter minderjähriger Kinder wenden sich – flankiert von zwei Normenkontrollanträgen– in Verfassungsbeschwerden gegen das neue Gesetz. Neben Art. 3 Abs. 2 GG berufen sie sich auf das in Art. 6 Abs. 2 GG garantierte „Elternrecht“. Und sie gewinnen: Stichentscheid – ausgestochen. Lächelnd, triumphierend verkündet Erna Scheffler am 29.07.1959 das Urteil, das §§ 1628, 1629 BGB für verfassungswidrig erklärt.[15] Ihre Grundüberzeugung, dass der Gesetzgeber sich in Ehe- und Familienangelegenheiten zurückhalten solle[16], führt zu einem Durchbruch in der Geschlechterpolitik. Scheffler hat ihr Talent bewiesen, aus Minderheitspositionen heraus eine Mehrheit zu organisieren.[17] Es ist ihr persönlicher Triumph. Eine klare Absage an Versuche, Gleichberechtigung und „funktionierende Familie“ gegeneinander auszuspielen. Oder das verrechtlichte Patriarchat anhand funktionaler, biologischer oder gar naturrechtlicher Geschlechtsunterschiede zu rechtfertigen. (Verheiratete) Frauen und Männer haben von nun an – zumindest auf dem Papier – nicht nur staatsbürgerlich, sondern auch ehelich gleiche Rechte und Pflichten.
Feministin entgegen ihrer Zeit?
Entgegen der konservativen Forderung, man müsse ein Oberstes Bundesgericht schaffen, um das Familienrecht dem schädlichen Einfluss der Verfassungsrichter:innen zu entziehen[18], fallen auch weitere progressive Entscheidungen in Schefflers Amtszeit. Der Erste Senat erklärt die zwingende Zusammenveranlagung von Ehegatten im Steuerrecht für verfassungswidrig und fördert durch das „Ehegattensplitting“ die Berufsaufnahme von Frauen[19]. Weiterhin erteilt er der männliche Erben bevorzugenden Höfeordnung eine Absage[20] und mahnt die Berücksichtigung von Müttern, Hausfrauen und Haushilfen in der Sozialversicherung an.[21] Andererseits hat Scheffler mit ihrer Stimme auch das heute stark problematisierte Urteil des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 175 Strafgesetzbuch a.F. mitgetragen, der einseitig männliche Homosexualität mit Strafe bedrohte.
Ohne Scheffler wären frauenpolitische Anliegen wohl kaum durchgedrungen. Eine Feministin am BVerfG? Scheffler politisiert gerade mit Blick auf den „Stichentscheid“ den privaten Raum. Sie ist, in eher unfeministischen 1950er Jahren, gewissermaßen Bindeglied zwischen Feministinnen der Weimarer Republik und Second Wave-Feministinnen ab dem „Tomatenwurf“ 1968.[22] Mit Marie-Elisabeth Lüders und Marie Munk war sie zwei Feministinnen aus der Weimarer Republik persönlich verbunden und teilte ihre inhaltlichen Grundhaltungen. Wie viele Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit kam Scheffler aus bürgerlichen Lebensverhältnissen, sie beschäftigte zwei Hausangestellte. Sie reflektierte gleichzeitig, dass viele Frauen in den 1960er Jahren nicht mehr vergleichbar gute Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erlebten. Deswegen nahm sie nach ihrer Amtszeit die Lebensumstände junger Familien allgemein in den Blick und setzte sich für bessere Kinderbetreuungsangebote ein.[23]
Scheffler engagierte sich weiterhin frauenpolitisch. Sie war als Sachverständige im Bundestag tätig und leitete maßgeblich die Reform des Beamt:innenrechts in die Wege, die Teilzeitbeschäftigung im öffentlichen Dienst ermöglichte.[24] Die Frauenrechtlerin, Bundesverfassungsrichterin und politische Ideengeberin starb im Mai 1983. Was würde Erna Scheffler zum Stand der Gleichberechtigung knapp 40 Jahre nach ihrem Tod sagen? Es hätte sie sicherlich gefreut, dass die neun amtierenden BVerfG-Richterinnen heute mit größerer Selbstverständlichkeit die Arbeit des höchsten deutschen Gerichts prägen.
Weiterführende Literatur:
Marike Hansen, Erna Scheffler (1893-1983), Erste Richterin am Bundesverfassungsgericht und Wegbereiterin einer geschlechtergerechten Gesellschaft, 2019.
Till van Rahden, Demokratie und väterliche Autorität. Das Karlsruher „Stichentscheid“-Urteil von 1959 in der politischen Kultur der frühen Bundesrepublik, Zeithistorische Forschungen (ZF) 2005, 160-179, https://zeithistorische-forschungen.de/site/40208410/default.aspx.
[1] Hansen 2019, 11 f.
[2] Zit. nach Hansen 2019, 15.
[3] Hansen 2019, 22.
[4] Hansen 2019, 39.
[5] Hansen 2019, 71.
[6] Gesetz über das BVerfG idF. v. 12.3.1951, BGBl. I, S. 243.
[7] Hans Lechner, BVerfGG, Kommentar, 1. Aufl., 1954, § 3, 55.
[8] Linn Katharina Döring, Erna Scheffler, die erste Juristin am Bundesverfassungsgericht, FreiLaw 2014, 49 (50), https://kurzelinks.de/6z8u (Stand aller Links: 21.09.2021).
[9] van Rahden, ZF 2005, 160 (172).
[10] Fides Krause-Brewer, zit. nach Renate Faerber-Husemann, Die Frauen, das Grundgesetz und die Gleichstellung. Fünfzig Jahre Gleichstellungsgesetz, Deutschlandfunk v. 14.1.2004, https://kurzelinks.de/8jzf.
[11] van Rahden, ZF 2005, 160 (162).
[12] Urteil v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 227.
[13] Hansen 2019, 133.
[14] Hansen 2019, 119 f.
[15] BVerfGE 10, 59.
[16] Hansen 2019, 143.
[17] Doris König, zit. nach Die Justizreporter*innen, v. 9.9.2021, https://kurzelinks.de/6oyf.
[18] Zit. nach van Rahden, ZF 2005, 160 (162).
[19] Urteil v. 17.1.1957, BVerfGE 6, 55.
[20] Urteil v. 20.3.1963, BVerfGE 15, 337.
[21] Urteil v. 24.7.1963, BVerfGE 17, 1.
[22] Hansen 2019, 180 ff.
[23] Hansen 2019, 181 f.
[24] Heinz Bergner, Beamtin für einen halben Tag, DIE ZEIT v. 8.10.1965, https://kurzelinks.de/ix24.