Politische Versammlungen dienen der klassischen kollektiven Meinungsäußerung in öffentlichen Angelegenheiten, sie ermöglichen eine Massenkommunikation politischer Zielvorstellungen, eine demokratische Partizipation außerhalb des Wahlaktes. Doch kommt es immer wieder vor, dass Demonstrierende dieses Anliegen nicht auf typischen öffentlichen Plätzen oder vor Regierungsgebäuden äußern, sondern unmittelbar vor der Privatwohnung einer Person des politischen Lebens. Der dadurch entstehende Konflikt zwischen den Grundrechten der Versammlungsteilnehmer*innen und der*dem Wohnungsinhaber*in soll im Folgenden skizziert werden.
Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 Grundgesetz (GG), in deren Schutzbereich alle friedlich agierenden deutschen Teilnehmer*innen fallen, schützt nicht nur die Versammlung als solche, sondern auch die weite Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Ortes, der Form und der Zeit. Insbesondere der von der Versammlungsleitung (§ 7 Versammlungsgesetz des Bundes. (BVersG) definierte Ort ist elementar für das mit der Versammlung beförderte kommunikative Anliegen. Die Versammlung ist nicht nur auf die bloße kollektive Meinungsäußerung beschränkt, sondern bezweckt gerade die aktive Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung. Um diese zu erreichen, muss sie öffentlich bemerkbar sein, es gibt insofern einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Beachtungserfolg.[1] Die Versammlung darf nicht ohne Weiteres auf abgelegenere Orte verwiesen werden. Es ist elementar für die politische Grundrechtsausübung, dass sie zunächst einmal der Gestaltungsfreiheit der Bürger*innen, nicht der gegenüberstehenden Staatsmacht in Gestalt der Exekutive und Legislative unterliegt. Der Versammlungsort ist letztlich lokale Voraussetzung dafür, dass die Versammlung die von ihr gewünschte Resonanz auch erhalten kann. Dabei geht es zunehmend nicht nur um die physische Beachtung während der Versammlung selbst, sondern auch um die mediale Berichterstattung im Nachgang. Diese fällt zumeist erheblich ausführlicher und tiefgehender aus, wenn der von der Versammlung gewählte Ort nicht der örtliche Marktplatz vor dem Rathaus oder die Hauptstraße ist, sondern etwas Ausgefallenes wie die Autobahn A29[2], der Frankfurter Flughafen[3] oder eben die Privatwohnung einer Person des politischen Lebens.
Verfassungsrechtliche Güterabwägung
Doch unterliegt auch die Gestaltungsfreiheit dem Schrankenvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG, der durch die Versammlungsgesetze des Bundes und der Länder konkretisiert wird. Eine entsprechende behördliche Entscheidung, die durch Auflage einen anderen Ort festlegt oder gar auf das präventive Totalverbot zurückgreift, findet Ihre Rechtsgrundlage in § 15 Abs. 1 BVersG. Danach kann die Versammlungsbehörde ein präventives Versammlungsverbot aussprechen, wenn „nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.“ Ein solches Verbot ist „Ultima Ratio“, also letztes Mittel und nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter und unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig.[4] Weil das Grundgesetz keine abstrakte Rangordnung seiner Grundrechte festlegt,[5] mithin (mit Ausnahme der Menschenwürde als Höchstwert) ein Grundrecht nicht pauschal und abstrakt „höherwertiger“ ist als andere, müssen die Belange des konkreten Einzelfalls in der sogenannten Güterabwägung austariert werden. Unter Bezug auf die konkrete Ausgangslage führt das zuständige Gericht eine – verfassungsrechtlich nicht unumstrittene[6] – Abwägung der widerstreitenden Grundrechte durch und entscheidet, inwieweit die Entfaltung des einen Grundrechtes die Einschränkung des anderen rechtfertigt. Dabei verfährt es nach den Maßstäben praktischer Konkordanz. Das bedeutet, dass es sämtlichen konfligierenden Grundrechten zu optimaler Wirksamkeit verhelfen soll und insbesondere kein Grundrecht stärker als erforderlich eingeschränkt wird. Diese verfassungsrechtliche Prüfung ist zum einen alles andere als trivial, zum anderen birgt sie aber natürlich auch eine stark subjektive Komponente auf Seiten des entscheidenden Gerichts. Dieses muss letztlich darüber entscheiden, welchen Wert es den jeweiligen Grundrechten im konkreten Fall zumisst und in der Folge eine Aussage darüber treffen, welches aus seiner Sicht überwiegt.
Die Wohnung als Kernbereich privater Lebensgestaltung
Während die Versammlungsteilnehmer*innen durch das politische Kommunikationsgrundrecht des Art. 8 Abs. 1 GG geschützt sind, ergibt sich der Schutz der Wohnungsinhaber*innen aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass der*dem Einzelnen ein Kernbereich privater Lebensgestaltung zusteht. In Gestalt der Wohnung findet sich dieses Recht als „Innenraum, in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat und in dem er in Ruhe gelassen wird.“[7] Zwar gelten bei Personen des öffentlichen Lebens grundsätzlich andere Maßstäbe als bei Privatpersonen. Diese Personen, welche in einer gewissen Regelmäßigkeit in der Öffentlichkeit stehen, haben den öffentlichen Meinungskampf und dessen Übersteigerungen grundsätzlich hinzunehmen, jedoch bedürfen auch sie eines wirksamen Schutzes ihres Privatlebens.[8] Es darf gerade durch politische Versammlungen vor ihrer Wohnung, die sich gezielt gegen die dort lebende Person richten, kein intensiver psychischer Druck, ein sogenannter Belagerungseffekt, auf die Person erzeugt werden.[9] In diesen Fällen überwiegt der Schutzgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes und die Abwägung geht zulasten der Versammlung aus.
Der aufgezeigte Konflikt war über die Jahrzehnte immer wieder Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Verfahren. Es lohnt sich daher ein Blick auf die unterschiedlichen Sachverhalte und deren Bewertung, um in der Folge den Versuch einer verwaltungsgerichtlichen Maßstabsbildung unternehmen zu können.
Der versammlungsrechtliche Belagerungseffekt
Das – soweit ersichtlich – einzige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht[10] betrifft eine Versammlung vor dem Elternhaus des damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in der saarländischen Stadt Neunkirchen. Dort sollte der DDR-Politiker am 10.09.1987 zu Besuch kommen, in dem Haus lebte zu der Zeit Honeckers Schwester. Angekündigt war durch die Versammlungsanmelder*innen eine ununterbrochene Mahnwache vom 08.09.1987 bis zum 10.09.1987. Diese wurde durch die zuständige Versammlungsbehörde verboten. Das Bundesverfassungsgericht gab der hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde statt und bestätigte somit das Versammlungsverbot. Es stellte jedoch keine eigenen Erwägungen an, sondern verweist auf die Begründungen der vorherigen Instanzen in dieser Sache. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) des Saarlandes hatte argumentiert, es sei vor allem durch die Dauer der Versammlung unmittelbar vor dem Wohnhaus der oben beschriebene Belagerungseffekt auf die Schwester Honeckers zu befürchten. Auch führe die Versammlung am Anreisetag Erich Honeckers und in dessen unmittelbarer Nähe zu einer Situation, in welcher dieser objektiv Anlass hätte, um seine Sicherheit besorgt zu sein.
In einem ähnlich gelagerten Fall vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Koblenz[11] wollte die „Initiative gegen den Atomtod“ als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 eine Demonstration in Ludwigshafen durchführen und dabei auch eine Kundgebung vor dem Wohnhaus des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl abhalten. Auch hier führt das Gericht unter ausführlichem Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, dass gerade auch Personen des öffentlichen Lebens ein wirksamer Schutz ihrer Privatsphäre, hier in Gestalt ihrer Privatwohnung zukommt. Dazu merkt das Gericht auch an, dass es vorliegend lediglich um eine Routenanpassung, keine präventive Totalversagung gehe. Der kommunikative Zweck der Versammlung könne durch die – insoweit von der Versammlungsbehörde zugelassene – Demonstration in der Stadtmitte und auch an einer dem Wohnhaus naheliegenden Straße genügend erreicht werden. Es schließt seine Erwägungen mit einem nochmaligen Verweis auf die herausragende Bedeutung der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) im vorliegenden Grundrechtskonflikt. Ein Mittel wie die „bewusste und gewollte unmittelbar störende Einwirkung auf den unantastbaren privaten Bereich des Betroffenen“ verdiene insoweit regelmäßig keinen Schutz.
In dieselbe Richtung, wenn auch dieses Mal nicht bei Personen des öffentlichen Lebens, ging ein Beschluss des OVG Magdeburg.[12] Hier wollten die Antragsteller*innen wöchentlich vor dem Wohnhaus ehemaliger Strafgefangener demonstrieren, um diese zur Aufgabe ihres Wohnsitzes und somit zum Wegziehen zu bewegen. Dieser „Vertreibungsdruck“, so das OVG Magdeburg, zermürbe die Betroffenen und sorge dafür, dass diese ihr durch Art. 2 Abs. 1 GG geschütztes Recht, in der Wohnung „allein gelassen zu werden“ nicht mehr ausüben können. Hinzu kam im vorliegenden Fall, dass durch die Demonstrierenden massive Beleidigungen ausgesprochen wurden. Diese verbalen Angriffe seien dem OVG nach nicht hinzunehmen, es entspreche der besonderen Schutzpflicht des Staates für die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, diese Angriffe zu unterbinden und die Versammlung daher zu untersagen.
Privilegierung bei Zweckzusammenhang
Die Demonstrationen in Zusammenhang mit der Errichtung des – damals neuen – Flughafens Berlin-Schönefeld zeigten, dass nicht jede Versammlung vor Wohnhäusern von Personen des öffentlichen Lebens der Privatsphäre weichen muss. Hier wollten die Teilnehmer*innen der Bürgerinitiative eine Demonstration durch Berlin abhalten, die vor dem Wohnhaus des regierenden Bürgermeisters von Berlin enden sollte. Auf der dortigen Kundgebung sollten zwischen den Reden immer wieder Flugsimulationen eingespielt werden, die dem Bürgermeister verdeutlichen sollten, was die Anwohner*innen durch den Flughafen jede Nacht erdulden müssten. Das Verwaltungsgericht Berlin[13] bestätigte zwar grundsätzlich ein diesbezügliches Verbot des Polizeipräsidenten in Berlin, wonach die Versammlung nicht unmittelbar vor dem Wohnhaus Wowereits stattfinden durfte, es gab der Initiative jedoch die Möglichkeit, die Versammlung an einer nahegelegenen Kreuzung durchzuführen. Im Rahmen der praktischen Konkordanz, also der Verschaffung beider kollidierender Grundrechte zur maximalen Geltung, kommt es in sorgfältiger Abwägung zu dem Schluss, dass eine Versammlung direkt vor dem Haus grundsätzlich unverhältnismäßig in Wowereits Persönlichkeitsrecht bzw. seine Privatsphäre eingreife. Der mit der Versammlung beabsichtigte kommunikative Zweck, Wowereit „die Folgen seiner politischen Entscheidung“ deutlich zu machen, könne wegen des unmittelbaren Zusammenhanges zum Versammlungsort jedoch nur dann hinreichend erreicht werden, wenn die Versammlung jedenfalls in akustischer Hörweite des Wohnhauses stattfinden könne. Dafür sei die vom Gericht zugewiesene Kreuzung geeignet und zweckmäßig. Diese akustische Einflussnahme auf den regierenden Bürgermeister sei für die begrenzte Zeit von einer halben Stunde hinnehmbar und insofern von ihm zu dulden.
Verwaltungsgerichtliche Maßstabsbildung
Wenngleich die dogmatischen Ansatzpunkte nicht immer einheitlich sind, so ist bei Betrachtung der Rechtsprechung doch ein verhältnismäßig klarer Maßstab herauskristallisierbar. Das Recht, in seiner Wohnung „allein gelassen“ zu werden, überwiegt jedenfalls dann gegenüber der Gestaltungsfreiheit des Art. 8 Abs. 1 GG, wenn ein Einschüchterungs- oder Belagerungseffekt durch die Versammlung zu befürchten ist. Wenn also Versammlungsteilnehmer*innen durch Art und Aufmachung der Versammlung oder durch Drohgebärden auf die Person in der Privatwohnung einwirken und dadurch teils immensen Druck auf sie ausüben, ist eine örtliche Verlegung der Versammlung gerechtfertigt. In solchen Fällen ist von einer regelmäßigen Verhältnis- und damit Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Auflage auszugehen. Das Verwaltungsgericht Berlin fasst es im hier erläuterten Beschluss treffend zusammen. Die Demonstrierenden durften ihr Anliegen nur deshalb in Hörweite des Wohnhauses von Wowereit äußern, weil es eine innere Verbindung zwischen dem Versammlungsort und dem von ihnen beabsichtigten Versammlungszweck gab – genau dieser fehlt jedoch üblicherweise bei den hier erörterten Versammlungen vor Privatwohnungen. Ebenso gibt es keinen spezifischen Zusammenhang zwischen den Corona-Maßnahmen der Bundesländer und dem Wohnhaus einer Landesgesundheitsministerin oder bei Demonstrationen gegen die Aufnahme von Geflüchteten und den 2016 oft beobachteten Versammlungen vor Wohnhäusern von Bürgermeister*innen. Es gibt insoweit keinen tragfähigen Grund, wieso die örtliche Gestaltungsfreiheit dieser Versammlungen derart stark gewichtet sein soll, dass sie die Privatsphäre der Politiker*innen überwiegt. Das kommunikative Ansinnen der Versammlungsteilnehmer*innen kann in ähnlicher Form auch auf klassischen öffentlichen Plätzen erreicht werden. Die dadurch eingebüßte kommunikative Reichweite, die wohl weniger in der geringeren physischen Präsenz als vielmehr in der medialen Rezeption von solchen Versammlungen vor Privatwohnungen besteht, steht in keinem angemessenen Verhältnis zum Sicherheitsbedürfnis der Wohnungsinhaber*innen.
Rechtspolitischer Handlungsbedarf?
In Anbetracht von Rechtsextremen, die Bürgermeister*innen vor ihren Häusern und Privatwohnungen einschüchtern, kommt schnell der instinktive Wunsch auf, solche Versammlungen in Gänze zu untersagen. Versammlungen dieser Art „pervertieren“ die grundrechtliche Idee der Versammlungsfreiheit. Sie dient in ihrer klassischen Ausprägung der Überbrückung kommunikativer Distanz, der Zugangsverschaffung einfacher Bürger*innen zu den Herrschenden. Ihr Zweck ist es, als demokratisches Funktions- und Abwehrrecht kommunikative Anliegen, Unzufriedenheiten, Handlungsbedarfe und Forderungen gegenüber den Mächtigen zu artikulieren. Einschüchternde Versammlungen, in denen dutzende oder gar hunderte Demonstrierende mit Drohparolen und Fackeln vor dem Wohnhaus einer Person stehen, verdrehen dieses Machtverhältnis völlig. Denn in diesem Moment ist auch eine Person des öffentlichen Lebens, die normalerweise teils weitreichende Entscheidungsgewalt hat, nur eine Privatperson mit Angst um sich und ihre Familie.
Doch entgegen gelegentlicher Forderungen[14] gibt es keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf für ein normatives Pauschalverbot von Versammlungen vor Privatwohnungen.[15] Wie in diesem Beitrag dargelegt sorgt der umfassende grundrechtlich gewährte Schutz der Privatsphäre dafür, dass solche Versammlungen im Regelfall versammlungsbehördlich untersagt oder in ihrer Ortswahl eingeschränkt werden können.
Dies muss auch nicht jedes Mal durch konkret-individuellen Verwaltungsakt geschehen, wie ein aktuelles Beispiel aus dem Harz zeigt. Dort hatte der Landrat des Landkreises Harz mit Allgemeinverfügung vom 18.02.2022[16] sämtliche nicht angemeldeten Versammlungen an Orten, die in der Anlage 1 zur Allgemeinverfügung genannt sind, verboten. Diese Anlage umfasst diverse Wohngebiete von Bürgermeister*innen und Landtagsabgeordneten. Das heißt, dass – zeitlich befristet – sämtliche Versammlungen in einem bestimmten Themenspektrum untersagt sind, soweit sie nicht vorher angemeldet wurden. Es folgt damit einem bundesweiten Trend, durch Allgemeinverfügung die Versammlungen aus dem Querdenker*innen- bzw. Maßnahmengegner*innen-Spektrum unter Anmeldevorbehalt zu stellen.[17] Zwar bedürfen Versammlungen auch regulär der Anmeldung (§ 14 Abs. 1 BVersG, § 12 Abs. 1 Versammlungsgesetz Sachsen-Anhalt , Art. 13 Abs. 1 Bayrisches Versammlungsgesetz), diese Pflicht ist zum einen jedoch nach umstrittener Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass Eil- und Spontanversammlungen ausgenommen sind,[18] zum anderen ist die generelle Anmeldepflicht gerade keine Verbotsnorm. Sie bewirkt nur das (auch strafbewehrte, § 26 Nr. 2 BVersG) Gebot, eine Versammlung vor der Durchführung anzumelden. Die nicht angemeldete Versammlung ist dennoch grundsätzlich erlaubt und durchführbar. Die entsprechenden Allgemeinverfügungen sorgen hierfür, dass alle Versammlungen, oft aus einem gewissen Teilnehmer*innenspektrum, entweder angemeldet werden müssen oder automatisch verboten sind.
Kritische Würdigung
Doch auch wenn das Ergebnis in den konkreten Fällen vielen auf den ersten Blick gefallen mag, lohnt sich ein kritischer Blick auf eine solche Verwaltungspraxis. Gerade, wenn, wie etwa in München, über das Versammlungsthema („Proteste gegen Corona-Maßnahmen“) ein spezifisches Teilnehmer*innenspektrum durch die Versammlungsbehörden ins Auge gefasst wird, sollte Vorsicht geboten sein. Derartige Allgemeinverfügungen können, auch wenn Sie auf jedenfalls teilweise tragfähiger Gefahrenprognose beruhen, zur Stigmatisierung bestimmter Versammlungsinhalte und damit politischer Positionen beitragen. Man stelle sich einmal vor, bei einer Demonstration von Fridays for Future käme es zu Ausschreitungen und fortan wären – zeitlich begrenzt – alle nicht angemeldeten Versammlungen zum Klima- und Umweltschutz verboten. Oder es hätte einen gewaltsamen Konflikt zwischen Teilnehmer*innen einer rechten Demonstration und einer antifaschistischen Gegendemonstration gegeben und fortan unterlägen alle Versammlungen mit antifaschistischem Inhalt diesem Anmeldevorbehalt und dem dadurch verbundenen Stigma. Die Exekutive greift hier nicht nur durch präventives Totalverbot aller nicht angemeldeten Versammlungen tief in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ein, sie schiebt derartige Versammlungen durch Anknüpfung an das Versammlungsthema auch in eine explizit gefahrenträchtige, antidemokratische Ecke. Eine solche Verwaltungspraxis kann geeignet sein, potenzielle Versammlungsteilnehmer*innen von der Grundrechtsausübung abzuschrecken, wenn diese nicht mit dem stigmatisierten Versammlungsinhalt und seinen Anhänger*innsen in Verbindung gebracht werden wollen.
Fazit und Ausblick
Wenngleich die absolute Zahl von Gerichtsentscheidungen zum aufgezeigten Grundrechtskonflikt verhältnismäßig karg ausfällt, so lässt sich aus ihnen doch ein recht klarer Maßstab entnehmen: Die örtliche Gestaltungsfreiheit der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG genießt hohe Bedeutung, rechtfertigt aber keine Einschüchterung von Personen in ihren Privatwohnungen. Die Versammlungsfreiheit überwiegt nur ausnahmsweise in solchen Fällen, in denen ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen Ort und Versammlungsthema besteht und kein solcher Belagerungseffekt zu befürchten ist.
Insoweit scheint der Konflikt verfassungsrechtlich aufgelöst. Offen ist hingegen die Frage nach dem behördlichen Umgang mit solchen Versammlungen, die ja, wie richtig angemerkt wird,[19] häufig dadurch gekennzeichnet sind, dass sie gerade nicht angemeldet werden, sodass eine entsprechende vorherige Auflage oder Verbotsverfügung nicht möglich wäre. Rechtspolitischer Handlungsbedarf für den Gesetzgeber besteht hier, wie aufgezeigt werden konnte, jedoch nicht. Ob hingegen Allgemeinverfügungen, die in demokratisch zumindest bedenkenswerter Weise an das Versammlungsthema anknüpfen, das Wunderheilmittel darstellen, darf jedenfalls bezweifelt werden.
Weiterführende Literatur:
Eva Maria Bredler, Heimgesucht: Können Versammlungen vor Privathäusern von Politikern verboten werden?, Verfassungsblog v. 17.12.2021, https://verfassungsblog.de/heimgesucht/ (Stand: 31.03.2022)
[1] Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil v. 06.06.2007 – 1 BvR 1423/07 = Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2007, 2167 (2169).
[2] Vgl. Jörn Stachura, Klima-Protest: In Braunschweig wird eine Autobahn gesperrt, Braunschweiger Zeitung v. 29.03.2022.
[3] Alfred Scheidler, Kein Demo-Verbot am Frankfurter Flughafen, LTO v. 22.02.2011.
[4] BVerfG, Beschluss v. 14.05.1985 – 1 BvR 233, 341/81 Rn. 80.
[5] Harald Schneider, die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichtes bei Grundrechtskonflikten, 1979, 222.
[6] Zur Übersicht Wonkyu Park, Das Erstanmelderprivileg im Versammlungsrecht, 2016, 30 f.
[7] OVG Koblenz, NJW 1986, 2659 (2660).
[8] BVerfG, Urt. v. 15.12.1999 – 1 BvR 653/96 – Caroline von Monaco.
[9] Vgl. VGH Kassel, NJW 1994, 1750 (1751).
[10] BVerfG, NJW 1987, 3245.
[11] OVG Koblenz, NJW 1986, 2659 (2660).
[12] OVG Magdeburg, Beschluss v. 25.04.2012 – 3 M 100/12.
[13] VG Berlin, Beschluss vom 21.02.2012 – 1 L 37.12 = openJur 2015, 2420.
[14] Vgl. Anne Hähning, Schützt Euch, DIE ZEIT v. 09.12.2021, 1.
[15] Bredler Verfassungsblog 2021.
[16] Landkreis Harz, Sonderamtsblatt Nr. 7 v. 18.02.2022.
[17] Vgl. z.B. Allgemeinverfügung der Stadt München vom 21.01.2022,Amtsblatt Nr. 3/2022, 35.
[18] BVerfG, Beschluss v. 23.10.1991 – 1 BvR 850/88 Rn. 23.
[19] Bredler Verfassungsblog 2021.