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"Ihm, dem Oberleutnant, schwebe eine Armee der Reinheit, der Sauberkeit
vor, - aber es sei hier wohl nicht der Ort, eine eigene Wehrphilosophie
zu entwickeln... Ihm schwebe ein ganz anderes Ausleseverfahren für Berufssoldaten
vor" 1. Die Frage, welche Art der
Rekrutierung von Soldaten der Reinheit eines Verfassungsstaates am besten
entspricht, hat erstaunliche Wandlungen, man könnte gar sagen Kapriolen,
vollzogen. Derzeit scheint die Konzeption von Berufsstreitkräften Konjunktur
zu haben, aber dies könnte eine sehr vergängliche Momentaufnahme sein.
Bedenkt man, dass die Wehrpflicht eine äußerst lange Tradition hat
2, sollte man sich der Konsequenzen bewusst sein.
Der Begriff des Soldaten leitet sich von Sold ab, eine Bezahlung für geleistete
Kriegsdienste. Damit wird auf die Anfangsgründe einer Berufsarmee verwiesen.
Es handelt sich dabei im übrigen um eine europäische Wurzel, da "solt"
französische Goldmünzen waren. Von Beruf in einem emphatischen Sinne zu
sprechen, wäre freilich zuviel. Die Schicht, die sich als Soldaten verdingte,
pflegte nicht in hohem sozialen Ansehen zu stehen. Eine englische Quelle
spricht von "vagabounds, scoundrels and criminals", was es wohl recht
genau trifft. Das zum Teil sehr rigide Wehrstrafrecht anglo-amerikanischer
Prägung hat in dieser Klientel noch immer seine Wurzeln.
Demgegenüber erschienen Wehrpflichtarmeen zunächst als Armeen der Reinheit.
Historisch zuletzt stand dabei die Erfahrung mit der Wehrmacht Hitlers.
Wie so viele "Lehren aus Weimar" ist auch diese nicht ganz schlüssig,
denn es handelt sich bei der Wehrmacht natürlich nicht um eine Berufsarmee.
Irgendwie nährte sich nach 1945 aber doch der Glaube, dass eine Wehrpflichtarmee
eine historische Folgerung aus dem 2. Weltkrieg wäre. Dementsprechend
wurde die Bundeswehr bei ihrer Gründung 1957 auf die Wehrpflicht gestützt.
Dies sollte sich wohl mehr gegen die Dominanz der traditionellen militärischen
Führungseliten richten, als gegen den Beruf "Soldat". Die wahre Begründung
für eine Wehrpflicht lässt sich bei weitem besser an den französischen
Revolutionsheeren zeigen, die gegen die Dämme des Absolutismus kämpften
(levée en masse) und von Carnot immer als Ausdruck der Gleichheit aller
Bürger propagiert wurden.
Das Bürgertum begann gegen den Adel um eine Beteiligung an den Streitkräften
zu kämpfen. Zum einen weil die Alternative zum Wehrdienst meist aus ganz
empfindlichen finanziellen Verpflichtungen bestand, zum anderen da man
in dem Recht, die neu gewonnenen Freiheiten der ersten Republik zu verteidigen,
eine Anerkennung des eigenen Bürgerstatus sah. Dementsprechend findet
sich der Wehrdienst auch in der allen französischen Verfassungen angehängten
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Diese Begründung spielt
heute bei der Frage des Einsatzes von Wehrpflichtigen in Krisengebieten,
insbesondere von UN-Einsätzen, eine Rolle, da die Parallelität von Bürgerrechten
und Bürgerpflichten hier aufgehoben wird. Denn der Wehrpflichtige begibt
sich nicht mehr dafür in Gefahr, dass der Staat ihn und die Gemeinschaft
militärisch schützt, sondern weil der Staat völkerrechtliche Verbindlichkeiten
einlösen muss.
Der militärische Erfolg, den die derart strukturierten Heere hatten, wurde
im übrigen zu einer einzigartigen Erfolgstory: Der Status des Soldaten
in Europa wurde mit positiven Tugenden verknüpft, die ihn im Vergleich
z. B. mit Soldaten im China sozial er- und überhöhte und die Berufspläne
bürgerlicher Familien entscheidend beeinflusste. Obwohl keine besondere
Selektion nach Fähigkeit und Eignung stattfand, verschwammen Bürger- und
Soldatenpflichten in einem Tugendnetz derart, dass sie nahezu deckungsgleich
wurden. Der Soldat konnte sich eines vergleichsweise hohen sozialen Status
rühmen, einerseits wegen der politisch-philosophischen Überhöhung der
Wehrpflicht (z. B. bei dem Historiker und Staatstheoretiker Justus Möser),
andererseits wegen des hohen Stellenwertes genuin soldatischer Tugenden.
Die Wehrpflichtsysteme Frankreichs und Preußens wirkten auf alle anderen
Staaten ein. Diese orientierten sich entweder am französischen Modell
(Niederlande) oder am deutschen (Österreich, Dänemark). Der Grundunterschied
besteht vor allem darin, dass entweder der Aspekt einer effektiven Verteidigung
oder der eines Gemeinschaftsdienstes überwiegt. 3
Ferner kann man auch die historische Entstehung der Wehrpflicht anführen,
in den Niederlanden z. B. 1814, nach den napoleonischen Kriegen. Zu einem
größeren Grad eigenständige Konzeptionen findet man in einigen skandinavischen
Staaten (Finnland, Norwegen). Neben den hier aufgeführten Staaten ist
die Wehrpflicht in einigen anderen abgeschafft worden. Zu nennen sind
Belgien (1995) und Spanien, wo die seit 180 Jahren bestehende Wehrpflicht
aufgrund eines Beschlusses vom August letzten Jahres ebenfalls bis Ende
2002 abgeschafft werden soll. Damit erfüllt die konservative Partei (PP),
die seit 1996 regiert, endlich ihr Wahlversprechen. An die Stelle der
bisherigen Wehrpflichtarmee soll eine aus ca. 120 000 Personen bestehende
Berufsarmee treten. Eine ähnliche Beschlusslage besteht in Portugal. Nimmt
man die NATO-Staaten, halten also nur noch fünf (Deutschland, Norwegen,
Dänemark, Griechenland, Türkei) an der Wehrpflicht fest.
Niederlande
In einer europäischen Dominokette fällt also die Wehrpflicht und es ist
spannend, sich die Begründungen hierfür gerade in den anderen Staaten
anzusehen. In den Niederlanden wurde die Wehrpflicht zum 1. 1. 1997 abgeschafft.
Grundlage dieser Entscheidung war vor allem eine neue Bewertung der sicherheitspolitischen
Lage nach Ende des Kalten Krieges. Dazu ist anzumerken, dass die Idee
des Wehrdienstes in den Niederlanden immer eingegliedert war in ein Konzept
einer nationalen Dienstpflicht (national service). Dieses Konzept, das
auch in den Vereinigten Staaten eine gewisse Relevanz erlangt hat, geht
von der Vorstellung aus, dass eine Bürgerpflicht dahin besteht, den Staat
in elementaren Fragen zu unterstützen. Die Verteidigung ist dabei nur
ein Bestandteil, gleichberechtigt daneben treten Zivil- und Entwicklungsdienst.
Fällt die Notwendigkeit einer Verteidigung weg, besser: reduziert sie
sich quantitativ, verändert sich hinsichtlich der Notwendigkeit anderer
Dienste nichts.
Einen so hohen Grad an Unabhängigkeit haben die einzelnen Pflichten dann
allerdings in der politischen Debatte doch nicht, wenngleich dies möglich
wäre. Obwohl daher hinsichtlich der Abschaffung des Wehrdienstes ein parteiübergreifender
Konsens bestand, herrschte in Bezug auf andere Dienste, insbesondere über
den in den Niederlanden bedeutsameren Entwicklungsdienst, größere Unklarheit.
Zwar wurden die verschiedenen Arten der nationalen Dienstpflichten weniger
als in der Bundesrepublik gegeneinander ausgespielt und die Frage des
Personalmangels im Sozialbereich wurden offener diskutiert, dennoch konnte
das Parlament sich zu einer sozialen Dienstpflicht nicht entschließen.
Damit gehörte es auch zur Ironie dieser Geschichte, dass nachdem die letzten
ordentlichen Wehrpflichtigen bereits Mitte 1996 in Breda die Kasernen
verließen, nur noch einige Totalverweigerer übrig blieben.
Eine soziale Dienstpflicht wäre im übrigen auch nur um den Preis einer
Verfassungsänderung zu haben gewesen. Davor schreckte man aber trotz der
notwendigen Mehrheiten zurück. Das Hauptargument war die Möglichkeit,
bei veränderten sicherheitspolitischen Konstellationen wieder auf die
Wehrpflicht zurückgreifen zu können. Offiziell bleibt daher die Wehrerfassung
bestehen und die Verfassung sieht in Art. 97 nach wie vor die Möglichkeit
einer Einberufung vor. Im übrigen, dies ist eine niederländische Besonderheit,
nicht nur für Staatsbürger des Königreichs, sondern auch für Personen
mit permanentem Aufenthaltsrecht. Die ersten Erfahrungen mit den umstrukturierten
Streitkräften sind durchaus gut, zumal in diesen Prozess andere Modernisierungsmaßnahmen
eingegliedert wurden, wie z. B. die Schaffung eines besonderen Beschwerdeverfahrens
in Fällen sexueller Belästigung. Dieses Reformpaket wurde bislang überwiegend
positiv aufgenommen.
Frankreich
Das Ende des Kalten Krieges spielte auch für die Diskussion in Frankreich
eine zentrale Rolle. Hervorzuheben ist aber, dass dort weniger pazifistische
Argumente, sondern - jedenfalls soweit es die Regierungsparteien betrifft
- die Bedeutung Frankreichs angesichts einer veränderten Struktur von
NATO und europäischen Verteidigungsinitiativen im Vordergrund stand. Daher
wurde die Abschaffung der Wehrpflicht im Zusammenhang mit einer Verbesserung
der Einsatzfähigkeit der französischen Streitkräfte geführt. Die Abschaffung
der Wehrpflicht ist in Wahrheit zunächst nur eine Suspension im Rahmen
eines bis 2002 dauernden Versuchsprojektes zur Professionalisierung der
Streitkräfte.
Dabei ist zu bedenken, dass Verteidigungs- und Außenpolitik immer auch
Gegenstände des politischen Handlungsspielraumes des Präsidenten sind.
Dies gilt erst recht in Kohabitationszeiten. Obwohl die erforderlichen
gesetzlichen Änderungen von der sozialistischen Mehrheit mitgetragen wurden,
handelte es sich politisch mehr um ein Projekt des neogaullistischen Präsidenten
Chirac. Die dargestellten Ergebnisse waren also gerade nicht Resultat
einer offenen Debatte über die Wehrstruktur der französischen Streitkräfte,
sondern wurden durch eher klandestine Diskurse bewirkt. Dies hängt auch
damit zusammen, dass man vor allem in Frankreich gegen den historischen
bedingten hohen Stellenwert der Wehrpflicht ankämpfen musste und eine
umfängliche Diskussion wahrscheinlich gerade vermeiden wollte. Rechtstechnisch
war der eingeschlagene Weg mit dem niederländischen durchaus vergleichbar,
wobei die Verfassung die Zusammensetzung der Streitkräfte ohnehin nicht
festgelegte. § 116 des Code du Service National sieht weiterhin eine Wehrpflicht
für den Verteidigungsfall vor, wobei diese sogar symbolisch in Form eines
Wehrdiensttages noch vollzogen wird. Dieser Wehrdiensttag soll dazu dienen,
die sonst der Wehrpflicht zugute gehaltene Verbindung zwischen Streitkräften
und Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Überspitzt könnte man sagen, dass
in Frankreich und den Niederlanden Freiwilligenstreitkräfte mit einem
Wehrpflicht-Appendix vorgehalten werden, während in der Bundesrepublik
an der Wehrpflicht-Armee festgehalten wird, allerdings mit einem funktional
bedeutsameren Freiwilligenteil. Derzeit werden deshalb einige Anstrengungen
unternommen, um den vom Präsidenten angeordneten Aufbau von Freiwilligenstreitkräften
anzugehen.
Italien
Einen noch größeren Zeitrahmen hat man sich in Italien gesetzt. Nach
einem relativ langwierigen Vorlauf hat die italienische Regierung am 26.10.
letzten Jahres die stufenweise Abschaffung der Wehrpflicht beschlossen.
Dieses schrittweise Vorgehen hängt damit zusammen, dass man die Abschaffung
des Wehrdienstes in den Prozess der Truppenreduzierung auch zeitlich eingliedern
möchte. Bis Ende 2006 sollen die italienischen Streitkräfte von 260.000
Mann auf 190.000 Soldaten reduziert werden, wobei ein Großteil (ca. 50
%) dieses Kontingentes dann auf die Wehrpflichtigen entfallen.
Kennzeichnend für die italienische Debatte ist, und darin bestehen Parallelen
zur deutschen Diskussion, die Normalität, die von offizieller Seite in
Bezug auf die Veränderung der Wehrstruktur herausgestellt wird. Anders
als in Frankreich und den Niederlanden schälte sich kein Hauptargument
heraus, sondern Verteidigungsminister Mattarala spricht von allgemeinen
Reformen der Streitkräfte, zu denen auch die Eingliederung der bewaffneten
Polizei gehört. Die Regierung macht also aus der Wehrpflicht kein eigenständiges
Thema. Stattdessen wurde mit der Eingliederung in multinationale Verbände,
aber auch mit Kostengesichtspunkten argumentiert. Demgegenüber hielten
andere Gruppierungen, die für die Abschaffung der Wehrpflicht mehr aus
der Sicht der Wehrpflichtigen votierten, die unter dem Gesichtspunkt der
beruflichen Entwicklung als nachteilig angesehen wurde, es für nicht mehr
zumutbar, den jungen Männern eine Verschwendung von 10 Monaten ihres Lebens
in Form der bei Armeen vorzufindenden konzentrierten Langeweile aufzuerlegen,
nachdem sich die sicherheitspolitische Lage in Europa derart geändert
habe. Schließlich wurde auch die Benachteiligung der Frauen in den Streitkräften
angeführt: Im Unterschied zu Deutschland ist die verfassungsrechtliche
Situation weniger problematisch, da Art. 52 der italienischen Verfassung
nur von "Bürgern" spricht. Hier war es immer so, dass verschiedene Vorfälle
von Diskriminierungen weiblicher Soldaten in den Streitkräften ganz grundsätzliche
Zweifel an der Möglichkeit einer Gleichberechtigung in der Armee aufkommen
ließen. Um dieser Frage wenigstens in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung
bei der Wehrpflicht entgehen zu können, wurde deren Aufhebung vorgeschlagen.
So weit man dies bislang sagen kann, werden alle größeren Parteien den
Ausstieg aus der Wehrpflicht mittragen. Dies mag auch damit zusammenhängen,
dass Verteidigungsminister Mattarala parteipolitisch wenig gebunden ist
und so mit allen Gruppen in einen Diskurs treten konnte. Es sollte freilich
auch nicht verschwiegen werden, dass Bestandteil der Diskussion eine stärkere
Berücksichtigung italienischer Vertreter auf europäischer Kommandoebene
war, weil man der Ansicht ist, mit einer reformierten Armee mit den anderen
Staaten wieder mithalten zu können. Zudem ist bei aller Steigerung der
Effektivität jedenfalls mittelfristig eine Erhöhung des Verteidigungsetats
angestrebt.
Verfassungsrechtlich sieht es in Italien gegenwärtig so aus, als würde
Art. 52 der italienischen Verfassung, der die "heilige Pflicht des Bürgers"
festlegt, unverändert bleiben, um im Krisenfall wieder auf Wehrpflichtige
zurückgreifen zu können. Da sich die Vorgänge noch denen der parlamentarischen
Beratungen befinden, kann zu der endgültigen Umsetzung noch wenig gesagt
werden. Im Grunde wird meist nur von einer Verkleinerung der Streitkräfte
gesprochen; dass hiervon vor allem die Wehrpflichtigen betroffen sein
werden, lässt sich nur mittelbar erschließen. Aus einigen der wiedergegebenen
Äußerungen kann man aber entnehmen, dass diese Abschaffung der Stärkung
des italienischen militärischen Potentials dienen soll.
Bürgerpflichten ohne Dienstpflicht
Die meisten anderen westeuropäischen Staaten, die die Wehrpflicht bislang
beibehalten, beschränken sich - vergleicht man dieses mit internationalen
Maßstäben - auf einen äußerst fragmentarischen Wehrdienst, der mit Ausnahme
von Griechenland der Idee einer allgemeinen Wehrpflicht kaum noch entspricht.
Gründe dafür sind die den veränderten Aufgabenstellungen entgegenstehenden
rechtlichen und tatsächlichen Hindernisse beim Einsatz von Wehrpflichtigen.
Rechtlich ist bereits auf die bei Blauhelm-Einsätzen auftretende Probleme
hingewiesen worden, tatsächlich nimmt die für die Ausbildung zur Verfügung
stehende Zeit immer mehr ab, so dass Wehrpflichtige entweder nur auf Grund
ihrer Vorbildung eingesetzt werden können oder Funktionsdienstposten,
d. h. im Grunde voraussetzungslose Dienste wie Wache oder Transport, zu
versehen haben. Hier erinnert bereits vieles wieder an das preußische
Krümpersystem mit seinen sehr oberflächlichen Ausbildungsbemühungen.
Betrachtet man diese Entwicklungen, so ergeben sich ganz verschiedene
Beobachtungen: Die erhöhte Motivation von Wehrpflichtarmeen gegenüber
Freiwilligenstreitkräften hat sich geradezu in ihr Gegenteil verkehrt.
Dies gilt genauso für die physische Ebene. Während traditionelle Armeen
im wesentlichen durch die Personalstärke gekennzeichnet waren, ergibt
sich heute ein deutliches Übergewicht der technischen Kampfmittel. Außer
auf den Funktionsdienstposten wird ein Soldat aus militärischer Sicht
erst im Zusammenhang mit der Bedienung des technischen Kampfmittels wertvoll.
Demgegenüber hat sich an der Parallelität von Bürgerrechten und Verteidigungspflichten
eigentlich nichts geändert und die Verfassungen betonen diesen Zusammenhang
nach wie vor. Hier ist es mehr dem Umstand geschuldet, dass die zu erwartenden
militärischen Auseinandersetzungen außerhalb dieses Synallagmas liegen,
dass es zu einem Bewertungswandel gekommen ist. Allen Staaten gemeinsam
ist, dass es an einem klaren Bekenntnis zum Wechsel der Wehrstruktur bislang
noch fehlt. Hier wäre in Deutschland eine grundsätzlichere Diskussion
anzumahnen, als sie z. B. in Frankreich unternommen wurde. Hybride Konstruktionen
wie Freiwillig Länger Dienende oder der Wehrdiensttag sind Kennzeichen
einer "militärischen Transformationszeit". Diese Unsicherheiten sind nicht
zuletzt bedingt durch den Wertewandel, den die Wehrpflicht durchgemacht
hat. Die Dienstfahrt bei Böll endet mit der Verbrennung eines Bundeswehrfahrzeugs,
wobei niemand weiß, ob es sich um Sachbeschädigung oder Kunst in Form
eines Happenings handelt. Das Ende der Dienstpflicht scheint ebenso unklar
zu sein. Von einem Symbol der Gleichberechtigung, das noch in der Diskussion
um die Wehrgerechtigkeit seine Kraft entfaltet, hat sie sich zu einer
kaum noch zu legitimierenden Freiheitsbeschränkung entwickelt. Umgekehrt
sind die Freiwilligenstreitkräfte den Ruch der Söldnerheere los geworden
und haben sich stattdessen zu einem Markenzeichen von Professionalität
und Effektivität entwickelt. Anzumerken ist hier freilich, das einige
der traditionellen Freiwilligenstreitkräfte in der Beachtung von Rechtspositionen
der Soldaten/innen kein durchweg positives Bild bieten. Auch dies sollte
in der Debatte eine Rolle spielen, bevor man das Rad der Geschichte ein
Stück weit rückwärts dreht.
Ein wenig scheint es so, als habe man sich bei dem Versuch, die Streitkräfte
der veränderten politischen Lage in Europa anzupassen, die wenig widerstandsfähige
Wehrpflicht ausgesucht. Dies hat politische und rechtliche Facetten, da
von Seiten der Wehrpflichtigen selbst kein Widerstand zu erwarten war
und grundlegendere Reformen innerhalb der bestehenden Verfassungssysteme
in Europa nicht möglich waren. Die dahinter verborgene Gefahr besteht
darin, dass ein kritisches Potential, das sich aus und gegen die Wehrpflicht
mobilisieren ließ, zu verschwinden droht und nicht mehr als Ausgangspunkt
einer grundsätzlichen Wehrkritik genutzt werden kann. Will man eine Position
gegen militärische Potentiale führen, ist die Wehrpflicht dazu ein eher
ungeeignetes Objekt. In diesem Sinne macht die von der Wehrstrukturkommission
angeregte Rumpfwehrpflicht dann wieder Sinn, da scheinbare Sinnlosigkeit
oft das Sinnvollere ist.
Zudem hat die Wehrpflicht immer auch eine gewisse Offenheit der Streitkräfte
gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen mit sich gebracht. Negativ,
wenn man an das Problem des Rechtsextremismus in der Bundeswehr denkt,
positiv, wenn man die graduelle Ausgestaltung eines soldatischen Personalvertretungsrechtes
im Blick hat. Nur wenn diese Offenheit durch eine entsprechende Fluktuation
bei den kürzeren Zeitverträgen ausgeglichen wird, kann einer Isolation
von der Bevölkerung vorgebeugt werden. Die Gefahr hierzu besteht im übrigen
bereits bei einer derart selektiven Einberufungspraxis, die einen Bürger,
der gezogen wird, von allen anderen nur mit Mitleid versehen werden lässt.
Thilo Tetzlaff ist Assessor in Berlin und hat eine wehrrechtliche
Dissertation publiziert.
Anmerkungen:
1 H. Böll, Ende einer Dienstfahrt
(München 1997), S. 170.
2 Vgl. 4. Buch Moses (Numeri), 1,
2-3, sowie 1. Chronik, 21, 2-5; Samuel, 24 (2-9).
3 Im einzelnen Opitz, Allgemeine
Wehrpflicht in Deutschland, in: Groß/Lutz, Wehrpflicht ausgedient, S.
105.
Literatur:
Allgemein:
Fröhler, Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen
Fragen des Wehrverfassungsrechts (1995);
Groß/Lutz (Hrsg.), Wehrpflicht ausgedient (1998.)
Niederlande:
Soetendal, Van dienstplichtwet naar kaderwet dienstplicht, Militair
Rechtelijk Tijdschrift 1997, S. 345 ff.;
Flinterman, Modernisering van defensiebepalingen, Nederlandse Jurisprudentie
1998, S. 232 ff.
Frankreich:
Ribouillaut, Le service militaire (1998) ; Centre d'études en sciences
sociales de la défense, Les Jeunes et la défense (1997)
Italien:
Homepage des italienischen Verteidigungsministeriums: http://www.difesa.it.
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