Seit Jahrzehnten klagen Studierende an den juristischen Fakultäten über stereotypisierende und sexistische Ausbildungsliteratur. Weitere Lebensrealitäten außerhalb eines binären Geschlechtersystems erfahren erst gar keine Beachtung. Mit Blick u.a. auf das Lehrpersonal an den Fakultäten wird deutlich, dass es um viel mehr geht als diskriminierende Ausbildungsliteratur.
Die juristische Ausbildung ist anders als oft angenommen nicht grundsätzlich „trocken“ oder besteht zum größten Teil aus Auswendiglernen. Dies liegt mitunter auch daran, dass Falllösungen in den Vorlesungen als auch den begleitenden Tutorien sowie später in der Examensvorbereitung den Dreh- und Angelpunkt bilden. Hierdurch wird das erlernte Wissen angewendet und reproduziert. Die zu Ausbildungszwecken konzipierten Sachverhalte sind an reale Lebenssachverhalte und Urteile angelehnt oder gänzlich frei erfunden, sollen jedenfalls aber nah an die Realität herankommen.
Von „Nora Niedlich“ bis hin zu offenem Sexismus
Wenn in diesen Sachverhalten dann u.a. von „Nora Niedlich“ oder „Berthold Brüll“[1] die Rede ist, erzeugt das Bilder im Kopf. An diesen Sprachgebrauch anknüpfend, werden Frauen oftmals Eigenschaften wie Passivität, Hilflosigkeit und Ängstlichkeit zugeschrieben. Manch eine*r mag dies noch als eher harmlose Zuschreibung abtun. Für Auszüge aus folgendem Sachverhalt, der mit „Ein echter Kerl“ überschrieben ist, kann dies keineswegs gelten: „Rechtsstudent R quatscht an der Theke […] Medizin-Studentin M an. Zur Stelle ist sofort Assistenzarzt A, der den R mit der Bemerkung, sie sei „sein Schätzchen“, anlächelt. R streckt den nervenden A daraufhin […] zu Boden und wird sich mit der von diesem animalischen Akt mächtig beeindruckten M umgehend einig hinsichtlich des Fortgangs des Abends. Als er sich gerade zur Toilette zwecks Kondomerwerb begeben will, bemerkt er, dass […] A ein Päckchen der begehrten Tüten in seiner Brusttasche trägt.“[2]
Letztlich ist es jedoch ohnehin verfehlt, die Sachverhalte bezüglich Banalität, Subtilität oder Harmlosigkeit in Konkurrenz zu setzen. In der Gesamtschau sind die alltäglichen Erfahrungen, die FLINTA* an den Fakultäten machen, sehr wohl schwerwiegend, misogyn und diskriminierend.[3]
Aber auch die allgemeine Ausbildungsliteratur ist vor Stereotypisierung nicht gefeit. So dürften nahezu alle Lehrbücher auf das generische Maskulinum zurückgreifen. Dies ist allein deshalb schon kritikwürdig, da trotz der beanspruchten Neutralität dennoch überwiegend männliche Assoziationen hervorgerufen werden.[4] Daneben ist auffällig, dass es den Autor*innen bei bestimmten Berufsgruppen scheinbar nicht möglich ist, durchgehend das generische Maskulinum zu verwenden. Geht es z.B. um Hausangestellte, kann es natürlich nur „die Hausangestellte“ heißen.[5]
Eine hamburgische Studie
Es ließe sich nun sagen, dies seien wahllos herausgegriffene Einzelfälle. Dass dem nicht so ist, zeigt eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2017.[6] So hat sich bei der Untersuchung von 87 Ausbildungsfällen zur Examensvorbereitung z.B. ergeben, dass von 393 vorkommenden Personen nur 18 % weiblichen Geschlechts und 2 % ohne weitere Geschlechtszuordnung sind. Letztere Personen bleiben dabei jedoch entweder unbekannt oder werden lediglich – wie in der juristischen Ausbildung oft üblich – mit einem Namenskürzel (A, B, C) versehen. Diese 2 % zeugen damit nicht von zumindest minimaler geschlechtlicher Vielfalt. Es wird vielmehr deutlich, dass die Ausbildungsfälle von einem ausschließlich binären Geschlechtersystem ausgehen. Tauchen Frauen dann doch einmal in den Sachverhalten auf, sind sie zwar überwiegend (76 %) auch entscheidungs- und handlungsfähig, werden jedoch in 46 % der Fälle über die Beziehung zu einem Mann definiert. Zudem sind sie nur zu 39 % berufstätig und das zumeist in Berufen, die geschlechtsbezogene Stereotype bedienen. So sind Frauen nach wie vor viel zu oft lediglich Ehefrauen und Töchter, Haushälterinnen und Sekretärinnen, die generell alles falsch machen und ihrem Vorgesetzten bloß Probleme bereiten oder shoppingsüchtige Geliebte von weißen, mittelalten Männer in guten Positionen. Daneben wird deutlich, dass viele weitere Lebensrealitäten aus den Sachverhalten komplett ausgeklammert sind. Andere marginalisierte Gruppen erhalten oftmals nur dann Relevanz, wenn es darum geht, sie mit im schlimmsten Fall offen rassistischem Einschlag in stigmatisierenden Kontexten darzustellen.[7] So wird beispielsweise allzu oft und allzu gerne das Bild von kriminellen Migrant*innen bedient.
Vier Jahrzehnte und kaum einen Schritt weiter
Bereits 1977 kamen Franziska Pabst und Vera Slupik zu ganz ähnlichen Ergebnissen.[8] In 898 zivilrechtlichen Schulfällen waren Frauen mit einem Auftreten von durchschnittlich 19,9 % nicht nur unterrepräsentiert, ihr Auftreten blieb auch weitestgehend an bestimmte Rollenbilder geknüpft. Besonders auffällig ist dabei, dass 31,8 % der Fälle von sexuell assoziativem Gehalt waren. In 65,8 % der Fälle wurden Frauen zudem nicht als eigenständige Individuen wahrgenommen, sondern über ihre Beziehung zu einem Mann charakterisiert und ihre Abhängigkeit von diesem stets betont. In durchschnittlich 32 % der Fälle wurde den auftretenden Frauen sogar komplett ihre Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Nur 27,5 % der handelnden Frauen waren außerhäuslich erwerbstätig.
Zumindest in Bezug auf die letzten beiden Aspekte scheint sich im Vergleich zur hamburgischen Studie aus dem Jahr 2017 eine leicht positive Entwicklung abzuzeichnen. Grund zu ausufernder Freude bietet das jedoch nicht. Die (Unter-)Repräsentation von Frauen befindet sich seit 40 Jahren auf einem gleichbleibend niedrigen Niveau. Ähnlich verhält es sich z.B. mit der Repräsentation von Personen, die sich nicht innerhalb eines binären Geschlechtersystems verorten. Des Weiteren werden Frauen nach wie vor primär über die Beziehung zu einem Mann charakterisiert. Auf beschämende Weise zeigt sich damit, wie wenig sich in den letzten vier Jahrzehnten verändert hat, wie wenig Berücksichtigung weitere Lebensrealitäten auch im 21. Jahrhundert erfahren und wie rückständig die juristische Ausbildungsliteratur dementsprechend auch weiterhin ist.
Frauen in der Lehre und während des Examens
An dieser Stelle lohnt es, einen Blick auf die Repräsentation von Frauen an den juristischen Fakultäten zu werfen.[9] Betrug der Frauenanteil der Studierenden im Fach Rechtswissenschaft 1977 lediglich 16,61 %, stieg der Wert in den folgenden Jahren kontinuierlich an, bis im Jahr 2007 mit 52,76 % erstmals mehr Frauen als Männer Rechtswissenschaft studierten. Im Jahr 2017 waren es dann bereits 55,79 % weibliche Studierende. Wer jetzt denkt, entsprechend hoch sei auch die Zahl des weiblichen Lehrpersonals an den Fakultäten, irrt sich leider. Gerade einmal durchschnittlich 15,88 % der ordentlichen Professuren wurden 2017 von Frauen bekleidet. Noch dramatischer wird es mit Blick auf einschlägige Lehrwerke und Kommentare. 2018 betrug der Anteil weiblicher Herausgeberinnen von Kommentaren gerade einmal 10,53 %. Der Anteil weiblicher Bearbeiterinnen in den Kommentaren betrug „immerhin“ 11,91 %. BIPoC sowie Personen außerhalb eines binären Geschlechtersystems tauchen in herausragenden Positionen an den Fakultäten ohnehin so gut wie gar nicht auf. Zu wem aber können junge Jurist*innen dann aufblicken? Etwa zu Professoren, die Studierende in ihren Seminaren darauf hinweisen, dass das Patriarchat längst überwunden sei und deshalb bereits volle Gleichberechtigung bestünde. Diese Erfahrung musste eine der Autorinnen im Wintersemesters 2020/2021 während eines Seminars an der Goethe Universität Frankfurt a. M. machen.
Einen bitteren Beigeschmack bekommen diese Erkenntnisse weiter, wenn unter anderem Frauen im juristischen Examen im Schnitt deutlich schlechter abschneiden als ihre männlichen Mitstudierenden.[10] In Bezug auf eine Prädikatsnote im ersten Examen haben Frauen relativ gesehen zu Männern eine etwa 17 % geringere Rate an solchen Noten.[11] Während der mündlichen Prüfung des zweiten Examens besteht für Frauen bei einer ausschließlich männlich besetzten Prüfungskommission eine 6,1 % geringere Wahrscheinlichkeit am oberen Ende der Notenskala (9,0 und 11,5 Punkte) die nächst höhere Schwelle zu erreichen.[12] In letzter Konsequenz kann diese Diskriminierung aufgrund der herausragenden Bedeutsamkeit der Examensnoten weitreichende Folgen für die gesamtgesellschaftliche Verteilung von Macht haben.
Recht als Herrschaftsinstrument
Wie die obigen Beispiele verdeutlichen, sind die Sachverhaltsdarstellungen in der juristischen Ausbildung überwiegend voll von (Geschlechter-)Stereotypen und Vorurteilen. Warum das problematisch ist, soll im Folgenden noch einmal genauer untersucht werden. Zunächst gilt es festzuhalten: Recht ist keine neutrale Instanz, die über der Gesellschaft schwebt, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Es ist ein gesellschaftsstrukturierendes Moment, das asymmetrische Herrschaftsverhältnisse und eine spezifische Wissensordnung festschreibt. Daraus folgt die zwingende Notwendigkeit, sich bereits im Studium kritisch mit dem Verhältnis von Recht und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Der Wissenschaftsrat, der Bund und Länder in Fragen der inhaltlichen und strukturellen Weiterentwicklung des Hochschulsystems berät, führt in einer Publikation über das rechtswissenschaftliche Studium aus dem Jahr 2012 aus, dass die „wissenschaftliche Reflexion und Kritik des Rechts […] für die Rechtspraxis wichtig”[13] seien. Die Auseinandersetzung mit (eigenen) Vorurteilen, ihrer Abbildung in Rechtstexten und ihrer Reproduktion in der Rechtspraxis verdeutlichen den Stellenwert außerrechtlicher Wertungen im vermeintlich objektiven Recht.[14] Denn das weit verbreitete Narrativ vom Recht als neutraler Instanz übersieht ungleiche Lebens- und Anwendungsrealitäten unterschiedlicher Personen. Um sich zu einer ,,kritisch ausgebildeten Persönlichkeit”[15] zu entwickeln, bedarf es deshalb insbesondere auch der Sensibilisierung für Ungleichheit und Diskriminierung innerhalb der Gesellschaft sowie die eigene Beteiligung als Rechtsakteur*in daran.[16]
Die Verwendung von Geschlechterstereotypen in juristischen Sachverhalten reproduziert und legitimiert patriarchale Machtstrukturen. Dadurch erfahren die Studierenden eine von Stereotypen und Vorurteilen geprägte juristische Sozialisation. Franziska Pabst und Vera Slupik befürchten, dass dies direkten Einfluss auf die spätere juristische Tätigkeit in Gestalt der Auswahl der entscheidungserheblichen Tatsachen bei der Bearbeitung von realen juristischen Sachverhalten hat.[17] Um dem entgegenzuwirken, sollte bereits im Studium die Umkehr von vorherrschenden Geschlechterstereotypen angestrebt werden, um so aktiv die Rolle als rechtsgestaltende und rechtsanwendende Person zu reflektieren. Dies allein reicht jedoch nicht aus, da die Stereotype nur auf Personen eines als binär verstandenen Geschlechtersystems bezogen sind. Um die tatsächliche Vielfältigkeit von geschlechtlichen Lebensrealitäten angemessen abbilden zu können, bedarf es deshalb einer umfassenden Genderkompetenz.
Mögliche Ausgestaltung einer Genderkompetenz
Wie eine solche Genderkompetenz ausgestaltet sein könnte, veranschaulicht ein vom Gleichstellungsreferat der juristischen Fakultät der Universität Hamburg erarbeiteter Leitfaden für gendergerechte Sprache in der juristischen Ausbildung. Dieser zeigt drei vielversprechende Strategien auf, anhand derer ein möglichst diskriminierungsfreier und gendergerechter juristischer Übungsfall geschaffen werden kann: Neutralisierung, bewusste Durchbrechung von Stereotypen und Vielfalt.[18] Die Sachverhalte können mithin erstens neutral gestaltet werden: Karikative oder dekorative Details, Eigenschaften oder Namen sollten weggelassen werden, da diese oft Stereotype reproduzieren (im obigen Beispiel: Die Nachnamen „Brüll” und „Niedlich“). Sofern Beziehungskonstellationen für eine Falllösung relevant sind, können diese z.B. geschlechtsneutral beschrieben werden („A und B führen eine Liebesbeziehung“). Zweitens kann durch die bewusste Umkehr von klassischen Rollenbildern auf bestehende patriarchale Strukturen aufmerksam gemacht und eine Möglichkeit zur kritischen Reflexion geboten werden (im obigen Beispiel: „Nora Brüll“ und „Berthold Niedlich“). Dies bietet sich vor allem bei der Verwendung von karikativen oder dekorativen Hinweisen an und stellt demnach eine Alternative zur Neutralisierung von Sachverhalten dar. Allerdings muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass eine bewusste Durchbrechung von Stereotypen nicht immer eine sinnvolle Vorgehensweise ist. Wenn es beispielsweise um Ausprägungsformen patriarchaler Gewalt geht, wie psychische oder physische Gewalt gegen FLINTA*, könnte eine Umkehr dieser Muster zu einer Verharmlosung oder auch Verzerrung der zugrundeliegenden Problematik führen. Als letzte Strategie für die Schaffung von diskriminierungsfreien Sachverhalten nennt der Hamburger Leitfaden Vielfalt: Die Fälle sollen so vielfältig und divers wie möglich ausgestaltet werden, insbesondere was die Abbildung von Lebensrealitäten und den geografischen Schauplatz des Geschehens betrifft. Hierbei würde es sich ebenfalls anbieten, vermehrt auf reale Fallkonstellationen aus der juristischen Praxis zurückzugreifen, die tatsächliche Lebensrealitäten bereits abbilden, statt Fallkonstellationen frei zu erfinden. Dadurch würden reale Diskriminierungsformen und Unterdrückungsmechanismen sichtbar gemacht und (künftige) Rechtsanwender*innen dafür sensibilisiert werden, dass Diskriminierung und Ungleichheit kein theoretisches Konstrukt, sondern real existierende Probleme sind, die ihnen in der juristischen Praxis begegnen (werden). Insgesamt bilden die von der Universität Hamburg entwickelten Gedanken einen sinnvollen ersten Ansatz zur Verringerung diskriminierender Sachverhalte in der juristischen Ausbildung.
Bestrebungen zur Schaffung einer Genderkompetenz
Neben der Gestaltung diskriminierungsarmer Sachverhalte wäre ebenfalls denkbar, die juristische Lehre um Schlüsselqualifikationskurse im Bereich Genderkompetenz oder auch Schwerpunktangebote zu Gender- und Diversitythemen zu ergänzen.[19] Aktuell sind solche Veranstaltungen oftmals nur freiwillige Zusatzangebote ohne besondere Anerkennung. Darüber hinaus wehren sich die verantwortlichen Stellen vielfach gegen solche Vorstöße. Es braucht insofern eine umfassende Debatte an den Fakultäten und institutionelle Unterstützung für solche Vorhaben. Mit Blick auf die Tatsache, dass die geschlechtliche Zusammensetzung der Prüfungskommission der staatlichen Pflichtfachprüfungen direkten Einfluss auf die Note der Prüflinge hat und die Partizipation von Prüferinnen wichtig für eine geschlechterneutrale Beurteilung ist, scheint eine diversere und vielfältigere Zusammensetzung von Prüfungskommissionen ebenfalls eine sinnvolle und notwendige Forderung.
Hinsichtlich der Umsetzung einer umfassenden Genderkompetenz in der juristischen Ausbildung lassen sich bereits einige erfreuliche Bestrebungen verzeichnen. Nach Abschluss der Hamburger Studie aus dem Jahr 2017 gründete das dortige Gleichstellungsreferat das Projekt S:TEREO mit dem Ziel, diskriminierungsfreie Lehrmaterialien zu erstellen und „diversitätssensibles Denken bei Lehrenden und Lernenden”[20] zu schaffen und zu verankern. Übungsfälle mit diskriminierendem Inhalt können dort anonym gemeldet werden. Anschließend setzen sich Mitarbeitende des Projekts mit dem Lehrstuhl in Verbindung, von dem der diskriminierende Sachverhalt stammt. Wünschenswert erschiene, ein entsprechendes Projekt an allen juristischen Fakultäten einzuführen und damit die Genderkompetenz aller Studierender zu fördern. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass sich vor allem feministisch interessierte Studierende sowie im Bereich der Genderkompetenz bereits geschulte Personen für die Umsetzung eines solchen Projekts bereit erklären würden. Obwohl die Expertise von Betroffenen für eine solche Bildungsarbeit äußerst wichtig und wertvoll ist und es deshalb sinnvoll erscheint, Expert*innen für solche Projekte zu gewinnen, stellt sich dennoch die Frage, ob die Bildungsarbeit nicht insgesamt fairer verteilt werden kann.
Diversität als Schwerpunkt
Eine Möglichkeit hierfür bietet der oben bereits erwähnte, vom Gleichstellungsreferat der Universität Hamburg erarbeitete Leitfaden, mit dessen Hilfe Lehrende ihre Fälle auf Geschlechterstereotype hin überprüfen und sich selbst für geschlechtergerechte Sprache sensibilisieren können. Obgleich diese Handreichung wieder durch die Arbeit von Expert*innen und vornehmlich Betroffenen entstanden ist, was bei der Festlegung von inhaltlichen Vorgaben auch äußerst sinnvoll erscheint, obliegt deren Umsetzung den Lehrenden. Dadurch kann zukünftig die Verantwortung für die Stärkung der Genderkompetenz der Studierenden in deren Hände gegeben werden. Solange die Umsetzung des Leitfadens aber nicht verbindlich ist und von den Urheber*innen kontrolliert wird, stellt sich allerdings die Frage, ob und inwiefern Lehrende tatsächlich Gebrauch davon machen werden. Auch die Goethe Universität (GU) in Frankfurt und die Freie Universität Berlin haben solche Leitfäden entwickelt. Allerdings fällt auf, dass der Leitfaden der GU ein besonderes Augenmerk auf die “Sichtbarkeit der Frauen“[21] legt, und deshalb viele der Anregungen vor allem auf ein binäres Geschlechtersystem und Heteronormativität ausgerichtet sind. Vier der fünf „Checkfragen“ des Leitfadens für eine als angemessen beschriebene Anpassung der Sachverhalte beschäftigen sich mit Geschlechterstereotypen im binären Geschlechtersystem und lediglich eine mit Diversität. Die Leitfäden aus Hamburg und Berlin sind im Vergleich deutlich gender- und diversitätssensibler. Zwar ist die Erstellung solcher Leitfäden ein guter und wichtiger Schritt in die richtige Richtung, dennoch sollten mehr als nur binär geschlechtlich geprägte Stereotype und Diskriminierungsmechanismen berücksichtigt werden.
Auch in der Politik wird das Thema Genderkompetenz bei Studierenden der Rechtswissenschaft aufgegriffen. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und Linken für die nächste Berliner Landesregierung wird eine breite Reformierung der juristischen Ausbildung angekündigt. Neben der Förderung einer kritischen Rechtswissenschaft und vertiefter Auseinandersetzung mit dem NS-Justiz-Unrecht wird auch eine „Diversity-Kompetenz“ und eine diskriminierungsfreie Ausbildung gefordert.[22] Welche Maßnahmen für die Erreichung der beiden letztgenannten Ziele schließlich ergriffen werden, bleibt abzuwarten.
Unerlässlichkeit einer Restrukturierung
Die vorangegangenen Aussagen haben gezeigt: Die juristische Ausbildung hat ein Sexismus-Problem. Obwohl bereits seit mindestens 40 Jahren zu Sexismus in der juristischen Ausbildung geforscht wird, wird der Notwendigkeit der Vermittlung von Genderkompetenz im Jurastudium bisher sehr wenig Bedeutung beigemessen. Trotz einiger guter Ansätze, eine solche Kompetenz bei Studierenden sowie Lehrenden zu entwickeln und zu fördern, ist diesbezüglich noch einiges zu tun. Um ein Umfeld zu schaffen, aus dem sich kritische, reflektierte und sensibilisierte Jurist*innen heraus entwickeln können, ist eine umfassende Restrukturierung der juristischen Ausbildung mit einem Schwerpunkt im Bereich Genderkompetenz notwendig. Bedeutsamkeit erlangt diese Notwendigkeit beispielsweise mit Blick auf das die juristische Ausbildung abschließende Staatsexamen. Die sich bis dahin durchziehende Diskriminierung kann wie angedeutet weitreichende Folgen für die gesamtgesellschaftliche Verteilung von Macht haben. Hier kann es angezeigt sein, der Frage nachzugehen, ob hinter all diesen Unzulänglichkeiten tiefergehende Absichten stecken, um patriarchale Strukturen weiter zu festigen. Ähnlich verhält es sich bei der Frage, ob es besondere Beweggründe dafür gibt, dass andere marginalisierte Gruppen so dargestellt werden, wie es aktuell der Fall ist. Nicht zu verleugnen ist jedenfalls, dass all diese verzerrten Darstellungen der Realität Einfluss darauf haben werden, wie angehende Jurist*innen diesen Gruppen in ihrem späteren Berufsfeld begegnen.[23]
Weiterführende Literatur:
Dana-Sophia Valentiner / Carolin Bilawa / Giulia Beeck / Laura Jacobs, (Geschlechter)Rollenstereotype in juristischen Ausbildungsfällen. Eine hamburgische Studie, 2017
Lucy Chebout / Selma Gather / Dana-Sophia Valentiner, Sexismus in der juristischen Ausbildung. Ein #Aufschrei dreier Nachwuchsjuristinnen, djbZ, 2016, 190
Franziska Pabst / Vera Slupik, Das Frauenbild im zivilrechtlichen Schulfall. Eine empirische Untersuchung, Zugleich ein Beitrag zur Kritik gegenwärtiger Rechtsdidaktik, Kritische Justiz, 1977, 242
[1] Fund auf dem Instagram-Kanal des Blogs “Juristenausbildung“, auf dem besonders sexistische oder misogyne Beispiele juristischer Lehrmaterialien öffentlich sichtbar gemacht werden, abrufbar: https://www.instagram.com/juristenausbildung/, dieser sowie alle nachfolgenden Links zuletzt abgerufen am: 12.01.2022.
[2] Winfried Schwabe, Lernen mit Fällen. Vermögensdelikte, 12. Auflage 2020, 145.
[3] Vgl. Chebout / Gather / Valentiner Zeitschrift des Deutschen Juristinnenbundes (djbZ) 2016, 190 (192).
[4] Vgl. Ursula Athenstaedt / Dorothee Alfermann, Geschlechterrollen und ihre Folgen, 2011, 55.
[5] Vgl. z.B. Helmut Köhler, BGB Allgemeiner Teil: ein Studienbuch, 45. Auflage 2021, § 6 Rn. 16.
[6] Vgl. zu folgenden Ausführungen Valentiner / Bilawa / Beeck / Jacobs 2017, 20 ff.
[7] Vgl. Chebout / Gather / Valentiner 2016, 190 (190).
[8] Vgl. zu folgenden Ausführungen Pabst /Slupik 1977, 242.
[9] Vgl. zu folgenden Ausführungen Ute Sacksofsky / Carolin Stix, Daten und Fakten zur Repräsentanz von Frauen in der Rechtswissenschaft, 3. bereinigte Fassung 2018, 6ff.
[10] Vgl. z.B. Andreas Glöckner / Emanuel Towfigh / Christian Traxler, Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten Examen – Eine empirische Analyse, Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft 2014.
[11] Vgl. Andreas Glöckner / Emanuel Towfigh / Christian Traxler, Empirische Untersuchung zur Benotung in der staatlichen Pflichtfachprüfung in der zweiten juristischen Staatsprüfung in Nordrhein-Westfalen von 2006 bis 2016, Projektbericht für das Justizministerium NRW, 2017, 12.
[12] Ebd., 19f.
[13] Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen (Drs. 2558-12), 2012, 33.
[14] Vgl. Valentiner / Bilawa / Beeck / Jacobs 2017 17.
[15] Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland. Situation, Analysen, Empfehlungen (Drs. 2558-12), 2012, 56.
[16] Vgl. Valentiner / Bilawa / Beeck / Jacobs 2017, 17.
[17] Vgl. Pabst / Slupik 1977, 242 (247).
[18] Vgl. Handreichung Geschlechtergerechte Sprache in Juristischen Ausbildungsmaterialien der Universität Hamburg, 5-6, abrufbar: https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/gremien-beauftragte/gleichstellungsbeauftragte/pdf/endfassung-leitfaden-geschlechtergerechte-sprache.pdf.
[19] Vgl. zu folgenden Ausführungen Chebout/ Gather / Valentiner 2016, 190 (192 f.).
[20] Projektbeschreibung S:TEREO, abrufbar: https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/gremien-beauftragte/gleichstellungsbeauftragte/gleichstellungsplan/geschlechtergerechte-sprache.html.
[21] Geschlechtsneutrale Fallgestaltung Hinweise des Gleichstellungsrats FB 01 Frankfurt, abrufbar: https://www.jura.uni-frankfurt.de/68282135/Handreichung-geschlechtsneutrale-Fallgestaltung-_2_.pdf.
[22] Vgl. Entwurf zur Beschlussfassung des Koalitionsvertrages 2021–2026, 88, abrufbar: https://spd.berlin/media/2021/11/Koalitionsvertrag-Zukunftshauptstadt-Berlin.pdf.
[23] Vgl.Chebout / Gather / Valentiner djbZ 2016, 190 (190).