„Solidarität mit der Ukraine“ statt mit den Menschen in der Ukraine, ist die prominente Losung, die mit fürsorglichen, tatsächlich verbrannten Mäntelchen der „Solidarität“ Gelegenheit bietet, den hiesigen, gestern noch etwas verschämten Nationalismus unterzumischen. „Was wir für unser Land tun können“ oder „Ein Herz für die Bundeswehr“ titelt nicht nur die FAS als Wort zum Sonntag, auch in anderen sogenannten Qualitätsblättern ist man nicht darum verlegen, über die bevorstehende Wiederbelebung des deutschen Militärs zu frohlocken. Etwas verschämter befindet demgegenüber die Jungle-World, dass „Krieg“ und „das Militärische“ für „die Linke“ ein „unangenehmes“, ja sogar „schwieriges Thema“ sei. Es entbehrt nicht des performativen Widerspruchs, wenn der „Komplex“ in gerade mal zwei Sätzen abgehandelt wird, indem der mit unbequemen Fragen und Analysen Auftrumpfende den Friedensbewegten ihre himmelschreiende Bequemlichkeit und Naivität vorhält.
Zur Aktualität der Auseinandersetzung mit der Gewalt gibt es wohl nicht mehr als ein paar unverfänglichen Plattitüden mit einer fix selbstreinigenden Meinungsäußerung als Finale zu verlieren: Immerhin glänzt man dabei als tugendhafter Demokrat, der einen der vielen Diskurse bedient. Bequem sind schließlich immer nur die anderen. Bescheiden, wie es sich für den Vertreter der Sittlichkeit ziemt, trägt er weder Verantwortung an der Gewalt(re)produktion, noch möchte er sich als Sprachrohr des in solchen Fragen zuständigen amorphen Kollektivs der sogenannten Linken aufspielen. Allein perpetuieren derlei turnusmäßige Empörungs- und Ergriffenheitsäußerungen zu den bald naturhaft erscheinenden Gewaltakten von Menschen über Menschen die vermeintliche Hilflosigkeit.
Jene Gewaltakte bieten traurige aber ernstzunehmende Gelegenheit, sich mit der persönlichen Gewalterfahrung und -reproduktion auseinanderzusetzen, was dem Individuum kein Kollektiv der Welt abnehmen kann. Für die materialistische Kritik ist die Einsicht in die Sinnlosigkeit eines intentional zugefügten Schmerzes Ausgangspunkt für die Suche nach einem potenziellen Ausweg in einen wahrhaft menschlichen Zustand eintreten zu können. „Weh spricht: vergeh“ wird Nietzsche (Also sprach Zarathustra, S. 272) von Adorno zitiert (GS 6, S. 203): wer Schmerzen leidet, erlangt unmittelbar-idiosynkratisch die Einsicht, dass das sinnlose Leiden nur in der Welt ist, um seine Abschaffung zu fordern. Solche idiosynkratischen Erfahrungen und Einsichten erlangen dadurch Gewicht, dass sie an die Herkunft des Menschen, die Natur im Menschen erinnern und so die verdinglichte Trennung von Mensch als Subjekt und der Natur als Objekt sich als Trug entlarven lässt.: „Zeichen der Gefahr, bei deren Laut das Haar sich sträubte und das Herz stillstand. In der Idiosynkrasie entziehen sich einzelne Organe wieder der Herrschaft des Subjekts; selbständig gehorchen sie biologisch fundamentalen Reizen. Für Augenblicke vollziehen sie die Angleichung an die umgebende unbewegte Natur“ (Horkheimer GS 5, S. 209). Der Grund, weshalb im hiesigen Rechtstaat die intendierte Zufügung sinnlosen Leidens als rational erscheint, ist die beachtliche Leistung eines Abspaltungs- und Verdrängungszusammenhangs zugerichteter Subjekte. Es ist aber keineswegs so, dass die Rationalisierung des Irrationalen schlicht ein unaufhaltsamer biologischer Prozess ist, für den niemand verantwortlich wäre. Eine Kritik des Rechts, die eine Kritik der Gewalt impliziert, begreift das Recht als Urphänomen irrationaler Rationalität (Adorno GS 6, 304) samt der zugehörigen Abwehrmechanismen der sinnlos gewaltausübenden Individuen und zielt dabei endlich auf das Absterben des Rechts.
In diesem Sinne hat Eugen Paschukanis vor hundert Jahren eine Formkritik des Rechts geleistet, an die angeknüpft werden kann. Im Kapitel „Recht und Rechtsbruch“ seiner Allgemeinen Rechtslehre greift Paschukanis das Thema mit der Beobachtung des gewaltsamen Kampfes ums Dasein im Tierreich auf. Üblicherweise reagiere das angegriffene Tier in unmittelbar-zeitlich-räumlichen Zusammenhang mit der seinerseits gewaltsamen Verteidigung, der Notwehr. Der Notwehrakt des zuerst als Opfer erkorenen Tiers ist auf die Minderung seines sinnlosen Leidens gerichtet und insoweit rationale Reaktion auf den irrationalen Angriff. Weiter ließen andersartige Fälle beobachten, wobei eine unmittelbare Reaktion zunächst ausbleibt, der Angriff aber gleichwohl Anlass für einen Gegenangriff des vormaligen Opfers bietet, das auf eine für dieses in zeitlicher und örtlicher Hinsicht günstigeren Gelegenheit wartet. „Die Notwehr wird hier zur Rache […]“ (Paschukanis, S. 152). Mithin befände sich die Logik der Vergeltung im Sinne der jahrtausendealten Blutrache unter den Menschen auf dem Niveau des Tierreichs: Es gilt das Recht des Stärkeren.
Der für die heutigen Verhältnisse entscheidende Rationalisierungsschritt und Formenwandel der Gewaltpraxis liege allerdings erst in der Einführung der Strafe, deren Motiv es sei, den Rechtsbruch zu vergelten, wohingegen sich die Vergeltung iSd Blutrache unmittelbar auf das Erlittene beziehe. Zu diesem Prinzip des Rechtsbruchs der Strafe sei nun der Verhältnismäßigkeitsgedanke des Talionsprinzip getreten, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als „neben der Rache das System der Kompositionen oder des Sühnegelds sich einzubürgern beginnt […]. Die Idee des Äquivalents, diese erste rein juristische Idee, hat wiederum ihre Quelle in der Warenform. […]“ (Ebd., S. 151 ff.).
Mag zwar die Gewalt des mit dem Kapital gleichursprünglichen Staats hierzulande ein ganz anderes Ausmaß haben, als es die Menschen in der Ukraine aktuell erleiden: eben drum darf man sich hierzulande genötigt sehen, nicht zur moralischen Verurteilung zu verharren, die in der akuten Verteidigung der Gewaltopfer Irrationalität wähnen: die Kritik ist gegen das eigene Potential zur bewusstlosen Gewaltreproduktion zu wenden. Darin liegt die Unbequemlichkeit der Kritik, die freilich nicht die physische Nothilfe ersetzt. [OH]