Inhaltswarnung: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Diskriminierungserfahrungen von und Gewalt gegen trans* Personen und gibt – um sie zu widerlegen – trans*feindliche Narrative wieder. Das kann bei manchen Leser*innen negative Gefühle auslösen. Bitte seid achtsam, wenn das bei euch der Fall ist.
Mit der Regierungsbildung der Ampel-Koalition rückt die gesetzlich verankerte geschlechtliche Selbstbestimmung in greifbare Nähe. Aus den Entwicklungen in europäischen Nachbarländern wissen wir aber auch: Je sichtbarer die Rechte von trans* Personen werden, desto lauter werden auch trans*feindliche Narrative. Dem gilt es – gerade als Feminist*in – zu widersprechen.
„Wir werden das Transsexuellengesetz abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen.“[1] So steht es auf Seite 119 des Koalitionsvertrags der aktuellen Regierungsparteien und – das kann schon jetzt festgehalten werden – so realistisch war die Durchsetzung der geschlechtlichen Selbstbestimmung in Deutschland nie zuvor. Bereits 2020 hatten die damaligen Oppositionsparteien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP zwei konkrete Gesetzesvorschläge[2] vorgelegt, deren gemeinsamer Kern es war, eine Änderung des Geschlechtseintrags allen Menschen auf Grundlage einer selbstbestimmten Erklärung im standesamtlichen Verfahren zu ermöglichen. Bisher können trans* Personen in Deutschland ihren Geschlechtseintrag im Geburtenregister nur in einem Verfahren nach dem sogenannten Transsexuellengesetz (TSG) ändern lassen. Das bedeutet insbesondere, dass sie in einem gerichtlichen Verfahren zwei Sachverständigengutachten vorlegen müssen. Intergeschlechtliche Menschen haben dagegen schon jetzt die Möglichkeit, ihren Geschlechtseintrag nach § 45b Personenstandsgesetz (PStG) durch eine einfache Erklärung beim Standesamt ändern oder streichen zu lassen.
Vorbilder für das geplante Selbstbestimmungsgesetze gibt es im europäischen Ausland, nämlich in Dänemark, Malta, Irland, Norwegen, Belgien, Luxemburg, Portugal und Spanien, sowie weltweit, etwa in Argentinien und Neuseeland.
Narrativ und Wirklichkeit
Wofür es im europäischen Ausland allerdings auch Vorbilder gibt: trans*feindliche Narrative, diffuse Angstmacherei und Fehlinformation. Insbesondere im Vereinigten Königreich nimmt die oft reißerische und wenig sensible Berichterstattung über Trans*identität seit Jahren einen überproportional großen Platz im (Boulevard-)Journalismus ein.[3] Nach Analyse der Autorin Shon Faye ist an der britischen öffentlichen Debatte insbesondere problematisch, dass regelmäßig die „Sorgen“ einzelner cis Personen und der Wunsch vieler trans* Personen nach einem menschenwürdigen Leben als gleichwertige Diskussionsstandpunkte gegenübergestellt werden – als wären beide Seiten gleichermaßen von dieser Debatte betroffen.[4] Trans* Personen würden auf ein Gesprächsthema oder ein theoretisches Problem reduziert: „It turns out that when the media want to talk about trans issues, it means they want to talk about their issues with us, not the challenges facing us.”[5]
Auch deutschsprachige Beispiele, die diese Analyse stützen, lassen sich allein aus den letzten Monaten leicht finden, insbesondere in konservativen und rechtspopulistischen Medien.[6] Hinzu kommen spalterische Meinungsbeiträge und Falschmeldungen, von denen sich manche leicht als unwahr entlarven lassen: Die Pharma-Industrie möchte mit Hormontherapien viel Geld verdienen und deshalb – unterstützt von einer ominösen „Translobby“ – möglichst viele Menschen zu einer Transition bewegen?[7] Was schon klingt wie eine Verschwörungserzählung, entbehrt jedenfalls jeglicher Belege.[8] Neben BILD, Cicero & Co wirken an trans*feindlichen Narrativen jedoch auch Medienschaffende mit, die sich selbst explizit als feministisch verorten, insbesondere im Umfeld der Zeitschrift EMMA. Beispielhaft herausgegriffen werden kann der Beitrag „Im falschen Körper?“ von Chantal Louis,[9] der in der EMMA-Ausgabe 3/2021 erschienen ist und gleich mehrere besonders stark zirkulierende Narrative oder – wie sie im Folgenden genannt werden sollen – Mythen über trans* Personen enthält. Mit ihnen wird ein negativ konnotiertes und vorurteilsbelastetes Bild von trans* Personen verbreitet, das oft weit von deren Lebensrealität entfernt ist und von eigentlich wichtigen Diskussionen ablenkt. Schon jetzt ist abzusehen, dass diese Mythen insbesondere bis zur Einführung eines Selbstbestimmungsgesetztes verstärkt im öffentlichen Diskurs zirkulieren werden. Es ist wichtig, sie zu erkennen, um ihnen widersprechen zu können. Im Folgenden sollen daher zwei besonders populäre Mythen – (I) Transition als „Flucht“ vor Rollenerwartungen und (II) Eindringen in Schutzräume – auf ihren Realitätsgehalt überprüft werden.
Mythos I: „Flucht“ vor Rollenerwartungen
Der erste dieser Mythen lautet: Junge „Frauen“ – gemeint sind Personen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde – kommen mit den Rollenerwartungen an weibliche Körper, die sie in der (Vor-)Pubertät erstmals erleben, nicht zurecht und „flüchten“ sich daher in die Lösung einer Transition, die ihnen „mit immer größerer Selbstverständlichkeit“ angeboten wird.[10] In diesem Mythos stellen sich junge Frauen den Problemen des Heranwachsens in einer patriarchalischen Gesellschaft nicht, sondern wechseln stattdessen „auf die andere Seite“, um fortan ein diskriminierungsfreies Leben als Mann zu führen. Problematisch an diesem ersten Mythos ist zunächst, dass er jungen Menschen abspricht, ihre eigene geschlechtliche Identität zu kennen. Ihre – auch verfassungsrechtlich als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) geschützte[11] – Geschlechtsidentität wird nicht respektiert. Vielmehr unterstellen Verbreiter*innen des ersten Mythos ihnen Überforderung mit geschlechtlichen Rollenerwartungen und psychische Krisen. Sie werden also in hohem Maße pathologisiert.
Darüber hinaus leidet der erste Mythos an zwei wesentlichen Falschannahmen. Die erste liegt in der Unterstellung, dass eine Transition im Vergleich zum Leben in dem bei der Geburt zugewiesenen weiblichen Geschlecht immer der einfachere Weg sei. Zwar empfinden es tatsächlich viele trans* Jungen als Erleichterung, in der eigenen Geschlechtsidentität leben zu können. Gemeint ist im ersten Mythos aber vielmehr, dass das Leben in einer männlichen Rolle mit geringeren Rollenerwartungen verknüpft und daher ausnahmslos leichter ist. Ob dies zutrifft, sei dahingestellt. Jedenfalls wird aber verkannt, dass es einen eklatanten Unterschied zwischen der Lebensrealität von cis und trans* Jungen gibt. In einer 2017 veröffentlichten deutschen Studie zu Coming-out-Erfahrungen queerer Jugendlicher in Deutschland gaben 70 % der befragten trans* Jugendlichen an, in der engeren Familie schlechte Erfahrungen mit ihrem Coming-Out gemacht zu haben, insbesondere in ihrer Identität nicht ernst genommen (79 %) oder absichtlich ignoriert worden zu sein (61 %).[12] Trans* männliche Jugendliche erleben mit 82 % sogar tendenziell häufiger, dass ihre Geschlechtszugehörigkeit nicht ernst genommen wird.[13] Auch im Kontext Schule berichten trans* Jugendliche über ein Informationsdefizit und Unsicherheit bei Lehrkräften und der Schulleitung.[14] Solche Erfahrungen bringen einen erheblichen Leidensdruck mit sich und können der psychischen Gesundheit schaden. In einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gaben 39 % der befragten trans* Personen an, dass bei ihnen schon einmal eine Angststörung diagnostiziert wurde, bei 11 % eine Essstörung. Damit liegen sie deutlich sowohl über der cis-heterosexuellen Vergleichsgruppe als auch über der Gruppe der cis Menschen innerhalb der untersuchten LGBTQI*-Gruppe.[15] Von einem rein unterstützenden und ermutigenden Klima für trans* Jungen und einem ausnahmslos leichteren Leben kann vor diesem Hintergrund keine Rede sein.
Voraussetzungen nach dem TSG
Die zweite falsche Annahme des ersten Mythos liegt in der Unterstellung, dass jungen Menschen eine Transition mit „immer größerer Selbstverständlichkeit angeboten“ werde.[16] Wahrer Kern dieses Arguments ist, dass die Hürden für eine rechtliche Transition in Deutschland schon einmal höher waren: Als das TSG, das die Voraussetzungen für einen Wechsel des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister für trans* Personen in Deutschland (noch) regelt, im Jahr 1981 in Kraft trat, waren die darin festgeschriebenen Hürden noch wesentlich höher und – wie das Bundesverfassungsgericht in den nächsten Jahrzehnten Schritt für Schritt feststellen sollte – zum großen Teil verfassungswidrig. Zu diesen mittlerweile unanwendbaren Voraussetzungen gehören ein Mindestalter von 25 Jahren,[17] die Ehelosigkeit[18] sowie die Fortpflanzungsunfähigkeit und das Vornehmen eines die „äußeren Geschlechtsmerkmale verändernden operativen Eingriffs […], durch den eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts erreicht worden ist“.[19]
In der „Regelungsruine“ des TSG übrig geblieben sind nun nach §§ 8 Abs. 1 Nr. 1, 1 Abs. 1 TSG noch drei Voraussetzungen: Die antragstellende Person darf sich „auf Grund ihrer transsexuellen Prägung“ nicht mehr dem in ihrem Geburtseintrag angegebenen Geschlecht, sondern „dem anderen“ Geschlecht als zugehörig empfinden und seit mindestens drei Jahren unter dem „Zwang“ stehen, ihren Vorstellungen entsprechend zu leben (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 TSG). Es muss mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass sich ihr Zugehörigkeitsempfinden zum „anderen“ Geschlecht nicht mehr ändern wird (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 TSG) und sie muss die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder einen vergleichbaren Tatbestand erfüllen (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 TSG). Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist vor Gericht durch zwei Sachverständigengutachten zu belegen (§ 9 Abs. 3 i.V.m. § 4 Abs. 1 und 3 TSG).
Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes (BGH) sollen diese Voraussetzungen analoge Anwendung finden auf Personen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität, die nach seiner engen Auslegung des Begriffs „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ von § 45b PStG nicht erfasst sind.[20] Eine Verfassungsbeschwerde gegen die BGH-Entscheidung ist anhängig.[21]
Fremdbestimmung, Übergriffigkeit, finanzielle Hürde
Insbesondere das Gutachtenerfordernis führt dazu, dass das TSG-Verfahren in einem hohen Maß von Fremdbestimmung geprägt ist: Die Identität einer Person wird nur dann akzeptiert, wenn gleich zwei Sachverständige ihre „transsexuelle Prägung“ bestätigen. Das TSG geht dabei davon aus, dass Sachverständige die psychiatrische Diagnose „Transsexualismus“ stellen können. Dies entspricht allerdings nicht mehr internationalen medizinischen Standards, insbesondere der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD). In der aktuellen Fassung, der ICD-11, die 2018 veröffentlicht wurde und am 1.1.2022 in Kraft tritt, wurde die psychiatrische Diagnose „Transsexualismus“ gestrichen. Stattdessen wird sie als „Geschlechtsinkongruenz“ bei den „Conditions related to Sexual Health“ eingeordnet. Vereinzelt wird daher vertreten, dass der Begutachtungsprozess im TSG-Verfahren schon aus diesem Grund nicht mehr durchgeführt werden könne.[22] Aber auch unter Geltung der vorherigen Standards wiesen Sachverständige bereits darauf hin, dass die Geschlechtsidentität eines Menschen nicht fremdbegutachtet werden könne, sondern die Begutachtung lediglich wiedergebe, was der Mensch über sich selbst berichte.[23]
Das Gutachtenerfordernis birgt daneben auch ein erhöhtes Risiko für Übergriffigkeiten. Trans* Personen berichten vermehrt, von Gutachter*innen nach intimen Details aus der Kindheit und der sexuellen Vergangenheit befragt worden zu sein, die für ihre Trans*identität nicht relevant waren.[24] Da es aus der Sicht der Begutachteten unwahrscheinlich erscheint, dass dem Antrag im TSG-Verfahren stattgegeben wird, wenn das Gutachten zu einem ablehnenden Ergebnis kommt („Gate-Keeping-Effekt“), entsteht – trotz der tatsächlich sehr geringen Ablehnungsquoten von unter 1 % – Druck, auch unangebrachte Fragen zu beantworten, was Gefühle der Abhängigkeit und Erniedrigung verstärkt.[25] Paradox ist zudem, dass die Begutachtungssituation eigentlich überkommene Geschlechtsbilder manifestiert. Beispiele aus psychologischen Persönlichkeitstests strotzen vor Geschlechterklischees: „Wenn ich körperliche Gewalt anwenden muss, um meine Rechte zu verteidigen, so tue ich es“ oder „Wenn jemand weint, möchte ich ihn umarmen und trösten“, „Ich würde gern lernen, ein Flugzeug zu fliegen“ oder „Ich schmücke meinen Arbeitsplatz gern mit Blumen“, „Mir gefallen Kriegsgeschichten“ oder „Ich lese gern romantische Geschichten“.[26] Für empathische Männer, die Blumen und Romantik mögen, oder rauflustige Frauen, die Kampfpilotin werden wollen, ist in diesen Fragebögen kein Platz, geschweige denn für nichtbinäre Geschlechtsidentitäten.
Das TSG-Verfahren ist darüber hinaus eine erhebliche finanzielle und zeitliche Belastung. Durchschnittlich entstehen Gesamtkosten in Höhe von 1868 €, die durchschnittliche Verfahrensdauer beträgt 9,3 Monate (bei einer Spanne von 5 bis 20 Monaten).[27] Im Vergleich: Bei einer Personenstandsänderung nach § 45b PStG, die von Standesbeamt*innen sofort vorgenommen werden kann, aktuell aber nur intergeschlechtlichen Menschen offensteht, fallen Gebühren in Höhe von 30 € für die Änderung des Registereintrags und in Höhe von 15 € für eine neue Urkunde an.[28] Zusammenfassend ist das aktuelle TSG-Verfahren damit von Fremdbestimmung geprägt, psychisch und finanziell belastend. Mit Selbstverständlichkeit angeboten wird eine Transition also keineswegs.
Was das Selbstbestimmungsgesetz (nicht) sein wird
Auch über ein mögliches Selbstbestimmungsgesetz sind eine Reihe von Falschbehauptungen im Umlauf. Behauptet wird insbesondere, aus der Personenstandsänderung folge ein gesetzlicher Anspruch auf körpermodifizierende Operationen. So schreibt auch Louis: „Leon hat nun [nach Änderung des Geschlechtseintrags] einen gesetzlichen Anspruch auf geschlechtsangleichende Maßnahmen, sprich: Er kann sich die Brüste amputieren sowie Eierstöcke und Gebärmutter entfernen lassen.“[29] Woraus Louis dies folgert, bleibt unklar. Der Koalitionsvertrag sagt dazu lediglich: „[Zur Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes] gehören ein Verfahren beim Standesamt, das Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht, ein erweitertes und sanktionsbewehrtes Offenbarungsverbot und eine Stärkung der Aufklärungs- und Beratungsangebote. Die Kosten geschlechtsangleichender Behandlungen müssen vollständig von der GKV [gesetzlichen Krankenversicherung] übernommen werden.“[30] Eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherer kann mit einem gesetzlichen Anspruch auf bestimmte Operationen oder Behandlungen nicht gleichgesetzt werden. Von letzterem ist nicht die Rede. Auch in den 2020 vorgelegten Gesetzesvorschlägen war ein solcher Anspruch nicht vorgesehen.
An dieser Stelle ist es wichtig, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was aktuell im TSG und in einem möglichen Selbstbestimmungsgesetz geregelt werden kann – und was gerade nicht. Regelungsgegenstand ist eine Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister. Es geht ausschließlich um die personenstandsrechtliche Frage des rechtlichen Geschlechts (auch: „Papiergeschlecht“), das für jedes Kind in der ersten Woche nach der Geburt im Geburtenregister eingetragen wird, § 22 Abs. 3 PStG. Trans* Personen können ihre Geschlechtsidentität theoretisch zwar auch leben, ohne ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Die Personenstandsänderung ist häufig aber gleichwohl ein wichtiger Schritt, um Alltagsdiskriminierungen und das erzwungene Offenlegen der Trans*identität zu verhindern, etwa weil Dokumente und äußeres Erscheinungsbild auseinanderfallen. Daneben ist das Geschlecht für viele Menschen ein wesentliches Merkmal der Persönlichkeit und die als richtig empfundene Zuordnung im Personenstandsregister damit identitätsstiftend.
Vorgaben für körpermodifizierende Behandlungen
Ob im Prozess der Transition zusätzlich körpermodifizierende Operationen vorgenommen werden, hat mit der Änderung des Geschlechtseintrags nichts zu tun. Nicht alle trans* Personen entscheiden sich – schon gar nicht leichtfertig – für solche Operationen, etwa weil sie mit ihren Körpern zufrieden sind, eine reine Hormontherapie ausreichend finden, das medizinische Risiko als zu hoch einschätzen oder sie es sich schlicht nicht leisten können. In medizinischer Hinsicht kommt es maßgeblich auf die Vorgaben der unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung entwickelten S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit“ an.[31] In Kapitel 7, das sich mit körpermodifizierenden Behandlungen befasst, heißt es zur Mastektomie, also dem Entfernen der Brust: „Die maskulinisierende Operation im Brustbereich soll den Behandlungssuchenden nach Abschluss der Diagnostik ermöglicht werden.“[32] Eine Mastektomie wird also durchaus – auch aufgrund der hohen Zufriedenheit von Behandlungssuchenden hinsichtlich der Operationsergebnisse – empfohlen, allerdings erst nach Abschluss der Diagnostik. Für Hysterektomie (Entfernung der Gebärmutter) und Adnektomie (Entfernung von Eileitern und Eierstöcken) werden ähnliche Empfehlungen ausgesprochen, wobei zusätzlich auf mögliche Kontraindikationen hingewiesen wird.[33] Eine vorherige Diagnose und die Berücksichtigung von Kontraindikationen sind also immer Voraussetzung für körpermodifizierende Behandlungen. Daran kann auch ein mögliches Selbstbestimmungsgesetz nichts ändern.
Mythos II: Eindringen in Schutzräume
Nun zum zweiten Mythos, der sich nicht mit trans* Jugendlichen, sondern mit erwachsenen trans* Frauen beschäftigt, die in diesem Mythos allerdings ausschließlich als „biologische Männer“, „männlich sozialisiert“ oder „Männer, die von sich behaupten, eine weibliche Geschlechtsidentität zu haben“ dargestellt werden.[34] Nach diesem Mythos nutzen trans* Frauen ihre Transition als Vorwand, um in spezielle Schutzräume für (cis) Frauen, z.B. in Frauenhäuser, Umkleidekabinen oder Toiletten, einzudringen und (cis) Frauen zu belästigen.[35] Prominente Verbreiterin dieses Mythos ist die ehemalige britische Professorin Kathleen Stock, deren Buch „Material Girls“ im Frühjahr 2022 auf Deutsch erscheint.[36] Für den Mythos fehlen jegliche Belege. Insbesondere gibt es aus Ländern, die bereits ein Selbstbestimmungsgesetz eingeführt haben, keinerlei Hinweise auf Vorfälle dieser Art in Kriminalitätsstatistiken oder der öffentlichen Berichterstattung.
Im Gegenteil: Die Lebenswirklichkeit von trans* Frauen bildet – nicht nur, aber auch in Deutschland – einen krassen Gegensatz. Trans* Personen, insbesondere trans* Frauen, sind einem wesentlich höheren Risiko ausgesetzt, Geschädigte*r eines Gewaltverbrechens zu werden. 17 % der befragten trans* Personen gaben in einer Studie der Europäischen Grundrechteagentur aus dem Jahr 2020 an, in den letzten fünf Jahren mindestens einem körperlichen und/oder sexuellen Übergriff aufgrund ihrer Transgeschlechtlichkeit ausgesetzt gewesen zu sein. [37] Das weltweite Trans Murder Monitoring zählte im letzten Jahr (Oktober 2020 bis September 2021) 375 ermordete trans* Personen, 96 % davon trans* Frauen.[38] Vergleichbare Zahlen für Deutschland fehlen bisher, da Gewalt gegen trans* Personen zum einen schon seltener gemeldet, zum anderen statistisch nicht gesondert erfasst wird. Es ist allerdings davon auszugehen, dass trans* Frauen auch in Deutschland eine besonders vulnerable Gruppe bilden.
Vor Gewalt schützende Räume sind also auch für trans* Frauen dringend notwendig. Zu behaupten, sie stellten eine Bedrohung in eben diesen Räumen dar, ist daher besonders perfide. Die Entscheidung, ob eine – cis oder trans* – Frau in einem Frauenhaus aufgenommen werden kann, wird zudem immer von kompetenten Fachkräften getroffen, die jeden Einzelfall mit Rücksicht auf Schutzmöglichkeiten vor Ort und die Bedürfnisse aller Bewohner*innen betrachten.[39] Dass männliche Täter mit geändertem Geschlechtseintrag in ein Frauenhaus eindringen könnten, ist daher sehr unwahrscheinlich. Aus Täterperspektive wäre ein solches Vorgehen auch unsinnig: Wer Frauen belästigen will, kann das auch schon heute tun, ohne seinen Geschlechtseintrag zu ändern. Kontrolliert wird der Eintrag vor dem Betreten einer öffentlichen Toilette oder Umkleidekabine schließlich nicht. Andererseits gelten strafrechtliche Sanktionen für Sexualdelikte selbstverständlich für Personen aller Geschlechter und Identitäten.[40]
Die Gefahr eines sexualisierten Übergriffes ist für alle Frauen real. Allerdings geht sie in der überwiegenden Mehrheit nicht von trans* Frauen aus, sondern von gewalttätigen Männern. Für ihre Übergriffe trans* Frauen verantwortlich zu machen, ist zutiefst trans*misogyn.
Bedeutung für die feministische Perspektive
Die Beschäftigung mit trans*feindlichen Narrativen zeigt, dass im Grunde eine große Schnittmenge zwischen trans*aktivistischen Anliegen und „klassischen“ Zielen des Feminismus besteht: Die Abschaffung patriarchaler Geschlechtererwartungen, die Bekämpfung männlicher Gewalt und die Selbstbestimmung über unsere Körper und unsere Leben frei von Pathologisierung. Aus einer feministischen Perspektive ist es daher wichtig, sich auf das gemeinsame Feindbild – das Patriarchat und darin verankerte starre Geschlechterrollen – zu besinnen, das (cis) Frauen ebenso wie trans* Personen und Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität schadet. Dafür müssen verfügbare Kräfte gebündelt, nicht gespalten werden. Trans*feindlichen Mythen sollte daher im feministischen und rechtswissenschaftlichen Diskurs klar widersprochen werden: Support your sisters, not your cisters!
Weiterführende Literatur
Fatma Aydemir, Hetze gegen Selbstbestimmungsgesetz: Gruselgeschichten vom Mädchenklo, Taz.de v. 18.12.2021, https://tinyurl.com/sr-sys14.
Bundesverband Trans* / LSVD Bundesverband, Soll Geschlecht jetzt abgeschafft werden?, 12 Fragen und Antworten zu Selbstbestimmungsgesetz & Trans*geschlechtlichkeit, 2022, https://tinyurl.com/sr-sys15.
Queer Lexikon, Blog Versachlichung, https://tinyurl.com/sr-sys16.
[1] SPD / BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN / FDP, Koalitionsvertrag 2021-2025, 119, https://tinyurl.com/sr-sys1 (Stand aller Links: 4.2.2022).
[2] Bundestags-Drucksachen 19/19755 und 19/20048.
[3] Ausführlich dazu Shon Faye, The Transgender Issue, 2021, 1 ff.
[4] Ebenda, 8.
[5] Ebenda, 9.
[6] Für viele Emma-Redaktion, Ganserer: Die Quotenfrau, Emma.de v. 19.1.2022, https://tinyurl.com/sr-sys2; Judith Blage, Warum wollen immer mehr Mädchen Männer werden?, NZZ.ch v. 16.1.2022, https://tinyurl.com/sr-sys3; Judith Sevinç Basad, Nächste Runde im Toiletten-Streit zwischen CDU und Ampel, Bild.de v. 11.12.2021, https://tinyurl.com/sr-sys4; Mathias Brodkorb, „Körperliche Schmerzen holen einen schnell aus der Ideologie“, Cicero.de v. 28.11.2021, https://tinyurl.com/sr-sys5; Hedwig von Beverfoede, Ampel-Pläne: Handbuch der Familienzerstörung, JungeFreiheit.de v. 26.11.2021, https://tinyurl.com/sr-sys6.
[7] Etwa Chantal Louis, Im falschen Körper?, EMMA 3/2021, 68, (70).
[8] Vgl. nur Queer Lexikon, Blog Versachlichung Teil 12: Von der Translobby und den Pharmaunternehmen, https://tinyurl.com/sr-sys7.
[9] Louis (Fn. 7), 68 ff.
[10] Louis (Fn. 7), 68.
[11] Zuletzt Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 10.10.2017 – 1 BvR 2019/16 = Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 147, 1.
[12] Claudia Krell / Kerstin Oldemeier, Coming-out – und dann…?!, Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland, 2017, 162 f.
[13] Krell / Oldemeier (Fn. 12), 163.
[14] Arn Sauer / Erik Meyer, Bundesverband Trans* e.V. (Hrsg.), Wie ein grünes Schaf in einer weißen Herde, Lebenssituationen und Bedarfe von jungen Trans*-Menschen in Deutschland, 2016, 35 ff.
[15] David Kasprowski u.a., Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen, DIW Wochenbericht 6/2021, 83 f.
[16] Louis (Fn. 7), 69.
[17] BVerfG, Beschluss vom 16.3.1982 – 1 BvR 938/81 = BVerfGE 60, 123; BVerfG, Beschluss vom 26.1.1993 – 1 BvL 38/92 u.a. = BVerfGE 88, 87.
[18] BVerfG, Beschluss vom 27.5.2008 – 1 BvL 10/05 = BVerfGE 121, 175.
[19] BVerfG, Beschluss vom 11.1.2011 – 1 BvR 3295/07 = BVerfGE 128, 109.
[20] BGH, Beschluss vom 10.6.2020 – XII ZB 451/19.
[21] Die Beschwerdeschrift ist abrufbar unter https://tinyurl.com/sr-sys8.
[22] Udo Rauchfleisch, Transsexualismus – Genderdysphorie – Geschlechtsinkongruenz – Transidentität, Der schwierige Weg der Entpathologisierung, 2019, 24 ff.
[23] Laura Adamietz / Katharina Bager, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Gutachten: Regelungs- und Reformbedarf für transgeschlechtliche Menschen, 12 m.w.N.
[24] Ebenda, 11.
[25] Ebenda, 11 f.
[26] Justin Time / Jannik Franzen (Hrsg.), trans*_homo, differenzen, allianzen, widersprüche, Begleitband anlässlich der Ausstellung im Schwulen Museum Berlin, 2012, 280 ff. (Fragebogen: Passt mein Geschlecht zu mir?).
[27] Adamietz / Bager (Fn. 23), 11 f.
[28] Nach Verwaltungsgebührenordnung der Länder, etwa Nr. 19.3.3.4 und 19.3.1.1 der Anlage zur Landesverordnung über Verwaltungsgebühren Schleswig-Holstein.
[29] Louis (Fn. 7), 69.
[30] SPD / BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN / FDP (Fn. 1), 119.
[31] Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung, AWMF-Register-Nr. 138|001, Stand: 22.2.2019, Version 1.1.
[32] Ebenda, 62.
[33] Ebenda, 64 f.
[34] Etwa WHRC, Erklärung über die Rechte von Frauen auf der Grundlage ihres Geschlechts, https://tinyurl.com/sr-sys9.
[35] Ebenda; Louis (Fn. 7), 70.
[36] Etwa Anna-Lena Scholz, ,,Das ist verrückt“ [Interview mit Kathleen Stock], Zeit.de, 15.12.2021, https://tinyurl.com/sr-sys10.
[37] European Union Agency for Fundamental Rights, EU-LGBTI II – A long way to go for LGBTI equality, 2020, 40 (2.3.1 Figure 14).
[38] Trans Murder Monitoring, Update TDoR 2021, https://tinyurl.com/sr-sys11.
[39] So auch Frauenhauskoordinierung e.V., Facebook.de v. 31.1.2022, https://tinyurl.com/sr-sys12.
[40] Ausführlich zum Ganzen Queer Lexikon, Versachlichung Teil 2: Geschlecht behaupten, https://tinyurl.com/sr-sys13.