In der Strafrechtsstation im Referendariat ist es in einigen Bundesländern wie z. B. Berlin, Schleswig-Holstein oder Sachsen verpflichtend, als Referendar:in bei einigen Gerichtssitzungen die Staatsanwaltschaft zu vertreten. Das ist die sogenannte Sitzungsvertretung. Das heißt grob gesagt: Anklage verlesen, Beweise würdigen und eine Entscheidung treffen und vertreten. Zeit, unsere Erfahrungen als linke Referendarinnen einmal kritisch zu reflektieren.
Eine Frau ist wegen Betrugs durch Unterlassen angeklagt. Ihr wird vorgeworfen, als Arbeitslosengeldempfängerin dem Jobcenter ihre Betriebskostenrückzahlungen in Höhe von 224 Euro nicht gemeldet zu haben. Sie ist zuständig für die Pflege ihres herzkranken Bruders. In der Hauptverhandlung soll ich als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft auf eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 30 Euro plädieren, insgesamt also 600 Euro.
Ein Mann ist wegen Diebstahls angeklagt. Ihm wird vorgeworfen, eine kleine Schnapsflasche im Wert von 1,19 Euro geklaut zu haben. In der Hauptverhandlung soll ich als Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft auf eine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten plädieren. Argument: Es ist innerhalb eines Jahres die achte Schnapsflasche, die der Angeklagte entwendet hat. Die Geldstrafen, die vorher verhängt wurden, und die Freiheitsstrafe auf Bewährung hätten wohl keinen Einfluss auf ihn gehabt.
Der vermeintliche Sinn dieser Strafen soll nicht weiter Inhalt dieses Artikels sein. Vielmehr wollen wir einmal kritisch reflektieren, welche Handlungsoptionen uns als linke Referendar:innen beim Ableisten der Strafrechtsstation im Referendariat bleiben. Wir machen uns zu Handlanger:innen eines Strafsystems, das von Grund auf kritisiert werden darf und muss. Es ist das System Knast, der Ausdruck von Staatsmacht und Repression als Hammer von oben und zuletzt auch immer das Zementieren von sozialen Ungleichheiten vor Gericht. Und genau dieses System verkörpern wir nun als Sitzungsvertreterinnen der Staatsanwaltschaft im Gerichtsverfahren – eine Aufgabe, die mehrfach im Rahmen der Strafrechtsstation von einem gefordert wird.
Was tun?
In vielen Bundesländern, z. B. Hamburg, Thüringen und Hessen gibt es die Möglichkeit, die Strafstation statt bei der Staatsanwaltschaft an einem Gericht in Strafsachen bei einem:r Strafrichter:in abzuleisten. Dort liest man Akten und schreibt Strafurteilsentwürfe, muss aber keine Sitzungsvertretungen übernehmen. Jedoch sind die Plätze begrenzt und ob die mögliche Wunschzuteilung erfolgt, ist unsicher. Das Umgehen der Staatsanwaltschaft ist somit nicht für alle eine Option. Landet man nun also im (un-)erwünschten Sitzungsdienst bei der Staatsanwaltschaft, bleiben für linke Referendar:innen vier konkrete Handlungsmöglichkeiten.
Erstens: Dienst nach Vorschrift. Man tut das, was abverlangt wird, plädiert in der Verhandlung wie vor der Verhandlung mit der:dem Einzelausbilder:in besprochen und verbringt die drei Monate unter dem Motto „Augen zu und durch“. Referendar:innen, die sich als links verstehen, dürften dabei regelmäßig in Konflikt mit ihren eigenen Überzeugungen kommen.
Zweitens: Man übernimmt den Sitzungsdienst, fordert rechtlich schwer begründbare Einstellungen oder plädiert immer auf Freispruch. Diese Option dürfte deutlichen Eingang in das Stationszeugnis finden, das wiederum den Prüfer:innen in der mündlichen Prüfung vorliegt und so eventuell Folgen für die Staatsexamensnote hat.
Drittens: Man verweigert den Sitzungsdienst, indem man sich zu den eingeteilten Sitzungstagen krankmeldet, möglichst viel Urlaub in die Station legt oder offen kommuniziert, dass man keine Sitzungsvertretungen machen möchte.1 Dies kann ähnlich wie bei der zweiten Option zumindest unterschwellig im Stationszeugnis auftauchen, mit den bereits beschriebenen Konsequenzen.
Oder Viertens: Man übernimmt den Sitzungsdienst und versucht den minimalen Spielraum, der einem als Referendar:in im Einzelfall bei der Strafzumessung bleibt, bestmöglich zu nutzen.2
Ich entscheide mich für die letzte Option. Das hat im Ergebnis nicht nur politische Gründe, sondern hängt auch stark von den jeweiligen Staatsanwält:innen ab, die einem als Einzelausbilder:innen zugeteilt werden. Diese sollen einen auf die Sitzungsvertretung vorbereiten, mit einem die Handakten und mögliche Strafrahmen diskutieren und können die Zustimmung zu Einstellungen geben oder eben verweigern. Welchen (politischen und) juristischen Spielraum ich bei meiner Entscheidung in der Gerichtsverhandlung habe, hängt also maßgeblich davon ab, wie die Einzelausbilder:in so drauf ist.
Staatsanwältin spielen
Die Sitzungsvertretungen werden an den Amtsgerichten von Staatsanwält:innen übernommen, die in der Regel weder das vorangegangene Ermittlungsverfahren geleitet, noch die entsprechende Anklageschrift verfasst haben. Sie bekommen vor der Sitzung lediglich die sogenannte Handakte für die Verhandlung. Diese Trennung hat mit der Masse an „einfachen“ Verfahren zu tun, Verfahren wie die eingangs beispielhaft geschilderten, die täglich mehrfach verhandelt werden. Damit diese „effizient“ abgearbeitet werden und alle Staatsanwält:innen gleichermaßen verhandeln müssen, sind die Sitzungsvertretungen auf alle Staatsanwält:innen reihum aufgeteilt. So also auch auf mich.
Eine Woche vor der Sitzungsvertretung erhalte ich also die Handakten für die beschriebenen Fälle. Dabei befindet sich in diesen Handakten meistens kaum mehr als die Anklageschrift, der Bundeszentralregisterauszug (BZR) und der Auszug aus dem Zentralen Staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister (ZStV). Im BZR-Auszug sind alle bisherigen Verurteilungen gelistet. Im ZStV-Auszug dagegen alle Ermittlungsverfahren, die je gegen die angeklagte Person im gleichen Bundesland geführt worden sind; ganz unabhängig davon, ob es überhaupt zu einer Anklage oder gar Verurteilung kam. Diese selektiven Informationen sind dann also die Grundlage, auf der sich die Sitzungsvertreter:innen vor Prozessbeginn ein erstes Bild von der:dem Angeklagten machen.
Im nächsten Schritt bespreche ich mit meinem:r Einzelausbilder:in, der:die mich als Referendarin auf die Sitzungstermine vorbereitet, die erhaltenen Handakten und diskutiere mögliche Strafzumessungen. Weniger ambitionierte Ausbilder:innen geben den Strafrahmen einfach vor. Will ich dann in der Hauptverhandlung zugunsten der:des Angeklagten davon abweichen, weil sich die Situation ganz anders als in der Handakte darstellt, müsste ich telefonische Rücksprache mit meinem:r Ausbilder:in halten und meine Position – gegebenenfalls gegen Widerstand – überzeugend begründen können. Das muss man sich als Referendar:in fachlich und tatsächlich erstmal trauen. Normalerweise sitzen dann ja auch noch ein:e Richter:in und die anwaltliche Vertretung des:der Angeklagte:n mit im Saal, also Menschen mit Berufserfahrung, die teilweise die anzunehmende Wissenshierarchie nutzen, um einen zu verunsichern. Nicht alle Referendar:innen fühlen sich wohl im Strafrecht und allein der Versuch eine Mindermeinung – falls diese denn sinnvoll ist – zu vertreten, bedarf eines sicheren Auftretens.
Und doch ist genau hier wohl der Moment, den erhofften Unterschied zu machen. Ich kann mich thematisch reinknien, rechtliche Spielräume ausreizen, auch wenn das ein bisschen Mut kostet, und für die Einstellung des Verfahrens kämpfen, damit zumindest dieser Einzelfall zu einem besseren Ergebnis gelangt. Und losgelöst von meinen juristischen Möglichkeiten, sollte ich als linke Referendarin im Sitzungsdienst – denn auch daran fehlt es in Gerichtssälen gar nicht mal so selten – immer fair und respektvoll gegenüber der:dem Angeklagte:n auftreten und Rassismus, Klassismus oder Sexismus vor Gericht entgegentreten.
Was bleibt?
Am Ende der Strafrechtsstation sind wir Autorinnen uneins. Eine von uns findet die durch die Stationsableistung gemachten Erfahrungen und Einblicke elementar, um die tiefliegenden und strukturellen Probleme und Widersprüche der Staatsgewalt richtig zu begreifen und eben auch zu kritisieren. Sie plädiert am Ende für den Unterschied im Einzelfall und hatte von ihrer Einzelausbilderin einen großen Spielraum für Verfahrenseinstellungen bekommen. Dennoch muss auch sie sich entgegenhalten lassen, dass sie nicht den Rahmen sprengen kann. Es ist unmöglich, vor Gericht frei zu sprechen, oder der formalisierten, anklagenden Rolle der Staatsanwaltschaft zu entfliehen.
Die andere hat viel Urlaub gemacht. Sie glaubt es bedarf keiner eigenen Erfahrung in der Position der Staatsgewalt, um die eigene Kritik am Strafrechtssystem zu schärfen.
Der Konflikt bleibt.