„Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dieser unscheinbare kleine Satz des Art. 3 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes umfasst tatsächlich eine unermesslich große Aufgabe des Staates zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern.[1] Aber was hat dieses hehre Ziel mit dem sehr konkreten Thema der Stadtplanung zu tun?
Gleichberechtigung bedeutet nicht nur die Ermöglichung gleicher Rechte auf dem Papier, sondern ebenso die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am öffentlichen Leben, die gleiche Sichtbarkeit, die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller gleichermaßen. Bezogen auf die Stadtplanung stellen sich zuallererst einige wichtige Fragen. Für wen und von wem sind Städte gebaut worden? Welche Bevölkerungsgruppen können sich in ihnen optimal bewegen? Wer ist in der Ausgestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums unsichtbar?
Wer hat die heutigen Städte gebaut?
Der Architekturberuf war lange Zeit männlich dominiert. Frauen durften erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Architektur studieren (Zulassung in Bayern beispielsweise ab 1905[2]) und so dauerte es eine ganze Weile, bis es tatsächlich Architektinnen in den Architekturbüros gab. Doch selbst nachdem die formellen Hürden verschwunden waren, blieb das Gebiet eine Männerdomäne. Noch heute sind laut Statistik der Bundesarchitektenkammer unter den freischaffenden Architekt*innen und Stadtplaner*innen 75,3 % Männer und nur 24,7 % Frauen.[3] Bei den angestellten und beamteten Architekt*innen sieht es ein wenig ausgeglichener aus, wobei auch hier die männlichen Kollegen überwiegen.
Die Unsichtbarkeit weiblicher Architektinnen kann durch ein weiteres eindrückliches Beispiel belegt werden. Der renommierteste Preis für die Architektur des Modernismus ist der Pritzker-Preis, der seit 1979 verliehen wird. Sehr lange wurde dieser Preis ausschließlich an männliche Architekten verliehen, obwohl es in der Architekturgeschichte durchaus beeindruckende Bau- und Lebenswerke von Architektinnen gegeben hätte. Erst im Jahre 2004 wurde mit Zaha Hadid zum ersten Mal eine Frau mit diesem Preis ausgezeichnet.[4] Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass die Jury noch 1991 darauf beharrte, den Architekten Robert Venturi alleine zu ehren, obwohl es diesem ein Anliegen war, dass seine Partnerin und Ehefrau Denise Scott Brown mit ihm zusammen den Preis bekommen solle, ob ihrer beider Zusammenarbeit. Eine später ins Leben gerufene Petition schaffte es ebenfalls nicht, die Jury in diesem Punkt umzustimmen.
Natürlich lässt sich nicht per se sagen, dass Frauen eine ganz andere Architektursprache haben und deshalb die Städte radikal anders aussehen würden, wenn sie von Frauen geplant wären. Aber mehr Diversität unter den Planenden führt auch zu mehr und vielfältigeren Blickwinkeln auf Gebäude und das Bauen. Die Folge davon wäre, dass die Planung sich besser an den Bedürfnissen von unterschiedlichen Personengruppen orientiert. Für eine bedarfsgerechte Stadtplanung bedarf es so vieler und so diverser Blickwinkel wie möglich. Nur so kann eine nicht-sexistische, nicht-rassistische, nicht-behindertenfeindliche und nicht-hierarchische Stadt entstehen.
Sexistische Stadtplanung
Die Stadthistorikerin Dolores Hayden kritisierte schon 1981 das Leitbild der damaligen US-amerikanischen Stadtplanung. Für sie war die Planung viel zu sehr darauf fixiert, die Stadt autogerecht und funktionsgetrennt werden zu lassen. Funktionsgetrennt meint in diesem Zusammenhang, dass innerhalb der Städte bestimmte Bereiche bestimmten gesellschaftlichen Funktionen zugeordnet werden und diese Bereiche räumlich sehr stark voneinander getrennt sind. Klassischerweise gibt es die Trennung in Wohngebiete, Industrie- und Gewerbegebiete, Freizeitgebiete, Bildungssektoren, Einkaufscenter usw.
Insbesondere richtete Haydens Kritik sich darauf, dass Städte in Vorstadt – wo hauptsächlich Einfamilienhäuser zu finden waren – und Innenstadt – in der die Menschen (damals hauptsächlich Männer) arbeiteten – getrennt waren.[5] Diese sehr strenge Trennung begünstigte ihrer Meinung nach die Entstehung von sogenannten Schlafstädten, in denen außer dem Wohnen keine anderen Bedürfnisse erfüllt werden. Der zweite und weitaus wichtigere Grund ist jedoch, dass diese Art der Stadtplanung die vorherrschenden Rollenbilder zwischen den Geschlechtern verfestigt. Das Einfamilienhaus in der Vorstadt, weitab von Arbeitsplätzen, isoliert von der lebendigen Innenstadt und meist schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar – all diese Faktoren begünstigten es, dass bei einer klassischen Rollenverteilung innerhalb von heterosexuellen Familien die Frau vom öffentlichen Leben weitgehend abgeschnitten war. Außerdem verstärkte sich die finanzielle Abhängigkeit der Frau vom arbeitenden Mann, sodass ökonomische Ungleichheiten verstärkt wurden.
Nebenbei wurde die „Traumvorstellung“ des Eigenheimes in der Vorstadt auch ganz unverhohlen von Wirtschaftsunternehmen propagiert, die sich die Wirkweisen des Kapitalismus zunutze machten, um ganz neue Bedürfnisse zu wecken, was die Küchen-, Haus- und Gartenausstattung betraf.[6]
Natürlich kann Haydens Blick auf die Stadtentwicklung der USA nicht eins zu eins übertragen werden auf die Stadtplanung in den deutschsprachigen Ländern. Aber auch hier wurde lange Zeit die Trennung von Arbeiten und Wohnen innerhalb einer Stadt als wichtiges stadtplanerisches Ziel betrachtet.
Kritik der reinen Wohngebiete
Dies kann anschaulich anhand der Änderungshistorie der deutschen Baunutzungsverordnung (BauNVO) verdeutlicht werden. Die BauNVO legt in ihren Anfangsparagrafen Gebietskategorien fest, die bestimmen, welche Art von Bebauung erlaubt ist. Beispielsweise gibt es das reine Wohngebiet aus § 3 BauNVO, in dem hauptsächlich Wohngebäude gebaut werden dürfen. Dieser Paragraf hat schon einige Entwicklungen hinter sich.[7] Seinen Anfang nahm der heutige § 3 BauNVO im Jahre 1962 in der BRD. Er sollte zunächst ausschließlich den Bau von Wohngebäuden erlauben. Der Bundesrat kritisierte jedoch das vollständige Fehlen von Einkaufsmöglichkeiten und warnte davor, dass bei einer solchen Regelung große Einkaufszentren am Rande des Wohngebiets entstehen würden. Deshalb wurde damals doch noch die Zulässigkeit von kleinen Läden und nicht störenden Handwerksbetrieben festgelegt. 1990 wurde hinzugefügt, dass auch Pflegeheime und Gebäude für kirchliche, soziale, gesundheitliche, sportliche oder kulturelle Zwecke hinzukommen dürfen. Und erst im Jahre 2013 wurde ein weiterer Zusatz eingefügt, der explizit den Bau von Kinderbetreuungseinrichtungen regelt. Dies war zuvor nur ausnahmsweise möglich gewesen und hat häufig zu Klagen von Anwohner*innen gegen die von Kitas ausgehenden Lärmbelästigungen geführt
An dieser Entwicklung ist deutlich erkennbar, dass die Entstehung einer funktionsgetrennten Stadt auch in Westdeutschland gewollt war. Natürlich hatte diese Art der Trennung von Wohnen und Arbeiten auch Vorteile. Insbesondere sollte es der arbeitenden Bevölkerung ermöglicht werden, weitab von Schwerindustrie und lärmintensivem Gewerbe wohlverdiente Wohnruhe zu bekommen.
Andererseits bringt die Funktionstrennung in den Städten auch in Deutschland deutliche Nachteile mit sich, insbesondere für diejenigen, die innerhalb einer Familie die Sorgearbeit leisten. Das sind immer noch mehrheitlich Frauen. Sinnbildlich steht hierfür der Anteil der Teilzeitarbeitenden in Deutschland: Davon sind 77,7 % Frauen und nur 22,3 % Männer.[8] Und auch ein Blick in die Statistik zum Elterngeld macht deutlich, dass die Gleichberechtigung in dem Moment, in dem es um die Betreuung von Kindern geht, noch in weiter Ferne liegt. Nur knapp 25 % der Personen, die im Jahre 2020 Elterngeld bezogen haben, waren Väter.[9]
Teilzeitarbeitende und diejenigen, die allein die Sorgearbeit innerhalb einer Familie übernehmen, haben andere Bedürfnisse in einer Stadt als Personen, die Vollzeit arbeiten. Sie müssen viel mehr und viel unterschiedlichere Wege einplanen. Die statistischen Zahlen verdeutlichen die Notwendigkeit, Stadtplanung insofern neu zu denken, als dass verstärkt auch die Bedürfnisse von Menschen mit Care-Verpflichtungen berücksichtigt werden. Sie sollen möglichst schnell und unkompliziert ihre Arbeitsstelle sowie Einkaufsläden, Schule, Hort und die Orte der Freizeitbeschäftigung erreichen können.
Die Möglichkeit der Mischung von Gebietskategorien
Auch in der Großstadt Berlin gab es um 1900 und noch einmal 1945 Bauordnungsplanungen, die das Ziel einer Trennung von Industrie- und Wohnvierteln verfolgten. Andererseits ist Berlin gleichzeitig ein Beispiel, in dem die unter dem Namen „Kreuzberger Mischung“[10] bekannte Kiezkultur florierte und auch heute noch in manchen Vierteln gelebt wird. „Kreuzberger Mischung“ bezeichnet ein historisch gewachsenes Nebeneinander von Kleingewerbe, Kindergärten, Schulen, Wohnungen, Ateliers, Werkstätten, Gemeinschaftsbüros, Einkaufsmöglichkeiten, Kultureinrichtungen, Bars und Restaurants. Diese Idee der Mischung bringt viele Vorteile mit sich. Zum einen entsteht so eine „Stadt der kurzen Wege“, eine 15-Minuten-Stadt, in der jegliche Besorgung fußläufig erreicht werden kann. Sogar die Arbeitsstelle ist idealerweise in der Nähe. Gleichzeitig ist eine solche Mischung auch eine wirksame Maßnahme zu mehr Klimaschutz, wenn alle Wege kürzer werden und im besten Falle niemand mehr ein Auto benötigt.
Ein weiterer Vorteil ist, dass sich die gefühlte Sicherheit in einer Stadt erhöhen kann. Bei einer Umfrage, die sich mit der gefühlten Sicherheit von Frauen* und Mädchen* in Städten auseinandersetzte, konnte herausgefunden werden, dass der größte Faktor, der für ein Sicherheitsgefühl sorgt, die Belebtheit einer Gegend ist.[11] Angsträume entstehen also unter anderem dadurch, dass keine soziale Kontrolle erfolgen kann, keine Menschen in der Nähe sind, die helfen könnten. Auch das kann durch eine konsequente Stadtplanung, die auf eine ausgewogene Mischung unterschiedlicher Gebietskategorien hinarbeitet, verbessert werden.
Die „Kreuzberger Mischung“ als Vorbild?
Heutzutage ist die Idee der Mischung Inspiration für neue Bauprojekte. Ein Beispiel dafür ist die Seestadt Aspern in Wien. Die Seestadt ist eines der größten Stadtentwicklungsgebiete in Europa. Dort soll bis 2030 auf einem ehemaligen Flughafengelände ein komplett neues Viertel gebaut werden. Das Besondere hieran ist, dass in der Seestadt sowohl viele Wohnungen entstehen werden als auch beinahe ebenso viele Arbeitsplätze, damit die Menschen im besten Fall zu Fuß ihre Arbeitsstelle erreichen können. Teil der Planung sind außerdem dezentrale Einkaufsstraßen, Betreuungseinrichtungen, Kulturstätten und Gewerbe. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Gestaltung des öffentlichen Raumes gelegt. Das ganze Viertel gruppiert sich um eine Parkanlage mit See, die dadurch als Begegnungsort, Mittelpunkt und im Sommer als Badestelle dienen soll.
In der Seestadt werden unter anderem Sozialwohnungen geschaffen. Das entspricht dem Image der Stadt Wien als Vorreiterin des sozialen Wohnungsbaus. Jedoch wird auch mehr und mehr Kritik am Wiener Wohnungsmarkt laut. Zwar ist der Bestand an Gemeinde- und geförderten Wohnungen prozentual zur Einwohnerzahl und auch in absoluten Zahlen höher als beispielsweise in Berlin (wie auch die Zahl der Neubauten),[12] aber dafür sorgen andere Umstände für Probleme. Zum Beispiel besteht bei einigen neugebauten Sozialwohnungen die Sozialbindung nur zehn Jahre lang. Andere Wohnungen werden zwar als geförderte Wohnungen vermietet, setzen aber trotzdem voraus, dass ein bestimmter Betrag bei Einzug gezahlt wird, die sogenannten Eigenmittel, deren Höhe sich an der Quadratmeterzahl bemisst.[13]
Auch gehen die Meinungen bezüglich des Verkehrskonzepts der Wiener Seestadt auseinander. Obwohl der Motorisierungsgrad der dort dort schon ansässigen Bevölkerung wesentlich niedriger ist als in den umliegenden Bezirken,[14] wird kritisiert, dass die Seestadtinfrastruktur und insbesondere die vierspurige Straße durch den Bezirk nichtsdestotrotz auf den Autoverkehr ausgelegt ist.[15]
Veränderungspotenzial durch Bürger*innenbeteiligung
Das zweite Beispiel für eine Anlehnung an die „Kreuzberger Mischung“ ist das Dragoner Areal in Berlin-Kreuzberg. Dieses wird gerade entwickelt und soll nach Fertigstellung einerseits die zurzeit ansässigen Gewerbetreibenden und Künstler*innen beherbergen. Andererseits sollen viele bezahlbare Wohnungen, eine Kiezkantine, ein Kindergarten und ein Grünraum geschaffen werden.
Bedarfsgerechte Stadtplanung funktioniert nur, wenn auf die Bedürfnisse vieler und verschiedener Personen und Personengruppen Rücksicht genommen wird. Und dafür sind baurechtliche Beteiligungsverfahren, in denen Bürger*innen ihre Wünsche und Interessen einbringen können, zwingend notwendig.
Am Beispiel der Initiative Stadt von Unten, die sich lange Zeit in der Ausgestaltung des Dragoner Areals engagierte, können die Potenziale einer solchen Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und staatlichen Akteur*innen deutlich gemacht werden. Die Initiative Stadt von Unten war im erfolgreichen Kampf gegen die Privatisierung des Geländes tätig und danach auch in der Aushandlung einer Kooperationsvereinbarung zwischen den beteiligten Parteien. In diesem Prozess wurden wichtige Voraussetzungen für die Weiterentwicklung des Dragoner Areals festgelegt. Zum einen wurde ein Entscheidungsgremium geschaffen, in dem alle Parteien, sowohl die Initiativen als auch die Vertreter*innen des Bezirksamtes und der Stadt Berlin, vertreten sind. Zum anderen wurde durch die verbindliche Festlegung von Erbbaurechten zugunsten öffentlicher und gemeinwohlorientierter Bauherr*innen verhindert, dass die Sozialbindung der neu zu bauenden Wohnungen nach den sonst üblichen 20/30 Jahren ausläuft, um der in Kreuzberg fortschreitenden Gentrifizierung etwas entgegenzusetzen. Außerdem soll denjenigen, die zurzeit aus dem Kiez verdrängt werden bzw. schon wurden, bezahlbarer Wohnraum verschafft werden. Drittens wurde vereinbart, dass die jetzt ansässigen Gewerbetreibenden bleiben können.
Grenzen der Beteiligung
Das Beispiel des Dragoner Areals zeigt jedoch nicht nur die Umsetzung einer städtebaulichen Mischung und die Chancen von zivilgesellschaftlicher Beteiligung, sondern auch die Schwierigkeiten, die mit der Entwicklung eines solchen Projektes verbunden sind. Denn trotz der erreichten Ziele hat die Initiative Stadt von Unten das Kooperationsverfahren im Dezember 2021 verlassen.[16] Grund dafür war das schwierige Balance-Halten zwischen aktivistischer Tätigkeit und Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt, vor allem aber ein Ressourcenproblem. Letzteres zeigt die grundlegende Problematik, die solchen städtebaulichen Beteiligungen immanent ist. Das Problem an der zunächst durchgeführten „normalen“ baurechtlichen Beteiligung der Öffentlichkeit ist unter anderem, dass hierbei die Initiativen nicht als politische Akteurinnen wahrgenommen wurden, sondern als Einzelpersonen. Um dem zu begegnen, muss erst unter großem zeitlichen Einsatz ein Kooperationsverfahren ausgehandelt werden, bei dem die Initiativen als entscheidungserheblicher und gleichberechtigter Teil des Prozesses anerkannt werden. All diese Aushandlungsprozesse kosten Kraft, Ausdauer und sehr viel Zeit und können daher nicht von allen Gruppen geleistet werden.
Somit müssten für eine bedarfsgerechte Planung institutionalisierte Beteiligungsformate geschaffen werden, die echte Mitwirkung bei Entscheidungen versprechen und die die personellen Kapazitäten von Einzelpersonen und Initiativen nicht überschreiten.
Und als wichtigste Maßnahme müssten in einem städtebaulichen Planungsprozess von Beginn an Personen mit allen unterschiedlichen Interessen, Qualifikationen und Bedürfnissen einbezogen werden. Insbesondere müssen solche Menschen gezielt angesprochen werden, bei denen aufgrund vielfältiger Diskriminierungserfahrungen größere Hürden bestehen, an öffentlichen Verfahren zur Bürger*innenbeteiligung teilzunehmen. Und wenn eine Beteiligung gar nicht möglich ist, haben Stadtplaner*innen die Aufgabe, Stellvertreter*innen für all diejenigen zu sein,[17] die tendenziell unterrepräsentiert sind.
Wer nutzt welches Verkehrsmittel?
Ein anderes ebenso wichtiges Thema in der Stadtplanung ist die Gestaltung des Verkehrsraums. Nach den Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg wurden viele Städte neu gestaltet. Gleichzeitig wurde das Auto als das große Verkehrsmittel der Zukunft angesehen. Dies sorgte für eine Ausrichtung der Stadtplanung auf den motorisierten Individualverkehr.
Aber wie sieht es nun in der heutigen Realität aus? Ist diese Ausrichtung der Stadt auf das Auto noch zeitgemäß (ganz unabhängig von der ökologischen Notwendigkeit zu Veränderung)? Wer nutzt die Straßen, wer die Gehwege, die Fahrradwege oder den öffentlichen Nahverkehr? Und für wen sind die vielen Autostraßen der Nachkriegszeit ein idealer Verkehrsweg zur Arbeit? Die Antwort auf die letzte Frage lautet: mehrheitlich für Männer.
Eine groß angelegte Mobilitätsstudie von 2017 zeigt deutlich das unterschiedliche Nutzungsverhalten von Frauen und Männern.[18] In der Gruppe der 50- bis 59-Jährigen fahren Männer durchschnittlich 50 Kilometer pro Tag mit dem Auto (drei davon als Beifahrer), während Frauen nur 28 Kilometer mit dem Auto unterwegs sind (acht davon als Beifahrerinnen). Auch fällt auf, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Nutzungsverhalten ab dem Alter von 20 Jahren auftreten und sich dann bis ins hohe Alter ziehen. Nach diesen Erkenntnissen müsste nun genauer betrachtet werden, wie der öffentliche Verkehrsraum derzeit aufgeteilt ist und wie er eigentlich aufgeteilt werden sollte. Die Erkenntnisse aus der Mobilitätsstudie weisen darauf hin, dass eine bedürfnisorientierte Umgestaltung sowohl der Geschlechtergerechtigkeit als auch der Klimaneutralität dienen würde.
Frauen sind pro Tag insgesamt weniger absolute Kilometer unterwegs, legen aber eine größere Anzahl einzelner Wege zurück.[19] Daraus lässt sich schließen, dass sie Verkehrsmittel nutzen, die pro Minute weniger Strecke zurücklegen, also dass sie häufiger mit dem Fahrrad, zu Fuß oder auch mit dem ÖPNV unterwegs sind als Männer. Das ist laut der Mobilitätsstudie in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen der Fall: Frauen legen 30,23 % ihrer Tagesstrecke mit dem ÖPNV zurück, Männer dagegen nur 20,41 %. Also wäre es für eine geschlechtergerechte und ebenso für eine klimafreundliche Verkehrsplanung notwendig, dem Umweltverbund (also ÖPNV, Fahrrad und Fußgänger*innen) mehr Platz auf der Straße einzuräumen als es zur Zeit der Fall ist.
Auch die Frage der Flächengerechtigkeit spielt eine vorherrschende Rolle bei der Verteilung des öffentlichen Straßenraumes. In einem fahrenden Auto sitzen in Berlin durchschnittlich eine bis zwei Personen. Ein Fahrrad würde für den Transport einer Person viel weniger Platz einnehmen. Ebenso parken über die Hälfte der Berliner*innen ihre Autos auf öffentlichen Straßen.[20] Dort nehmen die Autos nicht nur viel mehr Platz ein als parkende Fahrräder, sondern die Unterhaltungskosten der häufig kostenlosen Parkplätze tragen alle, ob sie ein Auto haben oder nicht. Das reiht sich ein in die allgemeinen Umweltkosten, die die Gesellschaft trägt und die bei Autos ungefähr zwölfmal so hoch sind wie bei Fahrrädern.[21] Unter dieser Ausrichtung der Städte auf das Auto leiden auch all die Begegnungsflächen (Kinderspielplätze, Parks, öffentliche Plätze), die dafür sorgen, dass Städte für alle Bewohner*innen lebenswert sind.[22] In der Verkehrsplanung muss also eine große Umverteilung stattfinden, wenn sie endlich die Bedürfnisse aller berücksichtigen soll.
Wie heißt die Straße, in der du wohnst?
Und falls sie nach einer Person benannt ist, welches Geschlecht hat sie? Tatsächlich herrscht bei Straßennamen nicht nur ein großes Problem mit antisemitischen, kolonialzeitverherrlichenden und rassistischen Benennungen, sondern auch ein Problem mit der Repräsentanz aller Geschlechter.
Bei den meisten Straßen, die nach Personen benannt wurden, handelt es sich um Namen von Männern. Zum Beispiel sind in Hamburg 85,9 % der nach Personen benannten Straßen nach Männern benannt. [23] Es herrscht eine sehr große Diskrepanz zwischen den vielen zu würdigenden Lebenswerken von Frauen und ihrer Wahrnehmbarkeit in der Straßenbenennung.
Doch wie kann man das Augenmerk am effektivsten auf das uns heute meist verborgene Wirken von Frauen in der Geschichte lenken? Die einfachste Möglichkeit ist es, bei der Anlegung neuer Straßen zu beschließen, dass diese nur noch nach Frauen benannt werden dürfen. Ein positives Beispiel dafür ist die Straßenbenennung in der Wiener Seestadt Aspern. Dort wurde die Entscheidung getroffen, die neu entstehenden Straßen mit Ausnahme eines Platzes auf Frauennamen zu taufen. Außerhalb von komplett neuen Stadtgebieten ist der Anteil neu entstehender Straßen jedoch relativ gering – dieses Vorgehen würde also erst in einigen hundert Jahren zu einer Gleichberechtigung der Geschlechter bezüglich der Straßenbenennung führen.
Es gibt aber auch andere Wege. Beispielsweise ist es schon lange üblich, nachträglich Doppelbenennungen von Straßen durchzuführen. So ist beispielsweise in Hamburg-Barmbek mit der Schumannstraße verfahren worden. Diese hieß bis 2001 nur nach dem Komponisten und Pianisten Robert Schumann, nun aber ist sie ebenso der Pianistin und Komponistin Clara Schumann gewidmet. Dies ist insofern vorteilhaft, als dass der Name der Straße grundsätzlich erhalten bleibt und damit keine Umbenennungskosten für die Anwohner*innen (Änderung Personalausweis etc.) und keine große Verwaltungsarbeit entstehen. Allein ein Schild mit der Erklärung, wer diese Person war, muss angebracht werden. Der Nachteil hierbei ist aber, dass die Signalwirkung dieses Vorgehens nicht genauso groß ist wie bei einer tatsächlichen Umbenennung.
Wie geht es weiter?
Es gibt viele verschiedene Schritte, die eine Gesellschaft zu mehr Gleichberechtigung führen können. Manche sind schnell getan, viele müssen erst erkämpft werden. In der Gestaltung des öffentlichen Raums und in der Stadtplanung gibt es viele Bereiche, die einer gleichberechtigten Nutzung der Stadt entgegenstehen. Aber es gibt Handlungsmöglichkeiten und ein wachsendes Bewusstsein dafür. Das Konzept der Stadt der kurzen Wege, der 15-Minuten-Stadt, wird immer öfter in die Planung einbezogen, auch aus Gründen des Klimaschutzes.
Und trotzdem muss noch viel passieren. Vor allem müssen neue Beteiligungsformate entstehen, um eine Orientierung an den Bedürfnissen aller zu erreichen, damit die städtebauliche Ungleichbehandlung ein Ende nimmt.
Weiterführende Literatur:
sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 2017, Band 5, Heft 3, Schwerpunkt: Stadt der Reproduktion, https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/issue/view/36.
Umweltbundesamt (Hrsg.), Umweltfreundlich mobil! Ein ökologischer Verkehrsartenvergleich für den Personen- und Güterverkehr in Deutschland, 2020, https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/5750/publikationen/2021_fb_umweltfreundlich_mobil_bf.pdf.
[1] In dem Artikel geht es um veraltete soziale Rollenkonstrukte, insbesondere die klassische Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. Auch fußen die verwendeten Quellen und Umfragen auf der binären Geschlechterordnung und bieten dementsprechend keinen Einblick in die Situation nichtbinärer Personen.
[2] TU München,
Fakultätsgeschichte und bauliche Entwicklung des Stammgeländes, www.ar.tum.de/wir-ueber-uns/geschichte/ (Stand aller Links: 04.04.2022).
[3] Bundesarchitektenkammer, Statistik nach Geschlechtern vom 01.01.2021.
[4] The Pritzker Architecture Prize, Laureates, www.pritzkerprize.com.
[5] Dolores Hayden, Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen, (1981) Überlegungen zum Wohnen, zur städtischen Umwelt und zur menschlichen Arbeit, sub\urban, zeitschrift für kritische Stadtforschung 2017, Bd. 5, Nr. 3, 69-86 (69 f.).
[6] Ebenda, 71 f.
[7] Lexetius, Änderungshistorie des § 3 BauNVO, https://lexetius.com/BauNVO/3,2.
[8] Statistisches Bundesamt, Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte männlich/weiblich/gesamt vom 30.06.2021, eigene Prozentrechnung.
[9] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 146 vom 25.03.2021, www.destatis.de/Pressemitteilungen/2021/03.
[10] Felicita Reuschling, Eine feministische Perspektive für Berlin heute, Kommentar zu Dolores Haydens „Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen” (1981), sub\urban, 2017, Bd. 5, Nr. 3, 115-124 (117).
[11] Plan International, Safe in the City? Zur gefühlten Sicherheit von Mädchen und Frauen in deutschen Städten, 11.
[12] Philipp Mattern, Wohnungsversorgung in Berlin und Wien – Bedarfs- und Angebotsentwicklung seit der Jahrtausendwende, 2016, 12 ff.
[13] Harald Simons / Constantin Tielkes, Wohnungsmarkt Wien – Eine wohnungspolitische Analyse aus deutscher Sicht, 2020, 37, 81-85.
[14] Peter Kraus, Die Seestadt Aspern aus grüner Sicht, boell.de v. 22.02.2021, https://www.boell.de/de/2021/02/22/die-seestadt-aspern-aus-gruener-sicht.
[15] Sarah Kumnig, Wohnbau in der Seestadt: weder ökologisch noch sozial, mosaik v. 22.02.2022, https://mosaik-blog.at/seestadt-sozialer-wohnbau-wien-stadtstrasse/.
[16] Stadt von Unten, Auskooperiert – Warum Stadt von Unten das Kooperationsverfahren zum Dragonerareal verlässt, 31.12.2021, https://stadtvonunten.de/auskooperiert-warum-stadt-von-unten-das-kooperationsverfahren-zum-dragonerareal-verlaesst/.
[17] Stadtentwicklung Wien (Hrsg.), Handbuch Gender Mainstreaming in der Stadtplanung und Stadtentwicklung, Werkstattbericht Nr. 130, 24.
[18] Claudia Nobis / Tobias Kuhnimhof, Mobilität in Deutschland – MiD Ergebnisbericht, 2018, 51-52.
[19] Umweltbundesamt, Auf dem Weg zu einer nachhaltigen urbanen Mobilität in der Stadt für morgen, Mai 2021, 12-13; konkrete Zahlen findet man beispielsweise für Berlin hier:
Tabellenbericht zum Forschungsprojekt „Mobilität in Städten – SrV 2018“ in Berlin, Tabelle 6.1.
[20] Mobilität in Städten – SrV, Tabelle 4.2.
[21] Umweltbundesamt 2020, 22.
[22] Vgl. Höltig in diesem Heft, 57 ff.
[23] Rita Bake, Verschwiegene Frauen – oder: Wie noch mehr Frauen durch einen Straßenamen gewürdigt werden können, Januar 2022, 1.