„Anne Frank wohl von jüdischem Notar verraten – […] Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Ermittlerteam, das den Fall fast sechs Jahre lang untersucht hat.“ Diese Schlagzeile springt einem am 17.01.2022 als erste Nachricht in der Tagesschau-App entgegen. Wer neben den Signalwörtern „jüdischen“ und „verraten“ das Wörtchen „wohl“ überhaupt zur Kenntnis genommen hatte, dem wurden sie beim Weiterlesen in einem Feuerwerk der Superlative konsequent, pardon, sachlich und unvoreingenommen weggewogen. Denn dass verräterische und skrupellose Jüdinnen mit hohem sozialen Status nicht einmal vor ihren eigenen Leuten halt machen würden, behauptet nicht einfach irgendwer, sondern immerhin ein „internationales Ermittlerteam“, das den Fall „sechs Jahre“ lang untersucht habe. Auch handele es sich mittlerweile nicht einfach um einen schlichten Cold-Case, ein „Frozen-Case“ sei das, meint Vince Pankoke, der „27 Jahre lang im Dienst des FBI“ und nun kürzlich im Dienst der Wahrheit an vorderster Front des „23-köpfigen Expertenteam“„66 Gigabyte“ an Daten mit „modernster KI-Technik“ durchwühlt hat.
Zum Handwerk der Journalistin gehört es allerdings, auch die andere Seite zu beleuchten, mag auch die bereits angeführte Autorität der zur Hörigkeit neigenden Leserin bereits alles gesagt haben.
So wird angemerkt, dass die einzigen Beweismittel nur eine Kopie eines anonymen Briefs an den überlebenden Vater Anne Franks, Otto Frank, und ein Eintrag im Melderegister ist. In dem Brief beschuldigt die unbekannte Absenderin den Notar van den Bergh, der den deutschen Besatzerinnen „eine ganze Liste von Adressen“ gegeben haben soll.
Zwar macht der Beitrag darauf aufmerksam, dass dieser Brief bzw. die Anschuldigung van den Berghs bereits vor Jahrzehnten untersucht wurde und von mehreren Historikerinnen für untauglich befunden worden ist. Aber das Frozen-Case-Rechercheteam meint, man habe den Brief nur vernachlässigt, weil man davon ausging, dass van den Bergh bereits 1943 ausgereist sei. Nun fand aber das Team im Stadtarchiv heraus, dass er noch 1944 eine neue Adresse angegeben hatte. Für die Existenz der angeblichen Verstecklisten, von denen der Brief spricht, gibt es allerdings kein weiteres Indiz.
Neben der an und für sich schwachen Aussagekraft dieser zwei Indizien steht die historische Einordnung, die den „Beweisen“ schlicht alle Relevanz abspricht, aber freilich keine Erwähnung in dem Artikel findet.
Der Judenrat, der diese Liste von Adressen von Verstecken geführt haben soll, war eine Zwangsinstitution der Nazis, ein Werkzeug zur Lösung der sogenannten Judenfrage. Die sich vor diesem Hintergrund aufdrängende kritische Nachfrage, warum in aller Welt sämtliche Jüdinnen Amsterdams, die vor den Nazis flüchteten gerade den Handlangerinnen ihrer Mörderinnen die Adresse ihres Verstecks mitteilen sollten, blieb allerdings aus. Mit viel Wohlwollen lässt sich dies vielleicht noch als Fehlleistung der bewussten oder als Richtigleistung der hierzulande strukturell-unbewussten Tendenz deuten, den Jüdinnen typischerweise schnell für jeden „Verrat“ und überhaupt „das Böse“ verantwortlich zu machen.
„Absolute Sicherheit gibt es aber auch 77 Jahre nach Kriegsende nicht“, muss zwar auch Pankoke bescheiden zugeben: keine 100 Prozent, aber immerhin „85 Prozent“. „Nein, eine `smoking gun´ hätten sie tatsächlich nicht gefunden, gibt der frühere Geheimagent Pankoke zu, aber eine noch warme Waffe mit leeren Patronenhülsen daneben.“ Mit diesem Zitat endet der Bericht und gibt den Leserinnen die implizite Aufforderung mit auf den Weg, aus alldem bitte lediglich die eigenen Schlüsse zu ziehen.
Einen Tag später, erscheint auf der Tagesschau-Website an weniger prominenter Stelle ein mit dem Titel „Kritik an neuer These zu Verrat an Anne Frank“, was gemessen daran, dass nahezu alle Historikerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigen, die „neue“ These für Quatsch erklärt haben, einigermaßen beschönigend ist.
Infolge niederschmetternder internationaler Kritik an Pankoke & Co wurde gefordert, das Buch von Rosemary Sullivan, das die besagte These aufbereitet, vom Markt zu nehmen. Dies sei zwar gut gemeint, bemerkt Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank richtigerweise im SWR, spiele aber jenen in die Hände, die bei allem was mit Jüdinnen und dem Holocaust zu tun hat, ohnehin nur böse Mächte im Hintergrund vermuten würden. Zweifelhaft ist jedoch, weshalb Mendel diese Veröffentlichung für einen an sich begrüßenswerten Anlass hält, um das Thema Nationalsozialismus ins Gespräch zu bringen, was sich immer schwieriger gestalte. Für einen kritischen Zugang, der weniger von sechsstelligen Verlagsvorschüssen, Bestsellerlisten und Selbststilisierung als dem Wunsch nach Erkenntnis der historischen Zusammenhänge geleitet ist, gibt es weitaus geeignetere Werke. So erschien Ende letzten Jahres „Vom Hass zum Genozid“ von Léon Poliakov in Edition-Tiamat, nachdem es schon 1951 auf Französisch als erste systematische und umfassende Darstellung des Judenmords herausgegeben wurde. Poliakov, der als Sachverständiger Teil der französischen Delegation des Internationalen Militärgerichtshofs von 1946-48 in Nürnberg war, legte mit dem Buch einen Grundstein für die internationale Holocaustforschung. Er konfrontiert die Leserin unvermittelt mit seinen Quellen, die aus dem Prozess gegen die Kriegsverbrecher stammen. Es ist bezeichnend für die längst wiedergutgewordenen Deutschen, das es siebzig Jahre gebraucht hat, bis dieses wichtige Buch hierzulande erstmals erschienen ist.
Bei der Lektüre von „Vom Hass zum Genozid“ wird dann selbst die auf den ersten Blick „reflektiert“ anmutende Anmerkung von Vince Pankoke in besagtem Tagesschaubeitrag zum angeblichen Motiv des jüdischen Notars „Entweder hast du als Jude damals kooperiert oder du wurdest in den Osten geschickt“ als zumindest historisch unvollständig entlarvt. Poliakov (S. 153): „Was aber immer die Motive ihrer Mitglieder gewesen sein mögen und was man über ihre Politik auch sagen mag, auf jeden Fall standen sie am Ende vor der Wahl zwischen Martyrium und Schande. Es gehört zur Ironie solcher Entscheidungssituationen, dass die Wahl, die sie damals trafen, nur sehr begrenzte Auswirkungen auf das Schicksal ihrer Mitbürger oder auch nur auf ihr eigenes hatte. Sie alle sind umgekommen.“ Letzteres ist ein entscheidender und unverzichtbarer Punkt im Rahmen der Auseinandersetzung mit der notgedrungenen Kollaboration mancher Jüdinnen mit ihren Mörderinnen, will man der gängigen antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr, im Sinne der angeblichen Selbstviktimisierung der Jüdinnen, keinen Vorschub leisten.
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