Die Resozialisierung im Gefängnis ist seit 1977 oberstes Ziel des Strafvollzugs. Es obliegt jedem einzelnen Bundesland, die Vorgaben über Behandlungsmaßnahmen zur Verwirklichung dieses Zwecks in Haft umzusetzen. Doch bleibt die Verhinderung vom Rückfall in die Kriminalität in 37,9 % der Fälle aus. Der folgende Fall verdeutlicht die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Umsetzung der Wiedereingliederung nach der Haftstrafe im geschlossenen Vollzug.
Das einleitende Zitat stammt von Hannes (Name geändert), einem 2001 geborenen jungen Mann aus Deutschland, der in einem Interview im Gefängnis seine Anpassung an die Haftbedingungen schilderte. Die Aussagen von Hannes sind wortwörtlich wiedergegeben und wurden im Zusammenhang eines Forschungsprojekts an der Goethe-Universität Frankfurt in einem sozialwissenschaftlichen Interview (Mischform von narrativ und problemzentriert ferner leitfadengestützt)1 Anfang 2020 erhoben. Alle Beteiligten stimmten der anonymisierten Wiedergabe ihrer Aussagen zu.
Hannes ist trotz seines jungen Alters im Erwachsenenvollzug. Wegen multipler Drogendelikte und einem schweren Raub wurde er dieses Mal zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Auch seine erste Haftstrafe war eine Folge von Substanzmissbrauch und Gewaltdelikten. Hannes hat in diesem Zusammenhang bereits Erfahrungen mit Jugendarrestanstalten und etlichen Programmen im Vollzug, die der Resozialisierung dienen sollen, gemacht. Das Ziel dieser Programme ist nach § 2 der Landesstrafvollzugsgesetze ein Leben in Straffreiheit und sozialer Verantwortung. Durch die Maßnahmen im Gefängnis sollen Inhaftierte lernen, diesem Ziel zumindest näher zu kommen. Doch ein Erfolg der Programme scheitert oft mit dem Ende der Zeit im geschlossenen Vollzug, wie die eingangs erwähnten hohen Rückfallquoten belegen. Exemplarisch stellt so der Fall von Hannes dar, wie der Strafvollzug sich schädlich auf die Biografie auswirkt, Maßnahmen der Resozialisierung nur innerhalb der geschlossenen Institution selbst ihre Wirksamkeit entfalten und demnach kritisch hinterfragt werden muss, inwiefern der Freiheitsentzug und die Praktik der Resozialisierung wirkungsschwach bei der Verhinderung von Kriminalität bleiben. Zumindest das vermutet auch Hannes selbst mit Blick auf seine Entlassung, die zwei Monate nach dem Interview bevorsteht: „[J]a, mir ist das eigentlich auch egal. Ich weiß, dass ich irgendwann wieder einfahren werde, weil ich, ich sehe mich nicht, dass ich mich irgendwie ändere oder so durch den Vollzug.“
Der düsteren Perspektive auf seine eigene Biografie gehen Erfahrungen des Scheiterns und der Enttäuschung voraus, die sich mit der Wiederinhaftierung intensivierten. Hannes Situierung als Mehrfachinhaftierter kann als Subjektivierung gefasst werden, in der er sich exemplarisch den institutionellen Ordnungen widersetzte und trotz des Resozialisierungsanspruchs wiederinhaftiert wurde. Subjektivierungsforschende beschreiben mit der Begrifflichkeit ‚Subjektivierung‘ die Gleichzeitigkeit von Fremd- und Selbstbestimmung, in der Handelnde einerseits eigene Positionen entwickeln, sich jedoch andererseits zu institutionellen und normativen Ordnungen verhalten.2 Die Analyse dieser Dynamik erlaubt es, Rückschlüsse über Konstitution von Subjekten zu erlangen und diese auf institutionelle Forderungen wie die der Resozialisierung in Haft zurückzuführen.
Verfehlte Ziele des geschlossenen Strafvollzugs
Ähnlich wie Hannes ergeht es mehr als jedem dritten Inhaftierten im Erwachsenenstrafvollzug: 37,9 % werden trotz der Partizipation an den resozialisierenden Maßnahmen mindestens ein zweites Mal inhaftiert. Der Erhebung nach sind die drei bis fünf Jahre nach Entlassung die risikoreichsten für eine erneute Inhaftierung.3 Die Gründe dafür sind vielseitig, jedoch gelingt offensichtlich nicht, was nach Maßgabe der Resozialisierungsprogrammatik während der Haftzeit erlernt werden sollte. Denn der Zielvorgabe entsprechend sollen im Vollzug der Freiheitsstrafe Gefangene fähig werden, künftig ein Leben in Straffreiheit und sozialer Verantwortung zu führen. Ferner soll die Inhaftierung die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten schützen. Neben der Tatsache, dass sich bei über einem Drittel von Wiederinhaftierungen auch die finanzielle Rentabilität des Gefängnisses in Frage stellen lässt, bleiben vor allem für die Betroffenen auch nach der Entlassung Bestrafungen aufrechterhalten. Denn die stigmatisierende Wirkung durch die Inhaftierung in der eigenen Biografie führt zu Frustration und Ablehnung gegenüber dem Recht und oft jedweder anderen staatlichen Institution.4Ferner sind biografisch erworbene und in der Haft kontinuierlich verstärkte Handlungsstrategien häufig geprägt von Brutalität und erhöhtem Gewaltpotential,5 wenngleich die Maßnahmen im Gefängnis dies qua Resozialisierungsparadigma verhindern sollten.
Der geschlossene Vollzug ist gerade wegen dieser Delinquenz-verstärkenden Umgebung und der Verdichtung des Milieus lange in der Kritik. Die wohl bekannteste ist Foucaults historische Analyse ‚Überwachen und Strafen‘ von 1975. Darin wird akribisch nachgezeichnet, wie sich durch eine Veränderung der Strafe ein System entwickelte, welches vollumfänglich ein Dispositiv der Disziplin zum Ziel hat.6 Anstelle der möglichst öffentlichen Bestrafung und beschämenden Inszenierung des Körpers als Teil dieser tritt ab Mitte des 19. Jahrhunderts etwas ein, dass Foucault als Strafnüchternheit7 bezeichnet. Durch den Vollzug und Arbeitsmaßnahmen sollten delinquente Personen umerzogen werden, anstatt sie sinnlos zu foltern. Das Gefängnis bot dafür die ideale Umgebung, in der die Überwachung der Entwicklung von Gefangenen an inszenierten Tagesabläufen, Arbeitsaufträgen und Behandlungen gemessen werden konnte.8
Wenngleich die Überwachung in Haft heute in den seltensten Fällen derlei absolute Formen annimmt, hat sich am Grundgedanken der Besserung durch die Haftstrafe nichts geändert. Eine Fülle von Angeboten wie das der (psychosozialen) Beratung, Versuche zur Motivation der Inanspruchnahme existierender Hilfen finanzieller und materieller Art, die Integration in schulische Programme oder gar Arbeitsverhältnisse und auch die Hilfestellung bei persönlichen Krisen9 sollen der Idee der Reintegration in die Gesellschaft den Weg bereiten.
Anspruch der Resozialisierung
Die Haftstrafe verfolgt also neben der Bestrafung selbst auch das gesetzliche Ziel der Besserung der Inhaftierten. Doch die eingangs erwähnten hohen Quoten von Wiederinhaftierungen verdeutlichen die Diskrepanz zwischen Anspruch und Umsetzung der Landesstrafvollzugsgesetze. Hannes schildert hinsichtlich seiner Haft eine starke Abstumpfung bezogen auf die strafenden Aspekte des Freiheitsentzugs und erzählt: „Ja, ist hier halt jeden Tag das gleich fast so, irgendwann gewöhnt man sich daran, der Mensch ist ein Gewohnheitstier und man weiß ja man kommt hier irgendwann wieder raus und dann juckt einen das nicht.“ So verbleiben nicht nur in Hannes Fall die Besserungsbestrebungen durch die Maßnahmen eher schwach in ihrer Wirkung, da die Aussicht auf das Ende der Haft die Gefangenen hinnehmen lässt, was es zu erdulden gilt, um den Vollzug zu überstehen. Hannes schildert im Interview zwar, dass er an Maßnahmen teilnimmt – im konkreten Textabschnitt an einem Anti-Aggressionstraining – dies jedoch eher gegen die Langeweile von 23-stündigen Zellenaufenthalten denn mit dem Willen zu Besserung: „Ich guck mir das an was da gemacht wird, ich mach auch alles mit. Aber ob es mir was bringt, weiß ich im Endeffekt nicht, das weiß ich ja erst wenn ich es durch hab. Bis jetzt hat sich noch nichts daran verändert, dass ich – also ich bin immer noch so wie ich bin.“
Damit spricht er an, was wohl vielen Partizipierenden der Resozialisierungsmaßnahmen zuteilwird und die Unterschiede vom Leben innerhalb der strengen Kontrollstrukturen und außerhalb der Haft verdeutlicht: Im vermeintlich geschützten Raum des Gefängnisses wird die Mitwirkung an den Maßnahmen mit dem Ausbleiben der Langenweile positiv sanktioniert. Die Maßnahmen, beispielsweise zur Verminderung von Aggression, zeigen so kurzzeitig Wirkung. Ist die Haftstrafe beendet, fällt der inszenierte Rahmen weg und der vonseiten der Institution gewünschte Transfer der Übung in den Alltag außerhalb des Gefängnisses gelingt nicht. Auf die Frage, was zur Wiederinhaftierung nach seinem ersten Jugendarrest führte, schildert Hannes: „Ja, ich weiß nicht! Als ich rausgekommen bin, hab‘ ich sofort wieder angefangen Teile zu fressen wie sonst was […] Ja, dann nur noch gefeiert und so, mit Kumpels. Ja und dann dacht ich mir irgendwann – ach Scheiß drauf! Und das war noch nicht einmal, weil ich Geld brauchte mit dem Raubüberfall […], das war einfach nur weil ich das mal machen wollte.“
Während des Raubüberfalls verletzt Hannes eine unbeteiligte Person so brutal, dass im Prozess für eine Haftstrafe im Erwachsenenvollzug plädiert wird. Die vorangegangenen Aufenthalte im Jugendarrest werden ihm zur Last gelegt und der rechtliche Schutz, den jugendliche Straftäter:innen normalerweise erfahren, bleibt in seinem Fall aus.
Subjektivierung in Haft
Auch aktuellere Kritik an Gefängnissen bezieht sich auf die Umformung von Personen durch Maßnahmen in der Institution. In Auseinandersetzung mit der Wirkung von Haftstrafen beschreibt die Philosophin Petra Gehring in Anlehnung an Foucault die gewünschte Disziplinierung durch die Haft auch dann als fortschreitend, wenn nicht mehr die äußere Bestrafung durch Folter zur Verhaltensänderung zum Einsatz kommt, sondern eine tiefgreifendere Änderung der Subjekte durch die Haft und die Maßnahmen an sich angestrebt wird: „Ein Wille zur Menschenformung schafft noch die Jüngsten, die Dümmsten und ohnehin die Verbrecher von innen her um“.10 Sie sieht in dieser Veränderung der Bestrafung durch Behandlung eine Kontinuität der Optimierungsregime, welche sich ab dem frühen 20. Jahrhundert durch das Aufkommen der Psychoanalyse und anderer psychologischer Behandlungsformen in den Gefängnissen etablierten und bis heute andauern. Innerhalb dieser Optimierung kann auch der Wandel von Vergeltungsstrafen hin zur Verhaltenssteuerung durch die Resozialisierungsmaßnahmen im Gefängnis gefasst werden. Allein begrifflich ist die Unterscheidung von Bezeichnungen wie ‚Erziehung‘ oder ‚Besserung‘ schwer zu differenzieren.11 So sind auch die Maßnahmen in Haft häufig davon abhängig, wie individueller Wille zur Besserung der eigenen Person besteht. Jedoch geschieht dies nicht, wie in beispielsweise therapeutischen Settings, auf freiwilliger Basis, sondern unter dem Zwang des Freiheitsentzugs. Resozialisierung als Idee verbleibt dann individuell dem inhaftierten Subjekt auferlegt. Die Maßnahmen im Gefängnis zielen durch ihren implizit pädagogischen Charakter so auf eine Änderung der Person an sich ab, die zukünftiges kriminelles Verhalten verhindern soll. Eine Betrachtung der möglichen Subjektivierung durch diesen Prozess in Haft kann Aufschluss darüber geben, wie die Maßnahmen sich ins Gegenteil wenden und wie sie im Fall von Hannes nur zur wiederkehrenden Inhaftierung führen können.
Subjektivierung wird in diesem Zusammenhang als Simultaneität von Fremd- und Selbstbestimmung verstanden.12 Dies meint eine sich wechselseitig bedingende Ordnungsbildung innerhalb sozialisatorischer Prozesse, bei welcher sich Subjekte zu normgebenden Umständen und institutionellen Ansprüchen verhalten.13 Der Theorielinie nach ist Hannes also permanent dem Anspruch der Resozialisierung in Haft unterworfen und verhält sich diesem nach. Die Ausprägungen der Verhaltensweisen werden als ‚Selbstdeutungen‘ bezeichnet. In seinem Fall ist eine beispielhafte Selbstdeutung die seiner Aussage nach manifeste Sicherheit, sich durch den Vollzug nicht zu ändern und zwangläufig wiederinhaftiert zu werden (erstes Zitat nach dem Titel), obschon das Gefängnis qua Resozialisierungsparadigma dies verhindern soll. Die Diskrepanz vom institutionellen Anspruch der Anstalt zur Realität drückt sich nicht nur im Widerspruch zur misslungenen Resozialisierung aus, sondern auch darin, dass Hannes keinen Sinn im Entzug der Freiheitsstrafe zu seiner vermeintlichen Besserung durch die ‚Erziehung‘ in Haft sieht: „Ich weiß, dass ich irgendwann wieder einfahren werde, weil ich, ich sehe mich nicht, dass ich mich irgendwie ändere oder so durch den Vollzug.“
Um nun den Versuch der Resozialisierung einzelner Personen zu untersuchen, ist eine wechselseitige Betrachtung der Maßnahmen ebenso wichtig, wie die Reaktion der Inhaftierten darauf. Dem Anspruch nach sollen die Maßnahmen in Haft zur Resozialisierung beitragen, also Inhaftierte über die Programme zu sozial verantwortlichen und möglichst straffrei lebenden Individuen formen. So werden die Inhaftierten im Strafvollzug mit Subjektvorstellungen konfrontiert, an denen sie möglichst Orientierung finden, – sich also aufrichten und motivieren können, um im Idealfall Selbstverantwortung zu erlernen. Im staatlich größtmöglichen Entzug von Autonomie ist die Idee der Resozialisierung damit aus subjekttheoretischer Perspektive an Zynismus schwer zu überbieten.
„Doing-Prisoner“
Die Subjektivierung geschieht jedoch nicht plötzlich, sondern prozesshaft und schleichend. Inhaftierte erfahren im Gefängnis unterschiedliche Phasen der Einbindung und Gewohnheit an den Freiheitsentzug. Im Versuch der Anpassung ergeben sich so Widerstände, aber auch die Erfahrung, in der größtmöglichen Assimilation die wenigsten Sanktionen zu erfahren. Hannes erzählt auf die Frage, wie er Konflikte mit anderen Inhaftierten und den Angestellten im Gefängnis vermeidet, folgendes: „Also ich bin hier zum Psychologen gegangen, der hat mich zum Psychiater geschickt, dann hab‘ ich da Pillen gekriegt […]. Ich will ja irgendwann wieder rauskommen.“
In diesem konkreten Beispiel fügt sich Hannes der Anforderung des gewünschten Verhaltens und passt seine Selbstdeutung dem von ihm erwarteten Bild an. Die Theoretisierung dieser Schilderung ergibt eine (vermutlich) zeitlich begrenzte Annahme der Selbstkonzeption zur Konfliktvermeidung. Zeitlich begrenzt scheint diese jedoch mit der Perspektive, dass sowohl die Einnahme der Medikamente wenig selbstbestimmt ist, als auch das Ausbleiben der Konflikte, sobald die Einnahme wieder endet. Kurzzeitig jedoch erfährt Hannes durch das Ruhigstellen jedoch Anerkennung und eine bestätigende Perspektive14 hinsichtlich seiner Entlassung („Ich will ja irgendwann wieder rauskommen.“).
Die Wechselseitigkeit des Prozesses von Angebot der Justizvollzugsanstalt und entwickelter Bereitschaft von Hannes zur Medikation seiner selbst ist in diesem Zusammenhang ebenso relevant wie die zeitgleich geschehende Subjektivierung durch die Haft an sich. So verweist der Soziologe Andreas Reckwitz in theoretischer Hinsicht in diesem Kontext auf den kontinuierlichen Prozess, in welchem Subjekte umgeformt „und damit zu gesellschaftlich zurechenbaren, auf ihre Weise kompetenten, mit bestimmten Wünschen und Wissensformen ausgestatteten Wesen [gemacht werden]: das ‚doing subjects‘.“15 Übersetzt man diese Struktur auf den Zwangsrahmen des Gefängnisses, ergibt sich der Theorie nach ein permanenter Umformungsanspruch an die Inhaftierten. ‚Doing-Prisoner‘ wird so zur Programmatik, die innerhalb der Haft ihre Funktion hat, wie medikamentös ruhiggestellte Inhaftierte attestieren, außerhalb jedoch in der Wirkung schnell wirkungslos ist.
Subjektive Auffassung der Resozialisierung
Der beschriebenen Theorielinie nach ist Resozialisierung also auch das gezielte Erzeugen von idealen Inhaftierten, nach deren Vorbild es sich in Haft zu verhalten gilt. Für das Leben nach der Haftzeit besitzen diese Rollenbilder wenig Nachhaltigkeit. Eine Bezugsgröße, hingegen, deren Bedeutung über das Ende der Haftzeit hinaus andauern könnte, ist in vielen Justizvollzugsanstalten die (Lohn-)Arbeit, mit deren Ergreifen auch erfolgreiche Resozialisierung bezeugt wird. So schreibt beispielsweise die JVA Wiesbaden auf ihrer Webseite: „Die erfolgreiche Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft steht wesentlich mit einer erfolgreichen Berufsausbildung im Zusammenhang. Häufig sind Mängel im Leistungsbereich mitursächlich für Straffälligkeit.“16
In Anbetracht der Subjektivierungsheuristik scheinen die negativen Annahmen über die Inhaftierten weder der Resozialisierung zuträglich, noch sonderlich motivierend für die tatsächliche Annahme von Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnissen. Den Inhaftierten wird viel eher eine individualisierte Mängelerscheinung im „Leistungsbereich“ zugeschrieben, die sich schließlich in Straffälligkeit niederschlage. Die Reaktionen auf derlei Vorannahmen fallen der Zahlen nach auf: die mehrfacherwähnten 37,9 % Re-Inhaftierten und auch der Fall von Hannes, der trotz seines jungen Alters die zweite Haftzeit absitzt, stehen maßgeblich für eine Notwendigkeit der Abkehr von der gängigen Praxis der Resozialisierung im geschlossenen Vollzug.
Hannes sieht sich durch die Angebote der Justizvollzugsanstalt eher mit Vorbildern konfrontiert, die dem Gegenbild seiner Lebensvorstellung entsprechen. Mit der Aussicht, durch die Annahme dessen, was die Justizvollzugsanstalt als ideale Entwicklung beschreibt, ein ‚Spießer‘ zu werden, lehnt er dies ab und damit auch die Annahme der Arbeit als resozialisierungsbeschleunigenden Faktor. Er antwortet auf die Frage, was ein Spießer für ihn sei lachend: „Ach jeden Tag aufstehen, arbeiten. Nur noch für den Job leben oder so, und dann keine Ahnung, am Wochenende vielleicht mal Party machen oder so, aber das auch nur bis man 30 ist, weil man dann für die Kinder da sein muss, da hab‘ ich kein Bock drauf.“
Die im Zitat zum Ausdruck gebrachte Selbstdeutung von Hannes unterstreicht seine – in diesem Fall oppositionistisch anmutende – Ablehnung gegenüber der Resozialisierungsprogrammatik. Für ihn erweist sich kaum eine Maßnahme in Haft als sinnvoll, die nicht der unmittelbaren Anpassung dient, wie sich an der Erzählung über Medikamenteneinnahme verdeutlichte. Seine Strategie, der Resozialisierung in Haft fast ausschließlich über Anpassung zu begegnen, stellt unter Beweis, wie schnell der Freiheitsentzug mit dem Anspruch der Wiedereingliederung zur Farce wird. Der Bestrafung durch die Haft selbst lässt sich mit Gewöhnung begegnen, wie Hannes eingangs bekräftigt. Soziale Verantwortung für ein Leben in Straffreiheit bleibt damit als Vorstellung aber wohl nur für die Dauer des Aufenthalts im Gefängnis aufrechterhalten und delinquentes Verhalten wird über die Maßnahmen nachhaltig weder behoben noch reduziert.
Weiterführende Literatur:
Rehzi Malzahn (Hrsg.), Strafe und Gefängnis, 2019.
Holger Schmitt, Ungerechtigkeit im Jugendstrafvollzug, 2019.
Zur Methode: Tina Spies, Migration und Männlichkeit. Biographien junger Straffälliger im Diskurs, 2010.
1 Harry Hermanns, Das narrative Interview in berufsbiografisch orientierten Untersuchungen. Arbeitspapiere des wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- und Hochschulforschung an der Gesamthochschule Kassel 1981, online unter http://www.hermanns.it/publication/hermanns_das_narrative_interview.pdf (Stand aller Links 31.05.2022). iVm.: Andreas Witzel, Verfahren der qualitativen Sozialforschung, 1. Auflage 1982.
2 Vgl. dazu ausführlich: Lena Schürmann et al., Subjektivierungsanalyse, in: Handbuch Interpretativ Forschen, 2018, 858.
3 Destatis Strafvollzug – Demografische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen zum Stichtag 31.3.2020, 2020, online unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Strafverfolgung-Strafvollzug/strafvollzug-2100410207004.pdf?__blob=publicationFile.
4 Thomas Galli, Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen, 2020, 49 f.
5 Il-Tschung Lim / Daniel Loick / Nadine Marquardt / Felix Trautmann, Delinquenzmilieu, Armut und Gefängnis am Beispiel der Ersatzfreiheitsstrafe, WestEnd Neue Zeitschrift für Sozialforschung 14 (2017), 125.
6 Vgl. dazu ausführlich: Aaron Zielinski / Andreas Engelmann, Überwachen und Strafen – Aber was steht eigentlich drin?, Forum Recht 2018, 5.
7 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, 20. Aufl. 2017, 23.
8 Foucault (Fn. 6), 149.
9 Heinz Cornel, Resozialisierung – Begriff, Inhalt und Verwendung, in: Cornel, Heinz u.a. (Hrsg.) Handbuch der Resozialisierung, 3. Auflage 2013, 13 (45).
10 Petra Gehring, Das invertierte Auge. Panopticon und Panoptismus, in Marc Rölli / Robert Nigro (Hrsg.), Vierzig Jahre Überwachen und Strafen. Zur Aktualität der Foucault’schen Machtanalyse, 2017, 21-43.
11 Foucault (Fn. 6), 22 ff.
12 Michel Foucault, The Subject and power, 1982, 788; Saša Bosančić, Zur Untersuchung von Subjektivierungsweisen aus wissenssoziologisch diskursanalytischer Perspektive, 2016, 98.
13 Vgl. Schürmann et. al. (Fn. 1).
14 Andreas Reckwitz, Subjektivierung, in: Robert Gugutzer / Gabriele Klein / Michael Meuser (Hrsg.), Handbuch Körpersoziologie, 1. Auflage 2017, 125 (126).
15 Reckwitz (Fn. 13), 125.
16 Homepage der JVA Wiesbaden, https://justizvollzug.hessen.de/justizvollzug/jva-wiesbaden/ausgestaltung-des-vollzuges.