Heft 1 / 2001:
Fragwürdige Dienstleistung
Bundeswehr im Umbruch
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Himmlers dunkle Schatten
 

"Die Wehrpflicht ist tot - es hat nur noch nicht jeder gemerkt." Diese Feststellung wird immer seltener in Frage gestellt. Kernpunkt ist nur, welche Modelle der Wehrpflicht entgegengestellt werden. In der aktuellen Diskussion taucht immer wieder die Forderung nach einer "Allgemeinen Dienstpflicht" auf. Im folgenden soll ergründet werden, warum die "Allgemeine Dienstpflicht" nicht als ernstzunehmende Alternative erscheint.
Die erste Frage, die bei der Forderung nach einer "Allgemeinen Dienstpflicht" aufgeworfen wird, ist die des Verhältnisses von BürgerIn und Staat zueinander. Der herrschenden Meinung nach bedingt dieses Verhältnis sowohl Rechte als auch Pflichten. Ob die Leistungspflicht dem Staat gegenüber aber so weit gehen kann, daß junge Menschen auf ein Jahr zwangsverpflichtet werden, sollte für fraglich erachtet werden. Militär- und Ersatzdienste sind Zwangsdienste, für die sich die Menschen nicht freiwillig entscheiden. Selbst wenn die praktischen Vorteile einer "Allgemeinen Dienstpflicht" die möglichen Nachteile weit überragen würden, müßte zusätzlich gefragt werden, ob dies den Eingriff in die Freiheit des Individuums rechtfertigen kann oder nicht. Die Autorinnen und Autoren des Grundgesetzes waren sich dieser Tatsache offenbar sehr bewußt, denn sie haben die Bundesrepublik nicht nur mit großer Eindeutigkeit auf die Würde des Menschen, auf seine Freiheit und Selbstbestimmung angelegt, sondern in Art. 12 Abs. 2 Grundgesetz (GG) das Recht des Staates, seinen BürgerInnen Dienste aufzuerlegen, als eindeutige Ausnahme deklariert.
Die Forderung nach einer "Allgemeinen Dienstpflicht" geistert bereits seit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1955/56 durch die politische Landschaft. Egal ob es Handwerksinnungen, Altenheimketten, Theologen, die CDU, mittelständische Unternehmen oder Seniorenverbände waren, die eine allgemeine Dienstpflicht forderten - immer scheiterten sie am Veto der Gewerkschaften unter dem Verweis auf die jüngste Geschichte: Schwarz liegen die Schatten von Himmlers Reichsarbeitsdienst über der Idee einer "Allgemeinen Dienstpflicht". Seit einiger Zeit aber wird der Ruf quer durch das Parteienspektrum laut. Spätestens wenn das Bundesverfassungsgericht die Wehrpflicht kassieren sollte, dürfte es nicht mehr auszuschließen sein, daß sich auch im Bundestag eine breite Mehrheit für die Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" findet.

Verfassungsmäßigkeit der "Dienstpflicht"

Verfassungsrechtlich betrachtet erscheint die Forderung nach einer "Allgemeinen Dienstpflicht" aus verschiedenen Gründen schwierig. So schließt schon die grundgesetzlich verankerte Freiheit der Berufswahl in Art. 12 Abs. 1 GG die Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" aus. Der zweite Absatz des Art. 12 GG formuliert explizit das Verbot von Zwangsdiensten. Er soll die im Nationalsozialismus angewandten Formen des Arbeitszwanges und der Zwangsarbeit mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit ausschließen.1 So ist die Zwangsarbeit als besonders schwerer Unterfall des Arbeitszwanges einzustufen, bei dem die gesamte Arbeitskraft des/ der Betroffenen über eine erhebliche Zeit zur Verfügung gestellt werden muß.2 Und genau dieses ist bei einer "Allgemeinen Dienstpflicht" wohl auch der Fall.
Öffentliche Dienstleistungen gemäß Art. 12 Abs. 2 GG müssen auf einer formell-gesetzlichen Ermächtigung beruhen.3 Materiell sind diese nur zulässig, wenn sie herkömmlich, allgemein und gleich sind. Nach allgemein herrschender Ansicht werden davon aber nur die gemeindlichen Hand- und Spanndienste, die Pflicht zur Deichhilfe und die Feuerwehrdienstpflicht erfaßt.4 Ein weiterer eklatanter Eingriff läge in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vor, das für ein Jahr faktisch außer Kraft gesetzt würde. So schafft die "Allgemeine Dienstpflicht" rechtlose StaatsbürgerInnen, denen weder das Streikrecht noch das Petitionsrecht noch das Recht auf körperliche Unversehrtheit zusteht.5

Internationale Verpflichtungen

Aber auch international begibt man sich mit der Forderung nach einer "Allgemeinen Dienstpflicht" aufs Glatteis. Nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Konventionen der International Labour Organisation und die Charta der Vereinten Nationen untersagen Zwangsdienste. So heißt es in Art. 4 Abs. 2 der Konvention zum Schutz der Menschenwürde vom 4. November 1950: "Niemand darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeiten zu verrichten." 6 Nach Absatz 3 sind davon ausgenommen Arbeiten, die durch ein Gericht auferlegt werden, Militärdienst und - im Falle der Verweigerung aus Gewissensgründen - der Ersatzdienst, Dienstleistungen in Notfällen und Katastrophen, sowie die schon oben skizzierten normalen Bürgerpflichten (darunter Deichschutz, Feuerwehrpflicht, Bürgersteigreinigung). Solche Pflichten sind nach der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes mit der "für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht" gemeint.
Im gleichen Sinne gelten folgende Vereinbarungen: Übereinkommen über die Abschaffung von Zwangsarbeit 7, Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit 8 und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte 9. Die Bundesrepublik würde sich von der internationalen Völkergemeinschaft isolieren, wenn sie um der Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" willen gegen diese Vereinbarungen verstoßen würde.

Dienstpflicht gegen den Pflegenotstand

An die Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" werden insbesondere in sozialpolitischer Hinsicht vielfältige Erwartungen geknüpft. So erhoffen sich die BefürworterInnen primär eine Behebung des Pflegenotstandes dadurch, daß der Bedarf an Pflegepersonal durch Zwangsverpflichtung gedeckt würde. Aber bereits jetzt läßt sich sagen, daß der Zivildienst im sozialen Bereich immensen Schaden angerichtet hat. Die notwendigen Modernisierungen, die erforderlichen organisatorischen Umstellungen, die fachlichen Qualifizierungen sind oft zurückgestellt worden, weil man hoch subventionierte Hilfskräfte in Form von Zivildienstleistenden zur Verfügung hatte.
Allerdings muß auch dafür Sorge getragen werden, daß eine Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht keine gravierenden Folgen für die sozialen Dienste mit sich bringt. Um drastische Kürzungen im Sozialbereich und eine riesige Kostenlawine für die sozialen Sicherungssysteme zu vermeiden, gilt es Lösungen zu finden, die Abseits von Wehrpflicht und der Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" liegen. Fest steht, daß die Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" die Situation im Pflegebereich weiter verschlechtern würde. Die Arbeitsplätze für qualifizierte Kräfte im Sozialwesen würden weiter sinken. Letztlich würde sich der Pflegenotstand noch vergrößern, da die Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" das Sozialprestige von professionellen Kräften weiter abwerten würde. Man würde sich entschließen, das Angebot an Pflegeleistungen weiterhin künstlich zu verbilligen, was sich durch ein Pflichtjahr aber nur vordergründig erreichen ließe: der Pflegesektor ist durch einen Fachkräftemangel, nicht aber durch einen Mangel an Hilfskräften gekennzeichnet.10 Wenn man die Pflichtdienstleistenden nur als angelernte Hilfskräfte ansieht, so könnten sie den Mangel nicht beseitigen, sondern nur die Folgen lindern. Die Qualität der Pflegeleistungen würde sinken, da die Motivation und die Ausbildung der Zwangsverpflichteten unter der von ausgebildeten Pflegekräften liegt.
Durch die Förderung von freiwilligem und ehrenamtlichem Engagement und eine staatliche Kompensation für die kleineren Beschäftigungsstellen ist der Ausstieg aus der Wehrpflicht ohne die Einführung einer "Allgemeinen Dienstpflicht" möglich. Im übrigen gilt: Der Zivildienst ist ausschließlich ein Wehrersatzdienst und keine eigenständige Dienstpflicht. Und schon heute verstößt die gängige Praxis von Einsatzfeldern Zivildienstleistender gegen das Gebot der Arbeitsmarktneutralität des Zivildienstes.

Erzwungene Solidarität?

Von den BefürworterInnen einer "Allgemeinen Dienstpflicht" wird angeführt, die Ableistung eines solchen Dienstes würde den Jugendlichen wieder verstärkt die Möglichkeit bieten, soziale Kompetenz zu erlernen. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, die "Allgemeine Dienstpflicht" sei der Ausdruck der persönlichen Mitverantwortung der BürgerInnen für den Schutz des Gemeinwesens. Diese Vorstellung läuft aber ins Leere, da gerade Zwangsdienste nicht Ausdruck der persönlichen Mitverantwortung sind.
Eine ausgeprägtere soziale Verantwortlichkeit und Kompetenz lassen sich ausschließlich durch Freiwilligkeit erreichen. Eher ist zu befürchten, daß sich nach der Ableistung der "Allgemeinen Dienstpflicht" die Mentalität ausbreitet, man habe seinen Teil der Solidarität schon geleistet. Verbindend ist dabei die Feststellung, daß 16 Jahre konservativ-liberale Politik zu einer Entsolidarisierung unserer Gesellschaft geführt haben. Doch auch hier gilt, daß die entscheidenden Hebel für eine Kursänderung dort zu finden sind, wo die Weichen falsch gestellt wurden: auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es ist zu befürchten, daß der Zwang Trotzreaktionen in Form von Motivationslosigkeit und Arbeitsverweigerung zur Folge hat. Die Folgen für die zu Betreuenden wären verheerend. Übrigens ein Phänomen, daß bereits aus den heutigen Zwangsdiensten Wehr- und Zivildienst bekannt ist.
Nach Auskunft des Bundesjugendministeriums kamen im Jahre 1998 bereits drei BewerberInnen auf eine freie Stelle im Bereich des Freiwilligen Sozialen Jahres. Ähnlich sind auch die Erfahrungswerte des Diakonischen Werkes Württemberg, wo die Nachfrage ebenfalls das Angebot übersteigt. Das zeigt, daß heute schon bei jungen Menschen die Bereitschaft da ist, Dienst für die Gesellschaft auf freiwilliger Basis zu leisten. Ergänzend muß diese Freiwilligkeit durch bessere Entlohnung, ausreichende soziale Absicherung und Anrechnung von Wartezeiten im Studium gefördert werden. Auch denkbar wäre, daß der Freiwilligendienst mit einer Berufsausbildung abgeschlossen werden kann bzw. die Zeit und Tätigkeit als Berufspraktikum anerkannt wird.
Grundsätzlich ist festzuhalten, daß in einem Staat, der auf der freien Übereinkunft der Menschen beruht, Solidarität durch Zwang kaum herzustellen ist. Zwar hat gerade die Linke mit der Errichtung von sozialstaatlichen Institutionen Pflichtmechanismen zur Festigung von Solidarität durchgesetzt, doch ist der von ihnen ausgehende Zwang auf die Freiheitsrechte des einzelnen bei weitem nicht so stark wie bei einem Zwangsdienst. Solidarität wie auch jedes andere moralische Handeln kann mit Zwangsmitteln des Staates nicht oktroyiert werden. Demokratie braucht eine Solidaritätskultur der Freiwilligkeit, nicht eine Kultur des Zwanges.

Honza Griese studiert Jura und Politik in Tübingen.

Anmerkungen:

1 Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BverfGE) 22, 380 (383); 74, 102 (116).
2 Jarass/Pieroth, GG, Art. 12 Rn. 58.
3 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 12 Rn. 490.
4 BVerfGE 22, 380 (383).
5 Vgl. Art. 17a GG.
6 Bundesgesetzblatt (BGBl) 1954, II, 14.
7 BGBl 1959, II, 442.
8 BGBl 1966, II, 641.
9 BGBl 1973, II, 1534.
10 Löhle Der Zivildienst 4/1994, 1.

Literatur:

Groß, Jürgen / Lutz, Dieter S. (Hrsg.), Wehrpflicht ausgedient, 1998.
Löhle, R., Die Wohlfahrtsverbände machen keine Geschäfte, Interview mit dem Bundesbeauftragten für den Zivildienst, in: Der Zivildienst 4/1994, S. 1.
Sehmsdorf, Matthias, Wehrpflicht versus Freiwilligenarmee: ausgewählte ökonomische Aspekte des Wehrsystems, 1998.