Persönliche Mobilität ist eine essenzielle Voraussetzung für die selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens und der vielzitierten Teilhabe aller Menschen an der Gesamtgesellschaft. Warum barrierefreie Mobilität einen komplexen Aushandlungsprozess voraussetzt und welche Rolle Disability Mainstreaming hierbei spielt, beschriebt dieser Artikel.
Bis zum 01.01.2022 sollte der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Deutschland „vollständig barrierefrei“ sein. So sah es zumindest das 2013 novellierte Personenbeförderungsgesetz (PBefG) vor, das bezweckte, Mobilitäts- und sensorische Einschränkungen im ÖPNV abzubauen.[1] Das dieses Ziel verfehlt wurde, ist mehr als offensichtlich: Keine vorhandenen oder funktionierenden Fahrstühle an Nahverkehrsbahnhöfen, mangelnde Rampen in Stadtbussen oder ausschließlich visuell wahrnehmbare Fahrpläne. Die neue Bundesregierung hat die Frist für die Umsetzung des PBefG nun erstmal auf 2026 verschoben.[2]
Selbstbestimmte Mobilität als Grundbedürfnis
Dabei ist Mobilität ein Grundbedürfnis jedes Einzelnen. Sie ist realisierte Fortbewegung. Die Mobilitätschancen einer Person haben entscheidenden Einfluss auf die persönliche, soziale und berufliche Lebenswelt und damit die Gestaltung der eigenen Existenz. Die Mobilität einer Person kann dabei vielfältige Ausdrucksformen annehmen: Es kann bedeuten, sich zu Fuß oder mittels Mobilitätshilfen wie etwa einem Rollstuhl fortzubewegen. Oder auch mit Individual- oder öffentlichen Verkehrsmitteln wie einem Auto oder dem Stadtbus an das gewollte Ziel zu kommen. Dabei hängt persönliche Mobilität nicht nur davon ab, ob man sich fortbewegen will, sondern erst die Wechselwirkung von individuellen, sozialen, infrastrukturellen oder rechtlichen Faktoren bestimmt, ob und wie Menschen sich fortbewegen können. Nicht wenige Menschen treffen bei der Umsetzung ihres Mobilitätswillens auf Hindernisse in ihrer Umwelt, die dazu führen, dass sie nicht autonom entscheiden können, ob und wie sie physisch an das gewollte Ziel kommen. Von solchen unzureichenden Mobilitätschancen betroffen sind nicht nur und auch nicht alle Menschen mit Behinderung.[3] Jedoch werden diese oft dauerhaft durch die Gestaltung ihrer Umwelt in ihrer Lebensgestaltung eingeschränkt. Selbst wenn konkrete Angebote zur Überwindung von Hindernissen gemacht werden, wie z.B. im Rahmen der Mobilitätsservices der Deutsche Bahn AG, können diese oftmals nur mit erheblich gesteigertem Koordinierungsaufwand für die einzelne Person ihren Zweck erfüllen. Die Betroffenen müssen sich in so einem Fall ironischerweise ein Stück individuelle Autonomie durch eine gesteigerte Abhängigkeit von anderen Menschen erkaufen.
Selbstbestimmung und Autonomie sind seit den 1980er Jahren zu einem zentralen Anliegen einer modernen Behindertenpolitik in Europa geworden.[4] Das gesamte Politikfeld der Sozialstaatlichkeit erlebte damals einen oft als Paradigmenwechsel bezeichneten Wandel. Bezogen auf Behindertenpolitik wollte man den fürsorgenden und potenziell bevormundenden Staat, der Menschen mit Behinderung als medizinisch-defizitär begreift und vordergründig versucht, den „Nachteil Behinderung“ auszugleichen, den Ideen von Selbstbestimmung und Autonomie anpassen. Ziel des modernen Sozialstaats sollte es von nun an sein, Menschen mit und ohne Behinderung auf Grundlage der eigenen Selbstbestimmung die gleichen Chancen und die gleiche Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen. Behinderungen sollen dabei als Bereicherung der menschlichen Vielfalt und nicht mehr als nachteilig begriffen werden. Dieses neue Politikziel wurde schließlich auch in gesetzliche Form gegossen: 1994 wurde das Grundgesetz um ein spezielles Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderungen in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG erweitert und 2002 das Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) auf Bundesebene eingeführt. Ein weiterer Meilenstein war die Ratifizierung des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) im Jahr 2009. Dieses völkerrechtliche Übereinkommen konkretisiert die bereits bestehenden universellen Menschenrechte mit Blick auf die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen und legt ebenfalls ein besonderes Augenmerk auf die Selbstbestimmung der Betroffenen.
Das Recht auf selbstbestimmte Mobilität
Es überrascht daher nicht, dass sich in diesem Übereinkommen gleich mehrere Bestimmungen finden, die in der Gesamtschau ein Recht auf selbstbestimmte Mobilität für Menschen mit Behinderungen absichern: Ausgangspunkt ist Artikel 9 der UN-BRK, der in der deutschen Fassung mit „Zugänglichkeit“ überschrieben ist und eine zentrale Stellung im Übereinkommen einnimmt. Durch diesen Artikel werden die Vertragsstaaten verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu erlassen, die Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt gewährleisten, wobei explizit auch auf Transportmittel verwiesen wird. Ergänzt wird diese Verpflichtung durch Artikel 5 Absatz 3 der UN-BRK, welcher die Vertragsstaaten zur Bereitstellung angemessener Vorkehrungen verpflichtet, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen ihre Rechte ausüben können. Das heißt vereinfacht: Wenn in einem konkreten Fall kein gleicher Zugang gegeben ist, haben Menschen mit Behinderungen nach der Konvention ein Recht darauf, personenbezogene Hilfsmaßnahmen zu erhalten, um bestehende Zugangshindernisse zu überwinden. Diese „Rechtsbasis“ wird durch Artikel 3a und Artikel 20 der Konvention nochmal mit Blick auf Selbstbestimmung und Mobilität aufgewertet.
Die UN-BRK sichert damit autonome Mobilität von Menschen mit Behinderungen ab. Doch wie alle menschenrechtlichen Ankommen richten sich die daraus resultierenden Verpflichtungen zunächst an die Vertragsstaaten. Diese sind verpflichtet, die Rahmenbedingungen im ihrem Rechtssystem dafür zu schaffen, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und gleichberechtigt mit anderen mobil sein können. Hier unterscheidet sich die UN-BRK nicht von anderen menschenrechtlichen Verbürgungen. Maßgebend ist damit letztlich der politische Umsetzungswille.
Das gilt auch für das Recht auf selbstbestimmte Mobilität. Denn anders als mancherorts behauptet, enthält die deutsche Verfassung kein explizites „Grundrecht auf Mobilität“.[5] Zwar wurde ein solches zum Teil in das Freizügigkeitsgrundrecht aus Art. 11 GG interpretiert und dabei auf die besondere Bedeutung von persönlicher Mobilität zur Wahrnehmung aller anderen Grundrechte des Grundgesetzes verwiesen.[6] Bei genauer Betrachtung finden sich jedoch keine Anhaltspunkte für eine solche Auslegung, da Art. 11 GG primär absichert, Aufenthalt und Wohnsitz in Deutschland frei wählen zu können. Mobilität wird vom Grundgesetz vielmehr nur durch das sogenannte Auffanggrundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Absatz 1 GG geschützt. Dass das auch anders gehen kann, zeigt jüngst ein Urteil des Schweizer Bundesgerichts[7]: Es erkannte in seinem Urteil gegen die Schweitzer Bundesbahn erstmals das verfassungsmäßige Recht auf selbstbestimmte Mobilität explizit an und verwies sich dabei u. a. auch auf den Diskriminierungsschutz durch die UN-BRK.
Der lange Weg zum „Design für Alle“
Was konkret mit vollständiger Barrierefreiheit gemeint ist, definiert das eingangs erwähnte PBefG allerdings nicht. Das führte zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gesetzes. So äußerte z. B. der Deutsche Städtetag stellvertretend für die für den öffentlichen Nahverkehr verantwortlichen Stellen in den Kommunen u. a. erhebliche Kritik an der Bestimmtheit des PBefG.[8]
Schaut man sich den Rechtsbegriff „Barrierefreiheit“ an, stellt man fest, dass dieser noch vergleichsweise jung ist. Wurde in älteren Gesetzestexten eher von „behindertengerechten Sonderlösungen“ oder „behindertenfreundlicher Ausgestaltung“[9] gesprochen, spiegelte das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) 2002 erstmals sprachlich die modernde Behindertenbewegung wider und verwendete dazu den Begriff „Barrierefreiheit“: Zukünftig sollen durch Menschen gestaltbare Lebensbereiche von vornherein so designt werden, dass sie in der allgemein üblichen Art und Weise ohne besondere Erschwernisse und möglichst ohne fremde Hilfe für alle Menschen auffindbar, zugänglich und nutzbar sind, so § 4 BGG. Das Hauptziel eines solchen „Designs für Alle“ ist die Nutzbarkeit der Lebensbereiche durch alle Mitglieder der Gesellschaft, wobei Auffindbarkeit und Zugänglichkeit dieser Bereiche eine notwendige Voraussetzung ist. Wo diese Auffindbarkeit, Zugänglichkeit und/oder Nutzbarkeit nicht vorliegen, müssen sie durch Abbau sogenannter Barrieren hergestellt werden.
Die Definition von Barrierefreiheit nach dem BGG ist damit ebenfalls abtstrakt gehalten. Und das ist auch gut so. Denn paradoxerweise würde eine abschließende gesetzliche Aufzählung barrierefreier Lösungen in der Umwelt wohl dafür sorgen, dass eine barrierefreie Umwelt gar nicht erreicht würde. Denn Barrieren entstehen vor dem Hintergrund des Behinderungsbegriffs der modernen Behindertenbewegung erst aus einer Wechselwirkung zwischen der individuellen Beeinträchtigung einer Person und Faktoren der Umwelt (Menschen sind also nicht behindert, sie werden durch Barrieren in ihrer Umwelt behindert). Barrieren sind damit individuell, behinderungsspezifisch und konkret umweltabhängig. Liegt etwa eine sogenannte motorische Beeinträchtigung vor, müssen häufig physikalische Barrieren abgebaut werden. So können Treppenstufen für Personen, die einen Rollstuhl verwenden, regelmäßig eine Barriere sein. Bei sogenannten sensorischen Beeinträchtigungen hingegen müssen oft Informationszugangs- und/oder Informationsverarbeitungsdefizite ausgeglichen werden. Es kann z.B. nötig sein, Anzeigetafeln nicht nur visuell, sondern auch noch akustisch wahrnehmbar zu machen oder dafür zu sorgen, dass wichtige Informationen auch in leicht verständlichen Piktogrammen abrufbar sind. Entsprechend ist die Frage, die man sich stellen muss, schon nicht, was eine vollständig barrierefreie Gestaltung ist, sondern für wen ein Lebensbereich barrierefrei ist.
Der Abbau einer Barriere für den einen Menschen kann aber im Extremfall die Entstehung einer Barriere für einen anderen bedeuten. Ein Mensch mit Sehbehinderung etwa, könnte möglicherweise auf die Erhöhung des Bürgersteigs angewiesen sein, um sich zu orientieren. Eine Person, die einen Rollstuhl verwendet, erlebt möglicherweise den Bürgersteig als Barriere. Daher tatsächlich nicht möglich, jedem Menschen zu jeder Zeit eine vollständig barrierefreie und autonome Mobilität zu gewährleisten. Barrierefreiheit ist also bereits für sich genommen konfliktbehaftet. Um allen Bedürfnissen bestmöglich gerecht zu werden, muss Ziel „eine allgemeine Gestaltung des Lebensumfeldes für alle Menschen [sein], die möglichst niemanden ausschließt und von allen gleichermaßen genutzt werden kann. Dieser Gedanke, einer wenn immer möglichen Vermeidung von Sonderlösungen zugunsten einer die Bedarfe behinderter Menschen selbstverständlich einbeziehenden gesellschaftlichen Gestaltung, entspricht einer modernen Auffassung von Architektur und Design.“[10] Spricht man von vollständiger Barrierefreiheit, kann es nicht um ein schon bekanntes und bestimmtes Zieldesign der Umwelt gehen, sondern um einen sich andauernd im Aushandeln befindlichen Prozess, der darauf gerichtet ist, möglichst allen Menschen den Zugang und die Nutzung eines Lebensbereichs zu ermöglichen.
Die Institution, die verpflichtet wird, Barrierefreiheit herzustellen, hat bei einem solchen „zu bestimmenden Rechtsbegriff“[11] nachvollziehbarer Weise Probleme, abschließende Handlungsanforderungen für die eine barrierefreie Umwelt zu formulieren. Faktisch hat diese Situation etwa dazu geführt, dass zahlreiche technische Regelwerke wie z.B. DIN-Normen über Barrierefreiheit in verschiedensten Lebensbereichen existieren. Dass eine solche rechtliche Gemengelage den Umsetzungsprozess auch des PBefG zusätzlich verzögert, liegt auf der Hand, wenn man darüber hinaus auch noch bedenkt, dass das PBefG von den Ländern zunächst in ihren Landesnahverkehrsgesetzen aufgenommen und schließlich in die kommunalen Nahverkehrspläne umgesetzt und konkretisiert werden muss.[12]
Barrierefreiheit offenbart Verteilungskonflikte
Fordert man eine barrierefreie Umwelt ein, stößt man aber auch noch auf weitere Zielkonflikte: Der Umbau der Umwelt mit dem Ziel auch „nur“ ein universales Design zu schaffen, kann bisweilen sehr kostspielig sein. Den Umbau des ÖPNVs im Sinne des PBefG müssen final etwa die Aufgabenträger und damit regelmäßig die kommunalen Haushalte stemmen. Auch wenn die gleiche Teilhabe aller Menschen ein – wenn nicht das – Hauptanliegen der modernen Sozialstaatlichkeit ist, hängt die Umsetzung faktisch wie rechtlich von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Staates bzw. der entsprechenden Körperschaft ab. Verteilungsfragen können sich ergeben, wenn einerseits große Investitionen in den barrierefreien Umbau der Mobilitätsinfrastruktur getätigt werden sollen, andererseits aus ebenfalls die soziale Teilhabe der Menschen betreffenden Gründen und/oder klimapolitischen Überlegungen gefordert wird, die Preise für die Nutzung des ÖPNVs drastisch zu senken oder diesen gar kostenlos anzubieten. Gleiches gilt, wenn man den notwendigen Ausbau des Nahverkehrs bedenkt. Selbstverständlich schließen sich unterschiedlichen Interessen hier nicht pauschal aus. So würden auch viele Menschen mit Behinderungen von niedrigeren Preisen des öffentlichen Nahverkehrs oder einem besseren Verkehrsnetz profitieren. Bedenkt man allerdings, dass der deutsche Staat mit Blick auf Sozialpolitik nicht dafür bekannt ist, Gelder zu mobilisieren, bereit wäre entsprechende Schulden aufzunehmen oder über Umverteilungspolitik wie eine effektive Vermögenssteuer die Finanzierung von sozialer Infrastruktur zu ermöglichen, ist davon auszugehen, dass im derzeitigen politischen Klima solche intersektionalen Perspektiven leider wenig Beachtung finden werden.
Neben solchen Finanzierungskämpfen kann es außerdem vorkommen, dass der öffentliche Raum zugunsten eines universalen Designs erheblich umgestaltet werden muss und auch insofern Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessengruppen entstehen können. So wird etwa der barrierefreie Umbau von Straßenbahnhaltestellen in einem Szeneviertel in Hannover nach einer jahrelangen öffentlichen Diskussion auch heute noch kritisch von Anwohner*innen und Lokalpolitik gesehen.[13]
Die Umsetzung eines vollständig barrierefreien ÖPNVs ist damit in zweierlei Hinsicht einem Aushandlungsprozess unterworfen: Einmal muss herausgearbeitet werden, wie genau die Umwelt beschaffen sein muss, um möglichst allen Menschen die Nutzung zu ermöglichen. Hinzu kommt anschließend, dass diese Lösung wiederum Konflikte in der um die begrenzen staatlichen Finanzmittel oder die Gestaltung des öffentlichen Raums auslösen kann. Damit steht das Rechts- und Politikfeld der barrierefreien Mobilität auch stellvertretend für Probleme von moderner demokratischer Staatlichkeit im Kontext seiner Leistungsfähigkeit und den Erwartungen seiner Bürger*innen.
Disability Mainstreaming im Aushandlungsprozess
Aber wie kann ein solcher Aushandlungsprozess bestmöglich gestaltet werden? Die konsequente Umsetzung des sogenanntes Disability Mainstreamings, also der systematischen Berücksichtigung behindertenpolitischer Interessen in allen gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen ist dafür integraler Bestandteil. Konkret für einen (rechts)politischen Aushandlungsprozess setzt Disability Mainstreaming voraus, die Betroffenen rechtzeitig und hinreichend zu beteiligen. Denn nur die Menschen, die durch Barrieren an der gleichen Teilhabe an der Gesellschaft gehindert werden, können letztgültig feststellen, welche konkreten Veränderungen in ihrer Umwelt sie benötigen und wie diese zu gewichten sind. Sie sind insofern die Expert*innen. Ansprechpersonen gibt es in Deutschland dafür genug, denn die Selbstorganisationsquote von Menschen mit Behinderungen in Deutschland ist gut: Neben bekannten Bündnissen wie dem Deutschen Behindertenrat existiert in Deutschland ein dichtes Netz von Selbsthilfevereinen, die sich wiederum in Dachverbänden sowie Arbeitsgruppen auf Bundes- oder Landesebene zusammengeschlossen haben. Diese Vereine sind Ausdruck einer Selbstermächtigung und Emanzipation der Betroffenen, die bis in die öffentliche Sphäre hineinwirkt. Sie bündeln besondere fachliche Expertise gepaart mit wertvollem Erfahrungswissen und tragen die Stimmen der Betroffenen in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft.
Auch die UN-Behindertenrechtskonvention legt in Artikel 4 Absatz 3 einen Fokus auf die Partizipation von Menschen mit Behinderungen, vor allem in Bezug auf die Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Programmen, die zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beitragen. Diesen Grundgedanken greift auch § 8 Abs. 3 PBefG auf und verpflichtet unter anderem zur frühzeitigen Anhörung der „Verbände der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkter Fahrgäste“.
Die Einbeziehung der Betroffenen in die Planungsprozesse verkehrstechnischer Entscheidungen von Beginn an kann einen erheblichen Beitrag dazu leisten, dass die begrenzten Ressourcen effektiv genutzt und die Verteilungsfragen kooperativ beantwortet werden. Denn so wird sichergestellt, dass Entscheidungen und Umsetzungsakte möglichst nachhaltig den Interessen und Bedürfnissen aller Nutzer*innen entsprechen und umständliche, sowie finanziell und personell belastende Anpassungen unterbleiben können. Gerade mit Blick auf diese Vorteile sollte neben dem „Ob“ aber auch die rechtlichen Voraussetzungen einer hinreichenden Beteiligung geregelt werden. Die Vereine und Verbände der betroffenen Menschen müssen mit den entsprechenden finanziellen und personellen Mitteln ausgestattet werden, um ihre Aufgaben auszuüben. Zwar gibt es mittlerweile öffentliche Fördertöpfe für die Selbsthilfe, in der Praxis sind die Akteure aber trotz ihrer Professionalisierung in einem hohen Maß an ehrenamtlichen Engagement angewiesen.
Ob die Bundesregierung hier nachbessert, bleibt noch abzuwarten. Insgesamt hängen die Chancen für einen vollständig barrierefreien ÖPNV 2026 davon ab, was die Bundesregierung konkret tun wird, um die Umsetzung des PBefG voranzubringen und ob und wie sie den notwendigen politisch-gesellschaftlichen Aushandlungsprozess priorisiert. Jedenfalls haben wir alle ein Interesse daran, der Beteiligung der Betroffenen eine hohe Bedeutung einzuräumen. Nur so wird sichergestellt, dass die Lösungen nachhaltig für möglichst alle sind. Denn barrierefreie Mobilität kommt auch unserer immer älter werdenden Gesellschaft zugute und hilft dabei, umweltbelastende Individualverkehrsmittel zu ersetzen. Gleichzeitig kann auch nur so die gleiche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen garantiert werden. Und auf diese haben sie ein Recht – auch schon 2022.
Weiterführende Literatur:
Felix Welti und Markus Schäfers (Herausgeber), Barrierefreiheit – Zugänglichkeit – Universelles Design. Zur Gestaltung teilhabeförderlicher Umwelten, Bad Heilbrunn 2021.
Deutsches Institut für Menschenrechte, Recht auf Mobilität: „Das Ziel eines barrierefreien öffentlichen Personennahverkehrs bis 2022 ist konkret und verbindlich“, Interview mit Dr. Valentin Aichele, abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuelles/detail/recht-auf-mobilitaet-das-ziel-eines-barrierefreien-oeffentlichen-personennahverkehrs-bis-2022-ist-konkret-und-verbindlich
[1] § 8 Abs. 3 PBefG.
[2] Vgl. Koalitionsvertrag 2021 „Mehr Fortschritt wagen“, 61.
[3] Hinweis: Im folgenden Text wird der Begriff „Mensch mit Behinderung“ verwendet. Dieser Begriff wurde auf Grundlage aktueller Leitfäden zu inklusivem Wording ausgewählt, z.B. dem Leitfaden des Projekts Leidmedien.de. Die Verwendung dieses Begriffes soll keine Positionierung zu einer möglicherweise abweichenden Selbstbezeichnung der angesprochenen Personengruppen darstellen.
[4] Vgl. Elsbeth Bösl, APuZ 23/2020, 6 (10 ff.).
[5] Dazu ausführlich Wolfgang Durner in Günter Dürig / Roman Herzog / Rupert Scholz, Grundgesetz-Kommentar, 95. EL Juli 2021, Art. 11 Rn. 93.
[6] Vgl. Michael Ronellenfitsch, DAR 1992, 321 ff.
[7] Vgl. Bundesgericht (Schweiz), Urteil vom 22.12.2021, 2C_26/2019, abrufbar unter: https://www.servat.unibe.ch/dfr/bger/2021/211222_2C_26-2019.html (Stand aller Links: 30.06.2022).
[8] Vgl. Deutsche Städtetag, Handreichung Barrierefreiheit im ÖPNV, 7 ff., abzurufen unter: https://www.staedtetag.de/files/dst/docs/Publikationen/Weitere-Publikationen/Archiv/barrierefreiheit-oepnv-handreichung-2014.pdf.
[9] Vgl. BT-Drs. 14/7420, 24.
[10] BT-Drs. 14/7420, 24.
[11] Felix Welti, Barrieren und Barrierefreiheit aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Schäfers / Welti 2021, 9-22 (18 f.).
[12] Vgl. § 8 Abs. 3 PBefG.
[13]Dazu: Nachbargleis v. April 2021, 2-4, abrufbar unter: https://www.infra-hannover.de/wp-content/uploads/2021/03/infra-NachbarGleis-Linden-Limmerstr-01_2021-web.pdf.