Warum müssen Menschen, welche ursprünglich lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, letztlich dennoch in Haft — häufig sogar für Bagatelldelikte wie das Fahren ohne Fahrschein? Dieser Artikel kritisiert die Ersatzfreiheitsstrafe aus verfassungsrechtlicher, wie -politischer Sicht und zeigt auf, warum die Zielsetzung des Instruments der Ersatzfreiheitsstrafe als Druckmittel in der Praxis meist verfehlt wird.
Die Ersatzfreiheitsstrafe steht schon seit Längerem in der Kritik. Dass sich etwas ändern sollte, scheint mittlerweile in weite Teile der Politik durchgedrungen zu sein. Dies zeigt sich bereits daran, dass die Überarbeitung des strafrechtlichen Sanktionssystems einschließlich der Ersatzfreiheitsstrafen im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition festgeschrieben ist.1Auch die von einigen Bundesländern praktizierte Aussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe in Zeiten der Pandemie aus Gründen des Infektionsschutzes legt nahe, über das Instrument grundsätzlich nachzudenken. Offenkundig war der Staat ja bereit, zumindest zeitweise auf dieses Instrument zu verzichten. Zuletzt erregte zudem auch der Bestseller „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ des Rechtsjournalisten Ronen Steinke größere Aufmerksamkeit, in dem dieser sich mit der, wie er es nennt, „neuen Klassenjustiz“ auseinandersetzt und dabei auch das aktuelle System der Ersatzfreiheitsstrafe sowie die Kriminalisierung von Bagatelldelikten anprangert.2
Was ist also genau das Problem an der Ersatzfreiheitsstrafe? Es ist Tatsache, dass die Ersatzfreiheitsstrafe die Landeshaushalte finanziell stark belastet. Diesen Aspekt rückt auch die erfolgreiche Initiative „Freiheitsfonds“3 in das allgemeine Bewusstsein, welche es sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele infolge ihres Schwarzfahrens Inhaftierte durch Spenden „freizukaufen“. Dieses Argument ist bereits vielbesprochen und erfährt große Aufmerksamkeit. Daher wird es im Folgenden bewusst ausgespart. Aus linker Perspektive kommt es abseits des Kostenarguments vielmehr darauf an, zu bestimmen, was genau das Problem aus Sicht der betroffenen Menschen ist. Dieser Frage wird dieser Artikel auf den Grund gehen, um dann zu fragen: Wie könnte ein sozial gerechteres Strafrechtssystem aussehen?
Was ist die Ersatzfreiheitsstrafe?
Eine Ersatzfreiheitsstrafe, die mittlerweile häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland, tritt nach § 43 Satz 1 Strafgesetzbuch (StGB) dann automatisch ein, wenn eine ursprünglich verhängte Geldstrafe uneinbringlich ist, das heißt, wenn die durchgeführten staatlichen Beitreibungsmaßnahmen nicht erfolgreich waren. Dabei entspricht ein Geldstrafentagessatz einem Tag in Haft (§ 43 Satz 2 StGB). Die Freiheitsstrafe bedarf sodann der Anordnung der Vollstreckung durch die zuständige Staatsanwaltschaft. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist somit nicht lediglich ein Zwangsmittel, welches die Zahlung der Geldstrafe bei Zahlungsunwilligkeit durchsetzen soll, sondern vielmehr eine echte (Ersatz-)Strafe.4 Ihr Vollzug unterscheidet sich nicht von dem einer gewöhnlichen Freiheitsstrafe. Strafe darf jedoch niemals Selbstzweck sein. Sämtliche Strafzwecke wie Resozialisierung, Schuldausgleich und Prävention sind immer in ein „ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen“.5 Gerade dies ist aber bei der praktischen Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht der Fall.
Die Anzahl der pro Jahr bundesweit vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen wird seit 2002 (damals 56.187) nach der Umstellung der Strafvollzugsstatistik nicht mehr erhoben. Berechnungen und Schätzungen aus verfügbaren Daten gehen aktuell von einem jährlichen Korridor von ca. 40.000 bis 50.000 aus. In der Pandemie haben sich aus Gründen des Infektionsschutzes einige Bundesländer dazu entschieden, die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen auszusetzen. Doch wurden beispielsweise in Sachsen nach Berichten des MDR trotz einer grundsätzlichen Aussetzung noch alleine 2021 1.400 Ersatzfreiheitsstrafen vollzogen.6 Es ist zu beobachten, dass trotz öffentlicher Debatten über die kriminalpolitische Sinnhaftigkeit und Äußerungen einiger verantwortlicher Politiker*innen dazu, die Anordnungen von Ersatzfreiheitsstrafen minimieren zu wollen, die absoluten Zahlen in der Realität steigen.
Interessant ist auch der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe-Inhaftierten im Vollzug. Dieser variiert zwischen den Bundesländern; so waren es 2019 im Saarland lediglich 4,6 %, in Brandenburg 14,8 %.7 Der Anteil scheint auf den ersten Blick somit relativ gering zu sein, allerdings basieren die Zahlen auf einer Stichtagszählung und stellen so immer nur einen tagesaktuellen Schnappschuss dar. Denn erstens ist der Anteil immer abhängig von der Zahl der übrigen Inhaftierten (klassische Strafhaft, U-Haft, Sonstige). Und zweitens machen Personen, welche eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, aufgrund der im Vergleich zu anderen Inhaftierungsarten sehr kurzen Haftzeit und dem dadurch stattfindenden regen Austausch, über das gesamte Jahr betrachtet jedoch im Ergebnis rund die Hälfte der Neuinhaftierungen aus.8
Armut steigert das Risiko für Haft enorm
Feststellbar ist, dass Armut der Hauptgrund dafür ist, dass Menschen Ersatzfreiheitsstrafen verbüßen müssen. Zumeist sind die Betroffenen erwerbslose Menschen, häufig Menschen mit geringem oder unregelmäßigem Einkommen und ohne verwertbares Vermögen, Menschen ohne festen Wohnsitz und Menschen, welche als suizidgefährdet gelten oder bei welchen eine Abhängigkeit von legalen bzw. illegalen Drogen besteht.9 Die der Geldstrafe zugrunde liegenden Sachverhalte sind sehr häufig Fälle, in denen das Gericht wegen der geringen Schwere des Delikts oder der Schuld bewusst auf eine Freiheitsstrafe verzichtet hat. Sehr häufig geht es um das Erschleichen von Leistungen in Form des Fahrens ohne Fahrschein, aber auch um kleinere Eigentumsdelikte wie Ladendiebstahl oder kleinere Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Die Praxis der Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen vorwiegend an den oben beschriebenen Personenkreis läuft einer Resozialisierung zuwider, wobei Resozialisierung bei armutsbedingter Kriminalität ohnehin der falsche Begriff ist. Fakt ist, ein Aufenthalt im Justizvollzug zieht zahlreiche Konsequenzen mit desozialisierender Wirkung nach sich, wie zum Beispiel Stigmatisierung, erhöhte Chance des Kontakts mit gesetzesbrüchigen Verhaltensweisen sowie einen Bruch der sozialen und beruflichen Bindungen. Der Aufenthalt im Vollzug verschlimmert dadurch zumeist die Probleme der Betroffenen. Zudem werden aufgrund der Kürze der Inhaftierung Behandlungsmaßnahmen zur Bearbeitung der Ursachen der Kriminalität kaum ergriffen. Diese Behandlungsmaßnahmen könnten aber die häufig der Kriminalität zugrunde liegende Armut auch gar nicht beseitigen. Dass die Inhaftierung der angestrebten Resozialisierung zuwiderläuft, erkennt auch der Abschlussbericht der Bund-Länder Arbeitsgruppe „Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten – Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB“ an, wenn er konstatiert, dass der Großteil der Geldstrafen unter 90 Tagessätzen liegt, was dazu führt, dass hauptsächlich kurze Ersatzfreiheitsstrafen vollstreckt werden.10 Der Bericht, über dessen Inhalt die Justizminister*innen der Länder 2019 Stillschweigen vereinbarten, wurde erst Ende 2021 im Zuge einer gemeinsamen Recherche von FragDenStaat und dem ZDF Magazin Royale der Öffentlichkeit zugänglich gemacht11 und beinhaltet zahlreiche Daten und Diagramme, welche negative Trends insbesondere hinsichtlich der prekären Lage der Ersatzfreiheitsstrafe-Inhaftierten deutlich machen. Die Praxis, Menschen wegen uneinbringlicher Geldstrafen für ein paar Tage zu inhaftieren, ist nicht nur aus Resozialisierungsgesichtspunkten unsinnig, sondern auch, weil § 47 Absatz 1 StGB kurze Freiheitsstrafen (unter sechs Monaten) eigentlich nur in Ausnahmefällen zulässt. De facto läuft diese Norm momentan ins Leere, wenn, wie dargestellt, die kurzen Ersatzfreiheitsstrafen den Großteil der Freiheitsstrafen ausmachen.
Ist die Haft nicht abwendbar?
Ein auf den ersten Blick schlüssiges Argument der Personen, welche Ersatzfreiheitsstrafen in ihrer jetzigen Form befürworten, ist, dass ihre Vollstreckung doch in der Regel durch ein ausgeklügeltes System an Möglichkeiten vorher abgewendet werden könne. Tatsächlich ist das System der Ersatzfreiheitsstrafen so ausgestaltet, dass erst am Ende einer Kette als letztes Mittel die Haft droht. So kann die Geldstrafe beispielsweise auch von anderen als der verurteilten Person geleistet werden, die Zahlung kann theoretisch durch Ratenzahlung erleichtert werden oder die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe unter gewissen Umständen durch die Erbringung unentgeltlicher gemeinnütziger Arbeit abgewendet werden.
Bögelein et al. beschreiben das Ergebnis, welches trotz all dieser möglichen Zwischenschritte in der Praxis auftritt, wie folgt: „Allerdings ist es so, dass durch die Ersatzfreiheitsstrafe nur faktisch Zahlungsunfähige, nicht Zahlungsunwillige, in der Haft landen.“12 In der Realität sieht es so aus, dass das Risiko, die Haft am Ende der Kette zu erreichen, für arme Menschen, aber auch für solche in anderen vielfältigen Problemlagen, ungleich höher ist. Ein Nachteil ist darin begründet, dass viele Menschen keine vermögenden Freund*innen, Bekannte oder Familienmitglieder haben, welche ihre Strafe bezahlen könnten oder sie sich nicht trauen, diese deswegen zu kontaktieren. Fehlt es zudem an externer Unterstützung, so ist es oft kaum möglich, potenzielle Erleichterungen in Anspruch zu nehmen bzw. Einfluss auf den Gang des Verfahrens zu nehmen. Dies betrifft das Vorbringen von Schuldminderungsgründen im Verfahren, die Beantragung von Zahlungserleichterungen und letztlich auch die Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe durch Arbeitsleistung. Zudem stellt auch schon die postalische Erreichbarkeit häufig eine Hürde dar, etwa bei obdachlosen Menschen bzw. solchen ohne festen Wohnsitz. Hinzu kommt, dass Ersatzfreiheitsstrafen zumeist ein rein schriftliches Strafbefehlsverfahren vorangegangen ist, das heißt, dass die Betroffenen niemals von Angesicht zu Angesicht einem oder einer Richter*in gegenüberstanden, da es keine mündliche Hauptverhandlung gab. Ferner bedeutet die Gewährung einer „notwendigen Verteidigung“ (§§ 140 ff. Strafprozessordnung) in Deutschland leider nicht, dass tatsächlich jeder Person, welche sich aus eigenen Mitteln keine*n Verteidiger*in leisten kann, in jedem Fall vom Staat ein Rechtsbeistand gestellt wird. Dies alles führt im Ergebnis zu einer immensen Schlechterstellung von armen Menschen vor dem Gesetz.
Strafschärfung ohne richterliche Anordnung
Ferner ist die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe für Menschen (unabhängig ob arm oder nicht), welche ursprünglich lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, de facto eine drastische Strafschärfung. Wird durch die zuständige Staatsanwaltschaft die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet, so steht am Ende eine Haftstrafe an, obwohl das Gericht bzw. der*die Richter*in nach Abwägung ursprünglich nur eine Geldstrafe verhängt hatte. Es ist deswegen aus rechtsstaatlichen Gründen unverständlich und nicht hinnehmbar, dass im Falle der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe nicht erneut ein*e Richter*in darüber befindet, ob Zahlungsunwilligkeit oder tatsächlich Zahlungsunfähigkeit vorliegt. In Schweden wird dies beispielsweise bereits so praktiziert. Mindestens eine solche Vorgehensweise ist dringend geboten, weil die Freiheitsstrafe als schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz) im Sinne des ultima ratio Prinzips nur das letzte geeignete Mittel sein darf.
Im Fall der Zahlungsunfähigkeit spricht aus kriminalpolitischen Gründen nichts für eine Inhaftierung der betroffenen Person. Der oft von Gegner*innen der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe beschworene „zahnlose Tiger“, welchen die Geldstrafe demnach ohne Ersatzfreiheitsstrafe darstelle, ist in Wahrheit zumeist schon von Anfang an zahnlos. Denn er kann schlicht kein zielführendes Druckmittel darstellen, wenn Betroffene dem Druck wegen fehlender finanzieller Mittel oder anderer Problemlagen ohnehin nicht nachkommen können. Der aufgebaute Druck ist somit lediglich ein weiteres Zeichen dafür, dass der Staat Armut getreu dem Motto „Geld hat man zu haben“ als selbstverschuldet und -lösbar ansieht.
Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe?
Ronen Steinke bringt den Zustand in den deutschen Gefängnissen angesichts einer steigenden Armutsgefährdungsquote und einer steigenden Anzahl an Ersatzfreiheitsstrafen auf den Punkt: „Es ist ein bemerkenswerter Moment, den das deutsche Strafsystem erreicht hat. Ein Kipppunkt. Und wenn irgendetwas dran sein sollte an dem viel zitierten Gedanken, der wahlweise George Orwell, Winston Churchill und Fjodor Dostojewski zugeschrieben wird – ‚Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse‘ –, dann wäre vielleicht jetzt der Moment erreicht, einmal innezuhalten.“13 Wie nun könnte und sollte ein reformiertes Sanktionensystem aussehen?
Es gibt diverse Ansätze, den Status Quo zu verbessern. So wird teilweise gefordert, die Ersatzfreiheitsstrafe gänzlich abzuschaffen, beispielsweise zugunsten anderer Sanktionsmöglichkeiten, indem etwa die gemeinnützige Arbeit gestärkt und ausgebaut wird. Dies scheint insbesondere dann eine gute Perspektive, wenn zusätzlich soziale Dienste und Träger in deutlich höherem Maße gestärkt werden, als dies heute der Fall ist und vor allem die der armutsbedingten Kriminalität zugrunde liegenden gesellschaftlichen Missstände beseitigt werden. Das heißt, dass Armut durch wirksame Sozialpolitik konsequent bekämpft werden muss. Eines ist klar: Eine armutsbedingte Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen muss unbedingt verhindert werden. Es ist ein gesellschaftliches Totalversagen, dass wir, statt armen Menschen und solchen in vielfältigen anderen Problemlagen Hilfe anzubieten, diese für ihre Situation auch noch bestrafen.
Ein „Überarbeiten“ des Systems der Ersatzfreiheitsstrafe, wie es im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition auf Bundesebene umschrieben ist, kann aufgrund der Unbestimmtheit Vieles bedeuten und wird voraussichtlich nicht dazu führen, dass das Instrument der Ersatzfreiheitsstrafe gänzlich ad acta gelegt werden wird. Der von Justizminister Marco Buschmann (FDP) vorgeschlagene Ansatz, den Umrechnungsmaßstab von Tagesätzen der Geldstrafe in Hafttage zu halbieren ist ein begrüßenswerter Anfang, hilft aber nicht eine Haft für den oben beschriebenen armutsbetroffenen Personenkreis gänzlich zu vermeiden. Auch die Idee, das Schwarzfahren zu entkriminalisieren, es aber gleichzeitig nur von einer Straftat auf eine Ordnungswidrigkeit herabzustufen, führte letztlich immer noch dazu, dass Betroffene am Ende der Kette in Haft kommen könnten. Nur hieße diese dann „Zivilhaft“.
Grundlegende Überarbeitung des Sanktionensystems!
Eine effektive Lösung zur Verhinderung armutsbedingter Haft stellt insofern nur die gänzliche Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe dar; oder im Hinblick auf das Zwischenziel der Vermeidung von Haft als Folge des Fahrens ohne Fahrschein die ersatzlose Streichung der Strafbarkeitsalternative, das heißt ohne eine Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit. Doch zur vollständigen Beseitigung der armutsbedingten Ungleichheit vor dem Gesetz ist mehr notwendig.
Es würde diesbezüglich helfen, wie Ronen Steinke es vorschlägt, die Höhe der Geldstrafen realistisch und fair zu gestalten: Es ist widersinnig, wenn Gerichte Menschen, welche mit etwa 450 Euro Grundsicherung haushalten müssen, einen Tagessatz von 15 Euro mal 30, also 450 Euro auferlegen und diesen Menschen somit nichts mehr zum Leben bleibt.14 Grundsätzlich sollen Gerichte heute schon die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters“ berücksichtigen (§ 40 StGB), allerdings geschieht dies meist nur unzureichend. Eher selten wird der Tagessatz etwa auf 7 oder 10 Euro reduziert. Auch nach einer Geldstrafe muss Menschen jedoch das Nötigste zum Leben verbleiben. Die Situation, dass eine Geldstrafe Menschen, welche ohnehin unter der Armutsgrenze leben, noch weiter verarmen lässt, muss unbedingt vermieden werden. Das heißt, dass eine Grenze gesetzlich bestimmt werden sollte, ab welcher eine Geldstrafe gar nicht mehr verhängt werden darf.
Dass sich arme Menschen einer Ersatzfreiheitsstrafe bzw. nach deren Abschaffung einer Geldstrafe gegenübersehen, kann künftig auf zweierlei Weise verhindert werden: Erstens kann es durch die oben angesprochene Entkriminalisierung von einigen Bagatelldelikten erreicht werden, welche häufig auch typische Armutsdelikte sind. Gerade die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein scheint nicht nur wegen des geringen Unrechtsgehalts sowie der Tatsache, dass Verkehrsunternehmen immer der zivilrechtliche Klageweg offensteht, überfällig. Und zweitens sollte unbedingt darüber nachgedacht werden, die gemeinnützige Arbeit als selbstständige Sanktionsform für Fälle mit geringerem Unrechtsgehalt einzuführen. In anderen europäischen Ländern ist dies bereits der Fall. Dies hätte den Vorteil, dass die gemeinnützige Arbeit Gerichten sodann von vorneherein als Alternative zu einer Geldstrafe bereitstünde – eben für die Sachverhalte, in denen eine Bestrafung nach Reformierung der Straftatbestände, also der Beseitigung von typischen Armutsdelikten, gesellschaftlich noch gewünscht ist, die Haft aber eine unverhältnismäßige Freiheitseinschränkung darstellte bzw. kriminologisch kontraproduktiv wäre. Auch dabei muss aber durch begleitende Maßnahmen, wie die angesprochene Stärkung von sozialen Diensten und Trägern verhindert werden, dass Menschen nur aufgrund ihrer Armut und dadurch verursachter Kriminalität gemeinnützige Arbeit leisten müssen.
Weiterhin im Status Quo zu verharren und Menschen bei armutsbedingter Kriminalität zu inhaftieren, heißt nicht nur die Gefängnistüren, sondern auch unsere Augen vor den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Missständen zu verschließen. Zurzeit bezahlt die Gesellschaft dafür, dass Menschen dafür bezahlen, dass sie nicht bezahlen können. Dies ist ein gleichsam paradoxer wie inakzeptabler Zustand, den es endlich zu ändern gilt. Letztlich bedarf es dafür neben einer grundlegenden Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems einer sozial gerechten Politik. Der effektivste Weg wäre es, etwa Armut und Wohnungslosigkeit wirksam zu bekämpfen und Menschen zu helfen, gar nicht erst in derlei prekäre Situationen zu kommen, dass sie sich alltägliche Dinge, wie ein Ticket für die Bahn, nicht leisten können. Bereits die Einführung eines kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehrs würde das Fahren ohne Fahrschein sofort rein faktisch „entkriminalisieren“ bzw. obsolet machen – die daraus folgenden Ersatzfreiheitsstrafen eingeschlossen.
Weiterführende Literatur:
Bögelein, Nicole/Glaubitz, Christoffer/Neumann, Merten/Kamieth, Josefine, Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2019, 282-296.
Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten – Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB“, Abschlussbericht, https://fragdenstaat.de/dokumente/142049-jumiko-blag-ersatzfreiheitsstrafen/(Stand: 13.06.2022).
Steinke, Ronen 2022, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich, Die neue Klassenjustiz.
Der Artikel wurde im Sommer 2022 verfasst. Aktuellere Entwicklungen sind deswegen nicht berücksichtigt. Der im März 2023 veröffentlichte Gesetzentwurf zur Überarbeitung des Sanktionenrechts (Drs. 20/5913) baut tatsächlich vor allem darauf, den Umrechnungsmaßsstab zu halbieren.
1 SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP 2021, Koalitionsvertrag Bund, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1(Stand: 14.06.2022), 106.
2 Steinke, Ronen 2022, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich, Die neue Klassenjustiz.
3 Siehe: https://www.freiheitsfonds.de/ (Stand: 28.05.2022).
4 Siehe dazu auch: BVerfG, NJW 2006, 3626; BGHSt 20, 16.
5 BVerfG, Urt. v. 21.06.1977 – 1 BvL 14/76.
6 Tominski, Katrin, Statt Geldstrafe ins Gefängnis: 1.400 Ersatzfreiheitsstrafen in Sachsen vollzogen, https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/gefaengnis-statt-geldstrafe-ersatzfreiheitsstrafe-schwarzfahren-100.html (Stand: 15.06.2022).
7 Nach Statistischem Bundesamt berechnet von: Bögelein, Nicole/Glaubitz, Christoffer/Neumann, Merten/Kamieth, Josefine, Bestandsaufnahme der Ersatzfreiheitsstrafe in Mecklenburg-Vorpommern, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2019, 282 (283).
8 Siehe dazu etwa für Mecklenburg-Vorpommern: Ebenda, 282 (287).
9 Ebenda, 282 (284 f.).
10 Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten – Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB“, Abschlussbericht, https://fragdenstaat.de/dokumente/142049-jumiko-blag-ersatzfreiheitsstrafen/(Stand: 13.06.2022).
11 FragDenStaat 2021, Fahren ohne Fahrschein: Wie der Staat Menschen ohne Geld einsperrt, https://fragdenstaat.de/blog/2021/12/03/fahren-ohne-fahrschein/ (Stand: 14.06.2022).
12 Bögelein et al. (Fn. 7), 282 (284).
13 Steinke, Ronen (Fn. 3), 99 f.
14 Steinke, Ronen (Fn. 3), 203.