Identitätsfeststellungen, Datenabfragen, Durchsuchungen und das Verbringen auf die polizeiliche Dienststelle – das ist für einige Menschen in Deutschland zum Alltag geworden, nur weil sie über bestimmte Straßen laufen oder sich in bestimmten Parks aufhalten. Doch sind diese Grundrechtseingriffe verfassungskonform? Insbesondere in Baden-Württemberg spricht vieles dagegen.
Verdachtsunabhängige Identitätsfeststellungen und das sich daran anschließende Maßnahmenbündel werden durch die polizeirechtliche Konstruktion der sogenannten gefährlichen Orte ermöglicht. Aufgrund der jeweiligen Ermächtigungsgrundlagen in den Landespolizeigesetzen kann die Polizei solche Orte festlegen und dort die beschriebenen Maßnahmen ausführen. Der bloße Aufenthalt an einem entsprechenden Ort genügt für die polizeilichen Maßnahmen – die Betroffenen müssen nicht durch ihr Verhalten dazu Anlass geben. Dabei ist auch nach vielen Jahren dieser alltäglichen Praxis nicht nur die politische Sinnhaftigkeit verdachtsunabhängiger Personenkontrollen, sondern auch ihre Verfassungsmäßigkeit weiterhin äußerst fragwürdig und daher sowohl in Rechtswissenschaft als auch Rechtsprechung umstritten.
Auf dem noch langen Weg zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit von verdachtsunabhängigen Kontrollen hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) Hamburg im Jahr 2015 einen ersten Schritt gemacht: In seinem ausführlich begründeten Urteil vom 13. Mai 2015[1] hat es sich mit der Verfassungsmäßigkeit verdachtsunabhängiger Kontrollen in Hamburg befasst und festgestellt, dass die entsprechende Ermächtigungsgrundlage in § 4 Abs. 2 S. 1 Hamburgisches Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei (HmbPolDVG), alte Fassung, gegen den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz verstößt und unverhältnismäßig in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) eingreift. Da die dortigen Maßnahmen auch im Einzelfall rechtswidrig waren und die Verfassungsmäßigkeit der Norm daher nicht entscheidungserheblich war, konnte das Gericht die Ermächtigungsgrundlage allerdings nicht zur konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorlegen. Nach dem Urteil passte der hamburgische Gesetzgeber die Norm an die Vorgaben des OVG Hamburg an, sodass nun „Tatsachen“ statt „konkrete Lageerkenntnisse“ die erhöhte Kriminalitätsbelastung bestätigen müssen und eine räumliche Begrenzung auf einen „Ort“ statt ein „Gebiet“ eingeführt wurde. Erst aufgrund dieser Nachbesserungen kam das OVG Hamburg nun mit Urteil vom 19. Januar 2022[2] zu der Ansicht, dass die Ermächtigungsgrundlage verfassungsgemäß sei.
Genau diese Nachbesserungen fehlen allerdings in einigen Bundesländern – in besonders auffälliger Weise in Baden-Württemberg. Die dortige Ermächtigungsgrundlage für verdachtsunabhängige Kontrollen an sogenannten gefährlichen Orten, § 27 Abs. 1 Nr. 3 Polizeigesetz Baden-Württemberg (PolG BW), überlässt der Polizei im bundesweiten Vergleich die größten Handlungsspielräume und ist damit deutlich unbestimmter als ihr hamburgisches Pendant. Daher muss der vom OVG Hamburg festgestellte Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip erst recht für § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW gelten.
Gefahrenvorfeld, Streubreite und Anlasslosigkeit
Zunächst verstößt § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW gegen das Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten abgeleitete Bestimmtheitsgebot soll erstens sicherstellen, dass die betroffenen Bürger*innen sich auf belastende Maßnahmen wie zum Beispiel Maßnahmen der Polizei einstellen können. Zweitens gewährleistet es, dass die Verwaltung steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet, damit die Entscheidung über die Grenzen der Freiheit der Bürger*innen nicht einseitig in das Ermessen der Verwaltung gestellt ist, sondern der unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber darüber entscheidet. Durch das Bestimmtheitsgebot soll drittens sichergestellt werden, dass die Gerichte die Rechtskontrolle effektiv durchführen können, sie also anhand von gesetzlich festgelegten Voraussetzungen die Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung überprüfen können. Der Anlass, der Zweck und die Grenzen eines im Gesetz vorgesehenen Eingriffs müssen in der Ermächtigung präzise festgelegt werden.[3]
Dabei gilt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG bei Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein besonders strenger Maßstab des Bestimmtheitsgebots.[4] Dies beruht zum einen darauf, dass Maßnahmen wie die Identitätsfeststellung oder die Durchsuchung eine erhebliche Eingriffsintensität aufweisen können. Im Gegensatz dazu berechtigt § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW zur Durchführung sogenannter Vorfeldmaßnahmen, die keine konkrete Gefahrenlage voraussetzen. Die Norm knüpft also an keine der herkömmlichen Gefahrenstufen des Polizeirechts an. Gefahr im polizeirechtlichen Sinne meint, dass die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden an einem polizeilichen Schutzgut eintreten wird. Im Falle des § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW müssen dagegen nicht einmal Anhaltspunkte bestehen, die auf eine Gefahr hindeuten. Die anlasslose Kontrollbefugnis erfolgt damit im frühestmöglichen Zeitpunkt für die Vornahme eines polizeilichen Eingriffs – sogar bevor ein bloßer Gefahrenverdacht besteht. Auch vom Erfordernis der individuellen Verantwortlichkeit für eine konkrete Gefahrensituation wird abgesehen. Ein durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht, dass Betroffene für eine Gefahrensituation verantwortlich sind, wird nicht vorausgesetzt. Die vorgesehenen Maßnahmen weisen dadurch eine erhebliche Streubreite auf. Zahlreiche Personen können in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen werden, die in keiner Beziehung zu einem konkreten Fehlverhalten stehen, den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben und daher nicht Störer*innen im polizeirechtlichen Sinne sind.
Polizeiliche Erfahrungen als einziger Maßstab
Den besonders strengen Anforderungen des Bestimmtheitsgebots kann § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW nicht genügen. Als problematisch erweist sich insbesondere das Tatbestandsmerkmal „erfahrungsgemäß“. Die einzige Voraussetzung für polizeiliche Maßnahmen nach dieser Norm ist nämlich, dass am jeweiligen Ort „erfahrungsgemäß Straftäter […] sich verbergen, Personen Straftaten […] verüben“ etc. Die Formulierung impliziert, dass die Polizei die gebotene Prognoseentscheidung über die zukünftige Begehung von Straftaten an den Orten allein anhand von Erfahrungswissen trifft. Dadurch ist sie ermächtigt, anlasslos zu kontrollieren, ohne dabei durch eine konkrete Tatsachenlage legitimiert zu sein. Der Begriff „erfahrungsgemäß“, der jede für geeignet gehaltene Information erfasst und maßgeblich auf polizeiliche Einschätzungen abstellt, macht die subjektive polizeiliche Lagebeurteilung zum einzigen Maßstab für einen Rechtseingriff. Sind nur „Erfahrungen“ maßgeblich, können weder Menschen an den jeweiligen Orten ihr Verhalten so anpassen, dass sie nicht einer Kontrolle unterworfen werden, noch können die Gerichte die Rechtmäßigkeit polizeilicher Maßnahmen effektiv prüfen. Schließlich überlässt es der Landesgesetzgeber allein der Exekutive, über die Kriterien zur Durchführung verdachtsunabhängiger Kontrollen zu entscheiden. Die Norm verfehlt somit alle drei Ziele des Bestimmtheitsgebots, deren Erreichen das Rechtsstaatsprinzip allerdings ausnahmslos verlangt. Das OVG Hamburg hielt 2015 das Erfordernis „konkreter Lageerkenntnisse“ in § 4 HmbPolDVG a.F. für zu unbestimmt, da es ihm an „handlungsbegrenzenden Tatbestandselementen“ fehle, welche einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit schafften.[5] Solche „Lageerkenntnisse“ würden sich auf (Be-)Wertungen beziehen, welche nicht mit Tatsachen gleichgesetzt werden könnten. Dies muss erst recht für das Merkmal „erfahrungsgemäß“ des § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW gelten.
Aus der Unbestimmtheit des Merkmals folgt auch, dass die Regelung zum Einfallstor für Racial Profiling wird. Müssen Maßnahmen nicht an ein besonderes Verhalten geknüpft werden, sondern reichen polizeiliche Erfahrungen aus, ist es den Beamt*innen überlassen, wen sie wann kontrollieren. Dabei ist dieses polizeiliche Erfahrungswissen eben nicht objektiv, sondern stets subjektiv und ideologisch beeinflusst. Wie in ganz Deutschland zu beobachten ist, führt dies dazu, dass bestimmte Personengruppen aufgrund äußerlicher Merkmale weit überdurchschnittlich häufig kontrolliert werden. Genau diese Ungleichbehandlung einer Person oder Personengruppe durch die Polizei, indem ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Verdacht das äußere Erscheinungsbild als Entscheidungsgrundlage für die Kontrolle herangezogen wird[6], ist mit dem Begriff Racial Profiling gemeint.
Jahrzehntelanger Ausnahmezustand zur Bekämpfung von Bagatelldelikten
Ferner kann die Polizei gem. § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW mangels zeitlicher Begrenzung einen bestimmten Ort für mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte zum „gefährlichen Ort“ erklären. Dies entspricht auch der polizeilichen Praxis unter anderem in Baden-Württemberg, sodass ein polizeirechtlicher „Ausnahmezustand“ dauerhaft verhängt wird, ohne dass dies durch eine entsprechende gesetzgeberische Entscheidung gedeckt ist.
Schließlich ergibt sich die erhebliche Unbestimmtheit der Vorschrift daraus, dass die Vorschrift keinerlei Beschränkungen auf Straftaten von erheblicher Bedeutung wie zum Beispiel der gefährlichen Körperverletzung oder der Sexualstraftaten enthält (anders ist das etwa in Berlin nach § 21 Abs. 2 Nr. 1a Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz Berlin). Somit enthält der Tatbestand auch bezüglich seiner Schutzgüter keinerlei Beschränkungen, welche die schwerwiegenden Auswirkungen auf die Grundrechtsausübung der Betroffenen rechtfertigen können. Im Umkehrschluss zur allgemeinen Definition von „Straftaten von erheblicher Bedeutung“[7] reichen zur Ausweisung eines „gefährlichen Ortes“ nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW auch solche Straftaten, die keine Gefahr für die Allgemeinheit begründen und die Rechtssicherheit der Bevölkerung nur geringfügig beeinträchtigen. Darunter fallen zum Beispiel die sogenannten „opferlosen Delikte“ wie der Besitz geringer Mengen an Cannabis.
Aus den genannten Gründen verstößt § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW also zunächst gegen das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit und ist somit verfassungswidrig. Darüber hinaus begründet § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.
„Gefährliche Orte“ als selbsterfüllende Prophezeiung
Schon die Geeignetheit verdachtsunabhängiger Identitätsfeststellungen zur Verhinderung und Aufklärung von Straftaten konnte noch immer nicht empirisch belegt werden und wird daher in Politik- und Rechtswissenschaft bezweifelt. Insgesamt ist feststellbar, dass die Erfolgsquoten sehr gering sind.[8] Tatsächliche Erfolge können oftmals nur das Resultat von Zufallsfunden sein, die vor allem mit der verstärkten Kontrolltätigkeit der Polizei an dem Ort in Zusammenhang stehen (sogenanntes Lüchow-Dannenberg-Syndrom). Die Einstufung als „gefährlicher Ort“ wird daher von sozialwissenschaftlicher Seite aus als „soziale Konstruktion“ kritisiert.[9] Die Festlegung eines „gefährlichen Ortes“ funktioniere häufig als selbsterfüllende Prophezeiung, denn sobald die Polizei einen Ort als gefährlich eingestuft habe, führe dies in der Regel auch zu mehr polizeilichen Kontrollen. Dies produziere höhere Trefferquoten und höhere Fallzahlen, was sich in der Kriminalitätsstatistik niederschlage. Das wiederum bestätigt die Annahme, der Ort sei gefährlich. Ob dabei tatsächlich die Verhütung von Straftaten gelingt, die das eigentliche Ziel der Kontrollen sein muss, ist unklar.[10]
Doch selbst unter der Annahme, der Eingriff sei zur Gefahrenabwehr geeignet, ist die Norm nicht angemessen. Dafür verlangt das Grundgesetz vom Gesetzgeber, eine angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Dabei muss eine Abwägung zwischen der Schwere der Eingriffe und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit, der sie rechtfertigenden Gründe vorgenommen werden. Bei der Schwere der Eingriffe gilt es insbesondere die Ausgestaltung der Eingriffsschwellen, die Zahl der Betroffenen und die Intensität der Beeinträchtigung zu bedenken. Je stärker die Vorschriften in die Grundrechte eingreifen, desto schwerer muss der mit ihnen verfolgte Zweck wiegen.
Auf der einen Seite steht ein äußerst gewichtiger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das heißt das Recht des Einzelnen, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen. Dies folgt in Einklang mit dem BVerfG zunächst aus der Anlasslosigkeit der Kontrollen, ihrer großen Streubreite und dem fehlenden Zurechnungszusammenhang im Sinne einer Nähe des Betroffenen zur Gefahr.[11] Der Grundrechtseingriff wird durch die abschreckende Wirkung („chilling effect“), die Risiken des Missbrauchs sowie des Gefühls des Überwachtwerdens intensiviert.
Gesteigert wird die Eingriffsintensität der anlasslosen Kontrollbefugnis durch die vorgesehenen zulässigen Folgemaßnahmen. Das sind neben dem Datenabgleich etwa das Festhalten, die Personen- und Sachdurchsuchung sowie das Verbringen zur Dienststelle und der Identitätsgewahrsam. Diese Folgemaßnahmen vertiefen nicht nur den Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern konstituieren überdies auch Eingriffe in weitere Grundrechte, wie etwa die Freiheit der Person.
Bereits dem Zweck nach auf Diskriminierung ausgelegt
Verdachtsunabhängige Personenkontrollen entfalten überdies stigmatisierende und diskriminierende Wirkung, da sie sowohl der betroffenen Person selbst als auch Außenstehenden das Gefühl vermitteln, der Angehaltene habe sich gesetzeswidrig verhalten. Nicht alle Personen werden am sogenannten gefährlichen Ort kontrolliert und sollen nach dem Normverständnis des Gesetzgebers auch nicht kontrolliert werden. Stattdessen sollen nur solche Personen kontrolliert werden, bei denen die Kontrolle die Möglichkeit eines „Treffers“ gewährt. Dieses auf bestimmte Personengruppen zugeschnittene Kontrollkonzept führt dazu, dass mit jeder Kontrolle am Gefahrenort eine stigmatisierende Wirkung verbunden ist. Denn bereits durch die Auswahl einer Person wird zum Ausdruck gebracht, dass dieser Person in gesteigertem Maße zugetraut wird, sie könnte eine Straftat begehen.
Selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die Vorschrift objektive Anhaltspunkte fordert, um die Streubreite des Eingriffs einzugrenzen, enthält die Norm eine Tendenz, gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 GG zu verstoßen. Da auffällige Verhaltensweisen zumindest aus Sicht der Polizei in der Regel bereits eine konkrete Gefahr begründen und daher nach § 27 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW erfolgen, bleiben im Rahmen des § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW fast nur Kriterien, die an das äußere Erscheinungsbild anknüpfen. Äußere Merkmale scheiden aber regelmäßig wegen Art. 3 Abs. 3 GG aus. Danach sind Maßnahmen, die an äußere Merkmale anknüpfen, nur bei gleichrangigen Schutzgütern und nach strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig, nicht aber zum Beispiel zur Bekämpfung von Bagatelldelikten. Das Anknüpfen der polizeilichen Maßnahme etwa an die Hautfarbe stellt die betroffene Person in einen kriminellen Zusammenhang. Diese Bloßstellung und Diskriminierung rassifizierter Personen tragen zu einer Perpetuierung verbreiteter rassistischer Stereotype bei. So können auch bei unbeteiligten Passant*innen bestehende rassistische Vorannahmen aktualisiert und verfestigt werden. Das polizeiliche Vorgehen suggeriert, die Person habe aufgrund ihres Verhaltens Anlass zum Einschreiten der Polizei gegeben. Für Maßnahmen an Gefahrenorten bestehen demnach erhöhte praktische Gefahren willkürlichen und diskriminierenden Handelns. Die Norm ist bereits ihrem Zweck nach auf Diskriminierung ausgelegt.
„Dann klag doch!“
Zwar ermutigt die beschriebene rechtliche Lage zur Ergreifung des Rechtswegs gegen Maßnahmen nach § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW, doch ist dieser tatsächlich wenig effektiv. Zunächst stehen den Betroffenen häufig Hindernisse wie insbesondere die vorzustreckenden Gerichts- und Rechtsberatungskosten im Weg. Zwar ist die Beantragung von Prozesskostenhilfe möglich, allerdings mit erheblichem Aufwand und möglichen späteren Rückzahlungen verbunden. Zudem sind Menschen mit laufendem Asylverfahren und unsicherem Aufenthaltsstatus in einer besonders vulnerablen Position und werden in der Regel davon absehen, gegen den Staat zu klagen. Auch die verschwindend geringen Erfolgschancen schrecken vor einer Klageerhebung gegen die Polizei ab.
Zu diesen Hindernissen kommt hinzu, dass die Kontrollen häufig bereits im Einzelfall rechtswidrig sind, sodass eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG mangels Entscheidungserheblichkeit in aller Regel ausscheidet. Daher ist es für den Einzelnen fast unmöglich, grundsätzlich und nicht nur in Einzelfällen gegen die Maßnahmen vorzugehen. Zu der eigentlichen rechtlichen Problematik kommt also ein erhebliches Problem der Rechtsdurchsetzung hinzu.
Aufgrund dieser Hürden wird trotz der sich aufdrängenden Unzulässigkeit dieser Maßnahmen nur äußerst selten geklagt. Obwohl täglich unzählige verdachtsunabhängige Kontrollen stattfinden, konnte das BVerfG noch immer nicht die Verfassungswidrigkeit der Normen feststellen. Nur so könnten jedoch – losgelöst von Einzelfällen – die Verfassungsmäßigkeit verdachtsunabhängiger Kontrollen überprüft und strukturelle Veränderungen herbeigeführt werden. Die gerichtliche Kontrolle potenziell verfassungswidriger Gesetze ist zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und für einen effektiven Grundrechtsschutz unerlässlich, insbesondere aufgrund der mangelnden kritischen Reflektion bei Polizei und Gesetzgeber über Nutzen und Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen und Gesetze.
Es wäre ein wichtiges und deutliches Signal, wenn weiter gegen verdachtsunabhängige Kontrollen geklagt wird, bis eine Vorlage zum BVerfG oder eine Verfassungsbeschwerde erreicht wird. Dann könnte das BVerfG grundlegend zu dem Thema Stellung beziehen und in Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung zum Bestimmtheitsgebot und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zumindest § 27 Abs. 1 Nr. 3 PolG BW für verfassungswidrig erklären. In einem Rechtsstaat ist es unerträglich, dass auf Basis einer verfassungswidrigen Rechtsgrundlage täglich Grundrechte verletzt werden.
Weiterführende Literatur:
Carolyn Tomerius, „Gefährliche Orte“ im Polizeirecht – Straftatenverhütung als Freibrief für polizeiliche Kontrollen? Eine Beurteilung aus verfassungs- und polizeirechtlicher Perspektive, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 2017, 1399.
Maren Burkhardt / Cengiz Barskanmaz, Verfassungsrechtliche Bewertung der Vorschrift des § 21 Abs. 2 Nr. 1 des Allgemeinen Gesetzes zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin – das Konzept der „kriminalitätsbelasteten Orte“, 2019.
Peter Ullrich / Marco Tullney, Die Konstruktion „gefährlicher Orte“. Eine Problematisierung mit Beispielen aus Berlin und Leipzig, sozialraum.de. 2/2012, https://www.sozialraum.de/die-konstruktion-gefaehrlicher-orte.php.
[1] OVG Hamburg, Urteil vom 13.05.2015 – 4 Bf 226/12, NVwR-RR 2015, 695.
[2] OVG Hamburg, Urteil vom 19.01.2022 – 4 Bf 10/21.
[3] BVerfG, Urteil vom 27.07.2005 – 1 BvR 668/04.
[4] BVerfGE 113, 348 (375 ff.); BverfGE 120, 378 (407 f.); BVerfGE 141, 220 (265 Rn. 94).
[5] OVG Hamburg, Urteil vom 13.05.2015 – 4 Bf 226/12, NVwZ-RR 2015, 695, 697.
[6] Daniela Hunold / Maren Wegner, Rassismus und Polizei: Zum Stand der Forschung, Aus Politik und Zeitgeschichte 2020, 27-32 (29 f.), https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/antirassismus-2020/316766/rassismus-und-polizei-zum-stand-der-forschung/#footnote-target-22 (Stand aller Links: 20.07.2022).
[7] BVerfG, Urteil vom 24.07.2013 – 2 BvR 298/12, Rn. 21.
[8] Susanne Graf, Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen, 2004, 117 f.
[9] Peter Ullrich / Marco Tullney, sozialraum.de 2/2012; Bernd Belina / Jan Wehrheim, „Gefahrengebiete“: durch die Abstraktion vom Sozialen zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen. Soziale Probleme 2011 (2), 207-229 (207 ff.), https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168- ssoar-364686.
[10] Siehe etwa Carolyn Tomerius, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl) 2017, 1401; Bernd Belina / Jan Wehrheim (Fn. 9), 7.
[11] Vgl. BVerfG, Urteil vom 24.04.2013 – 1 BvR 1215/07.
[vorab online, Bearbeitungsstand: 23.07.2023]