Das Versammlungsrecht ist nach dem Bundesverfassungsgericht neben der Meinungsfreiheit „eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt“. Es vermittelt den Anspruch der Bürger*innen, an „Orten, die dem allgemeinen öffentlichen Verkehr eröffnet sind“, Versammlungen durchzuführen. Hierzu zählen auch Autobahnen – in der Praxis wird die Wahrnehmung dieses Grundrechts auf Autobahnen aber alles andere als leicht gemacht.
In den letzten Jahren sorgten in Deutschland immer wieder Demonstrationen, die auf Autobahnen stattfanden, für Aufsehen. Die „typische“ Autobahndemonstration ist ein Fahrradkorso, um Protest gegen die autofixierte deutsche Verkehrspolitik im Allgemeinen oder den Ausbau bestimmter Autobahnen im Speziellen (wie etwa die A 49 in Mittelhessen) auszudrücken. Einzelne andere, kreativere Aktionsformen auf Autobahnen fanden auch schon im Rahmen angemeldeter Versammlungen statt, beispielsweise eine Abseilaktion von einer Autobahnbrücke, um gegen die Strafverfolgung von Aktivist*innen zu protestieren, die sich ähnlich, aber unangemeldet (und bei laufendem Verkehr) von Autobahnbrücken abgeseilt hatten.[1]
Die hier beleuchteten angemeldeten Versammlungen auf Autobahnen sind von unangemeldeten und eher überraschenden Autobahnblockaden abzugrenzen. Auch, wenn Letztere begrifflich ebenfalls Versammlungen sind, so geht es in diesen Fällen vor Gericht regelmäßig nicht um ihre Ermöglichung, sondern Kriminalisierung.[2]
Uneinheitliche Rechtsprechung
Möglich gemacht wurden diese Versammlungen fast ausschließlich durch Gerichtsentscheidungen, denn übliche Praxis deutscher Verwaltungsbehörden ist es, auf Autobahnen angemeldete Versammlungen mittels Auflagen von der Autobahn „wegzuverfügen“. Hiergegen gerichtete Eilanträge bei Verwaltungsgerichten hatten in den letzten Jahren jedoch zumindest teils Erfolg, sodass die geplanten Versammlungen auf Autobahnen zum Teil stattfinden können.
Rechtlich entscheidend für die Frage, ob eine Versammlung an einem bestimmten Ort stattfinden darf, ist nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zunächst, ob dort ein „allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet“ ist.[3] Allerdings kann aus anderen Gründen die Durchführung einer Versammlung an einem bestimmten Ort dennoch versagt werden, wenn die Durchführung an einem bestimmten Ort „die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet“ (§ 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz des Bundes).
In den 1990er Jahren war das Oberverwaltungsgericht Lüneburg noch der Auffassung, dass Autobahnen wegen § 1 Abs. 3 Fernstraßengesetz, wonach Autobahnen dem Schnellverkehr mit Kraftfahrzeugen gewidmet sind, generell „demonstrationsfrei“ seien.[4] Dies war nicht mehr haltbar, nachdem das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass die Feststellung, ob ein Ort „dem allgemeinen öffentlichen Verkehr eröffnet“ und damit für Versammlungen im Grundsatz zugänglich ist, nicht streng abhängig von Bestimmungen des Straßenrechts zu bestimmen ist.[5] Mittlerweile dürfte in der Rechtsprechung Konsens darüber bestehen, dass auf Autobahnen der „allgemeine öffentliche Verkehr eröffnet“ ist und diese damit im Grundsatz für Versammlungen zugänglich sind.
Zur Frage, ob dennoch die Durchführung im Einzelfall wegen einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung versagt werden darf, wägen die Gerichte mittlerweile durchgängig das Interesse der Veranstalter*innen und Teilnehmer*innen auf Durchführung der Versammlung einerseits mit den Folgen für den Straßenverkehr, insbesondere (vermeintlichen) Unfallgefahren andererseits, ab.
Konsens in der Rechtsprechung scheint zu sein, dass ein „Mitfließen“ von Radkorsos im Autobahnverkehr nicht möglich und daher die Sperrung des Fahrstreifens für den normalen Verkehr nötig sei. Teils wird auch die Sperrung der Gegenfahrbahn gefordert, da ein Radkorso ein „derart atypisches Ereignis“ darstelle, dass Gafferunfälle möglich seien.[6] Meist sind dementsprechend Unfallbefürchtungen, insbesondere das Risiko von Auffahrunfällen an Stauenden bei Autobahnsperrungen, Hauptgrund für Verbote.[7]
Teils wird zusätzlich die „Leichtigkeit des Verkehrs“, also nichts anderes als gewisse zeitliche Verzögerungen für Autofahrer*innen, als Rechtsgut herangezogen, welches ein Verbot begründen soll[8]. Hiermit im Zusammenhang steht bei einigen Entscheidungen der mehr oder minder verklausulierte Vorwurf an die Veranstalter*innen, es ginge ihnen weniger um Meinungskundgabe und mehr um maximale Disruption.[9] Häufig findet sich zur Begründung ablehnender Gerichtsentscheidungen auch die Behauptung, die Autobahn sei nicht im gleichen Maße wie der innerörtliche Straßenraum einer kommunikativen Nutzung zugänglich.[10]
Insgesamt ist eine uneinheitliche Rechtsprechung zu konstatieren. Feststellen lässt sich, dass die Chancen auf Durchführung tendenziell steigen, wenn die betreffende Autobahn im deutschen Autobahnnetz nur eine Randstrecke ist, Umleitungsstrecken für den Straßenverkehr zur Verfügung stehen und die Versammlung außerhalb der Hauptverkehrszeiten stattfindet. Ob es im Einzelfall möglich sein wird, einen Radkorso auf einer Autobahn durchzuführen, ist dennoch aus Perspektive der Veranstalter*innen häufig Glückssache.
NRW: Verfassungswidriges Totalverbot
Die schwarz-gelbe Regierungskoalition Nordrhein-Westfalens hat unterdessen einen anderen Weg eingeschlagen. Wenige Monate vor den im Mai 2022 anstehenden Landtagswahlen trat am 7. Januar das neue Versammlungsgesetz des Landes NRW (VersG NRW) in Kraft. Dort heißt es in § 13 Abs. 1 S. 3 lapidar: „Auf Bundesautobahnen finden keine Versammlungen statt.“. Dieser Passus war im ursprünglichen Entwurf nicht enthalten und wurde erst mit einem Änderungsantrag[11] im Dezember 2021 kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes eingefügt, so dass eine breitere Debatte über diesen Passus nicht stattfinden konnte, auch die Sachverständigengutachten im Gesetzgebungsverfahren beschäftigen sich dementsprechend nicht mit der Demonstrationsfähigkeit von Autobahnen.
Im Änderungsantrag heißt es zur Begründung des Absatzes neben einigen eher allgemein gehaltenen Unfallbefürchtungen: „Auch Demonstrationen gegen die Autobahn […] müssen nicht auf den Bundesautobahnen stattfinden.“[12] Diese Logik öffnet eine Büchse der Pandora. Der nächste logische Schritt wäre, dass absurden, aber gelegentlich tatsächlich erhobenen Forderungen von Gewerbetreibenden in Innenstädten, „ihre“ Fußgänger*innenzone versammlungsfrei zu halten,[13] nachgekommen wird. Auch eine normale Kundgebung muss nicht auf dem Marktplatz stattfinden, sondern kann auch in einem Gewerbegebiet am Stadtrand stattfinden. Aber in Innenstädten werden Versammlungen nun einmal deutlich mehr wahrgenommen als im Gewerbegebiet – deswegen finden sie nun einmal meist dort statt, auch zu dem Preis, dort mehr zu „stören“. Es ist trotzdem nachvollziehbar, dass im Einzelfall Verkehrssicherheitsbelange gegen Versammlungsbelange abgewogen werden sollen, es erschließt sich aber nicht, warum die NRW-Landesregierung diese Abwägung mit dem Holzhammer in Form eines Totalverbots durchführen will, statt sie wie bisher den Verwaltungsgerichten und Ordnungsbehörden für den Einzelfall zu überlassen.
Die Absurdität zeigt sich besonders deutlich daran, dass das Totalverbot auch Versammlungen trifft, die Belange des Straßenverkehrs gar nicht stören, weil die Autobahn aus anderen Gründen für diesen ohnehin gesperrt ist.
Weiter heißt es im Änderungsantrag: „Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach Autobahnen als Orte von Versammlungen eingeschätzt und in der Praxis der Versammlungsbehörden entsprechend zwingend ‚vorgehalten‘ werden müssten, liegt, soweit ersichtlich, nicht vor.“ Die nordrhein-westfälische Koalition hält das Bundesverfassungsgericht anscheinend für das einzige Gericht, das zur Durchsetzung von Grundrechten berufen sei. Das Gegenteil ist der Fall. Zur Grundrechtsdurchsetzung berufen sind in erster Linie die einfachen Gerichte[14] einschließlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit, das Bundesverfassungsgericht ist nur „Notbremse“ zur Beseitigung von verfassungswidrigen Rechtsnormen und letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen. Freilich schlägt jetzt die Stunde des Bundesverfassungsgerichts, da nun mit § 13 Abs. 1 S. 3 VersG NRW eine verfassungswidrige Rechtsnorm geschaffen worden ist, die – vom Verfassungsgericht des Landes NRW abgesehen – nur das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklären kann. Dass zwar nicht das Bundesverfassungsgericht, aber zahlreiche Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte in diversen Fällen Anmelder*innen das Recht zugesprochen haben, eine Versammlung auf Autobahnen durchzuführen, ignoriert die nordrhein-westfälische Landesregierung.
Fazit: Versammlungsrecht stärken
Auf dem ganz besonders auf Effizienz getrimmten System der deutschen Autobahn ist eine Vollsperrung, die eine Demonstration im Normalfall mit sich bringt, eine gravierende Unterbrechung des automobilen Alltags – aus diesem Blickwinkel ähnelt eine Demonstration auf der Autobahn einem Unfall, der zu einer Vollsperrung führt. Diese Sichtweise schlägt sich sicherlich entsprechend bei Polizei- und Ordnungsbehörden nieder, die Versammlungen auf Autobahnen für nicht hinnehmbar halten. Über die Frage, ob im Endeffekt die Ansicht, es könne ja nicht sein, dass deutsche Autofahrer*innen zugunsten der Versammlungsfreiheit eine Stunde im Stau stehen müssen, motivationsbegründend für Versammlungsverbote ist und Unfallbefürchtungen lediglich vorgeschoben werden, kann dennoch nur spekuliert werden.
In die gleiche Richtung geht der Umstand, dass sich Gerichte, die zum Verbot von Autobahndemonstrationen mit Unfallrisiken argumentieren, soweit ersichtlich durchgängig nicht mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Unfall-Restrisiko nicht etwa dem Straßenverkehr immanent ist und auch im Hinblick auf den Stellenwert der Versammlungsfreiheit nicht zumindest in einem gewissen Umfang hingenommen werden müsste. An anderer Stelle ist Unfallvermeidung schließlich auch keine Maxime der deutschen Verkehrspolitik, so hat der Gesetzgeber bis heute kein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen erlassen. Wenn aber ein erhöhtes Unfallrisiko zugunsten des schnelleren Vorankommens hingenommen werden soll, warum nicht auch zugunsten der Versammlungsfreiheit?
Auch der häufig anzutreffenden Argumentation, wonach im Rahmen der oben skizzierten gerichtlichen Abwägung auch zulasten der Versammlungsinteressen zu würdigen sei, dass die Autobahn einer kommunikativen Nutzung weniger zugänglich sei als die typischen Versammlungsorte im städtischen Straßenraum, ist entgegenzutreten. Derartige Erwägungen überhaupt anzustellen, stellt schon eine staatliche Einmischung in das ortsbezogene Selbstbestimmungsrecht der Veranstalter*innen dar. Der Staat hat das Recht, einer Versammlung den Zutritt zu einem bestimmten Ort zu verweigern, wenn dies mit unzumutbaren Folgen für Dritte verbunden wäre. Er hat aber nicht anstelle der Veranstalter*innen Erwägungen anzustellen, wo die Versammlung Sichtbarkeit generieren kann. Zudem ist die Argumentation inhaltlich falsch: Die Wirkung einer Versammlung erfolgt heute nicht mehr hauptsächlich durch die unmittelbare Wahrnehmung durch Zuschauer*innen, sondern in erster Linie durch mediale Präsenz. Einen Radkorso auf der Autobahn sehen weniger Menschen mit eigenen Augen, aber die entstehenden Bilder sind deutlich wirkmächtiger.
Dass die deutsche Bundesautobahn einen ganz besonderen Schutz vor Unterbrechung ihres Normalbetriebs genießt, lässt sich daher weniger mit Verhältnismäßigkeitserwägungen und mehr mit ihrem sakrosankten Status in der deutschen Verkehrspolitik erklären. Auf dieser Logik basiert auch das nordrhein-westfälische Totalverbot.
Für den faktischen Sonderstatus der deutschen Bundesautobahn spricht auch ein Blick über den Tellerrand: So sahen 1998 österreichische Behörden kein Problem in der Durchführung einer 30 Stunden(!) andauernden Demonstration auf der Brenner-Autobahn, obwohl diese die einzige transalpine Magistrale über mehrere Hundert Kilometer darstellt und die lange Sperrung dementsprechend zu größeren Störungen des internationalen Warenverkehrs führte. Dies war nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) – ein deutsches Logistikunternehmen hatte die Republik Österreich im Nachgang auf Schadensersatz verklagt – aufgrund des Stellenwerts der Versammlungsfreiheit hinzunehmen.[15] Die Ausführungen des EuGH haben es auch im Detail in sich. So formuliert der EuGH, bereits die Beschränkung der dreißigstündigen Versammlung auf wenige Stunden hätte als „übermäßige Beschränkung wahrgenommen werden können, die der Aktion einen wesentlichen Teil ihrer Wirkung hätte nehmen können“. Vergleicht man dies mit der Rechtsprechung deutscher Verwaltungsgerichte, wonach teils bereits eine dreißigminütige Autobahnsperrung unzumutbare Folgen für die „Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs“ haben soll,[16] gegenüber der das Interesse der Versammlungsteilnehmer*innen auf Sichtbarkeit ihres – etwa gegen Autobahnausbau gerichteten Anliegens – zurückzutreten habe, so ergeben sich doch ganz erhebliche Diskrepanzen. Nach den vergleichsweise versammlungsunfreundlichen Standards deutscher Verwaltungsgerichte wäre die Durchführung einer derartigen Versammlung in Deutschland geradezu undenkbar.
Zeigen wird sich, ob das Bundesverfassungsgericht dem NRW-Totalverbot einen Riegel vorschieben wird, und falls nicht, ob andere Bundesländer diesem folgen werden. Zu wünschen wäre eine klare verfassungsgerichtliche Entscheidung zugunsten der Versammlungsfreiheit, bestenfalls mit Auswirkungen auf die bisher restriktive Praxis der Verwaltungsgerichte.
[1]Legale Hängepartie, Hessenschau v. 22.01.2022, https://t1p.de/8ewc9 (Stand aller Links: 30.06.2022); möglich gemacht durch einen Beschluss des VG Frankfurt vom 21.01.2022 – 5 L 148/22.F; siehe auch Fn. 2.
[2] Vgl. Lukas Theune / Waltraut Verleih, Landgericht Frankfurt am Main: Untersuchungshaft wegen Autobahnblockade, Kritische Justiz 2021, 94-98.
[3] BVerfGE 1128, 226 (251) – Fraport.
[4] OVG Lüneburg Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht 1995, 332.
[5] BVerfGE 128, 226 (251 f.) – Fraport.
[6] Bspw. OVG Lüneburg, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Rechtsprechungs-Report 2021, 752; andere Ansicht VG Berlin, Beschl. v. 4.6.2009 – 1 L 316/09 und HessVGH, Beschl. v. 4.6.2021 – 2 B 1201/21.
[7] OVG Lüneburg ebenda; OVG Bautzen DAR 2022, 112; VGH München, Beschl. v. 7.9.2021 – 10 CS 21.2282.
[8] VGH München ebenda.
[9] VGH München ebenda.
[10] So etwa VG München, Beschl. v. 22.06.2016 – M 7 S 16.2621.
[11] Landtagsdrucksache 17/15821.
[12]Ebenda, S. 9.
[13]Bspw. Götz Schultheiß, Demo und Lange Einkaufsnacht, Stuttgarter Nachrichten v. 07.04.2014, https://t1p.de/urxe.
[14]Sehr deutlich in dieser Hinsicht BVerfGE 96, 27 (40).
[15] EuGH, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2003, 592.
[16] VG Köln, Urteil vom 10.12.2015 – 20 K 3969/15.