„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es in Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz. Der Satz ist Grundrecht und Versprechen gleichermaßen – für die Strafjustiz gilt er allerdings nur eingeschränkt, so die These von Ronen Steinke. In seinem 2021 erschienenen Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ rechnet er mit dem Strafjustizsystem ab.
Das Buch beginnt mit einer kritischen Betrachtung der Regelungen zur Pflichtverteidigung. Grundsätzlich kann nicht jede*r Angeklagte in Deutschland ein*e Anwält*in gestellt bekommen. § 140 Strafprozessordnung sieht in gesonderten Fällen Pflichtverteidiger*innen vor, die von Amts wegen bestellt werden. Allerdings erfüllen Betroffene in 90 Prozent der Fälle die gesetzlichen Voraussetzungen nicht. Eine anwaltliche Vertretung bleibt somit aus und Verteidigungsmöglichkeiten bleiben ungenutzt. Haben Betroffene zudem aus kognitiven oder sprachlichen Gründen nicht die Möglichkeit, sich selbst zu verteidigen, haben sie Pech gehabt. Nur wer es sich leisten kann, kann sich bestmöglich verteidigen lassen. Und selbst in Fällen der Pflichtverteidigung zeigt sich: Pflichtverteidiger*innen sind unterbezahlt, da die Abrechnung nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz kaum noch kostendeckend ist. Damit sich eine solche Tätigkeit lohnt, muss möglichst wenig Arbeitszeit investiert werden. Darunter leiden allerdings Qualität und Effektivität der Verteidigung.
Auch das Richteramt wird kritisch untersucht. Richter*innen orientieren sich bei der Strafzumessung an den Lebensverhältnissen der Betroffenen. Das klingt fair, bis man sich vergegenwärtigt, dass prekäre Lebensverhältnisse regelmäßig Indiz sein sollen für ein erhöhtes Rückfallrisiko. Ohne eine positive Sozialprognose bleibt dann die mildere Bewährungsstrafe meistens aus. Auch die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen nimmt stetig zu. Eine solche bekommt, wer eine Geldstrafe nicht zahlen kann oder möchte. Betroffen sind in der Regel Menschen, die am Existenzminimum leben. Den Staat kostet die Haft 150 Euro am Tag, während die Tagessätze der zuvor verhängten Geldstrafen meist deutlich geringer ausfallen. Auch aus wirtschaftlicher Sicht erscheint die Ersatzfreiheitsstrafe damit wenig sinnvoll. Ebenso fragwürdig scheint die Berechnung der Höhe der Geldstrafe. Diese soll sich am Nettoeinkommen der*des Betroffenen orientieren, welches häufig nur geschätzt wird. Eigentum und Vermögen der Betroffenen werden dabei in der Regel außer Acht gelassen, wohlhabende Täter*innen somit privilegiert.
Steinke zeigt auf, dass auch der Umgang mit Vermögensdelikten überdacht werden sollte. Weniger als ein Prozent der begangenen Delikte fallen unter den Begriff der Wirtschaftskriminalität. Dennoch machen sie fast die Hälfte des durch Kriminalität verursachten Vermögensschadens aus. Spätestens seit der Steuerhinterziehung von Uli Hoeneß hat man das Gefühl, dass Wirtschaftsstraftäter*innen besser wegkommen als andere. Das liegt vor allem daran, dass Gerichten und Staatsanwaltschaften oft die Ressourcen fehlen, komplexe Sachverhalte zu ermitteln. Für die Täter*innen kommen daher regelmäßig günstige Deals zustande, während dies in Fällen sogenannter „Elendskriminalität“ unmöglich erscheint.
Ungleichbehandlung durch Gesetz
Steinkes Aussagen belegen, wie erschreckend ungerecht das deutsche Strafjustizsystem wirklich ist. Mit dem Buch will er genau das erreichen: Schockieren, um eine Debatte auszulösen. Das ist ihm insgesamt gut gelungen, da die präsentierten Beispiele und Statistiken den Gleichheitssatz im Strafecht als Phrase erscheinen lassen. Das Buch ist auch für Menschen aus nicht juristischen Bereichen verständlich geschrieben, sodass die Thematik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Zumindest in eines der im Buch angesprochenen Themen ist etwas Bewegung gekommen. Justizminister Buschmann hat vorgeschlagen, die Ersatzfreiheitsstrafen aufgrund von Geldstrafen zu halbieren. Allerdings zeigt dieser Entwurf im Ergebnis auch nur, dass die Politik um Kosteneffizienz bemüht ist. Die Frage, wieso es trotz gegenteiliger richterlicher Anordnung gerechtfertigt sein sollte, eine Person einzusperren, beantwortet der Gesetzgeber nicht.
Steinke leitet seine These aus verschiedenen Bereichen mit Beispielen her. Schade ist allerdings, dass sich gegenseitig verstärkende Faktoren von Armut und Diskriminierung wenig beleuchtet werden. Es wird nicht erklärt, was an der Klassenjustiz „neu“ ist. Die Entwicklungen einer langen Reihe von Schärfungen im Strafrecht, die den offen zu Tage tretenden Klassismus befeuern, werden nicht herausgearbeitet. Als Leser*in stellt sich weiterhin die Frage, warum die von Steinke beschriebene Ungleichbehandlung ihren Niederschlag im Recht gefunden hat. Darauf gibt er leider keine Antwort.
Steinke stellt am Ende des Buches einen Forderungskatalog auf, der strukturelle Reformen des Justizsystems anstoßen soll. Vieles ließe sich leicht umsetzen und würde zu einer unmittelbaren Verbesserung für Betroffene führen. Allerdings fehlt den Vorschlägen die nötige Durchschlagskraft, um die systematische Ungerechtigkeit zu beenden. Die brennende Frage ist, wie Vermögensverhältnisse bei Verfolgung und Verurteilung von Straftaten gerecht berücksichtigt werden können. Es bleibt zu hoffen, dass das Buch eine neue Debatte über die Reform des Strafsystems anstößt.