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Deutschland ist spätestens seit dem Angriff der NATO gegen Jugoslawien
endgültig wieder zur Krieg führenden Partei in den Konflikten dieser Welt
geworden und es ist zu erwarten, daß das bereits in den "Verteidigungspolitischen
Richtlinien" von 1992 umschriebene, imperialistisch anmutende Ziel der
"Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs
zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" (1)
zunehmend militärisch durchgesetzt wird.
Bei gleichzeitiger Betrachtung der aktuellen sicherheitspolitischen Lage
in Europa machen die Angriffshandlungen der deutschen Armee deutlich,
daß die Diskussion um einen fiktiven Verteidigungsfall überholt ist und
der Bundeswehr eine andere Aufgabe zugemessen wird.
Dessen ungeachtet unterliegen die sogenannten Totalen Kriegsdienstverweigerer
ungebrochener Repression und Kriminalisierung, weil sie für sich das uneingeschränkte
Grundrecht auf Gewissensfreiheit beanspruchen und den Kriegsdienst an
der Waffe wie auch den als Zivildienst bekannten Ersatzdienst verweigern.
Das Gewissen entscheidet
In der Regel werden Totale Kriegsdienstverweigerer, die den Grundwehrdienst
bei der Bundeswehr nicht antreten, wegen Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung
nach dem Wehrstrafgesetz angeklagt. Totalverweigerer, die als Kriegsdienstverweigerer
im Sinne des Art. 4 Abs.3 GG anerkannt und somit dem Zivildienstverhältnis
unterstellt sind, werden hingegen wegen eigenmächtiger Abwesenheit oder
Dienstflucht gemäß dem Zivildienstgesetz belangt.
Die Tatbestandsmäßigkeit ist stets gegeben, wenn die Verpflichteten dem
Einberufungsbescheid nicht Folge leisten oder im Laufe ihres Dienstes
diesen quittieren. Vor Gericht wird der Tatbestand selten bestritten und
demnach auch kaum erörtert. In den Mittelpunkt der gerichtlichen Auseinandersetzung
geraten vielmehr mögliche Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe,
die sich aus der getroffenen Gewissensentscheidung ergeben könnten.
Hierfür müssen sich zuvorderst die Beweggründe für den Entschluß zur Totalen
Kriegsdienstverweigerung als eine solche Gewissensentscheidung vor dem
Gericht erweisen. Obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits 1960 dargestellt
hat, daß die Gewissensentscheidung als jede ernste sittliche, an den Kategorien
von Gut und Böse orientierte Entscheidung anzusehen ist, gegen die nicht
mehr ohne ernste Gewissensnot gehandelt werden könnte
(2), hat der Gewissensbegriff von den Gerichten bis
heute immer wieder neue Definitionen erfahren. So wurde die Gewissensentscheidung
wahlweise als "extreme und wirklichkeitsfremde Denkhaltung oder Weltanschauung"
oder "Folge sektiererischer Glaubensvorstellungen" betrachtet, die zumindest
nicht das Ergebnis logischer und rationeller Überlegungen sei.
(3) Das Gewissen nähert sich nach dieser Auffassung
einem krankhaften Zustand an. Aber auch die höchst rationellen Betrachtungen
über das Wesen und die Folgen von Kriegen, die zur Gewissensentscheidung
eines Totalen Kriegsdienstverweigerers geführt haben, werden von vielen
Gerichten als solche schlicht nicht anerkannt und zusätzlich moralisch
abqualifiziert. Oft wird ihnen zumindest als Begründung das haltlose Argument,
hier handele es sich lediglich um eine politische Überzeugung, die von
dem Art. 4 GG nicht geschützt sei, entgegengehalten.
(4) Es wird ersichtlich, daß in vielen Hauptverhandlungen
eine eindringliche und übermäßige Gewissensprüfung stattfindet. Den Kriegsdienstverweigerern
wird eine Darlegungslast auferlegt, die zwar im vewaltungsrechtlichen
KDV-Anerkennungsverfahren anerkannt ist, sich aber im Strafverfahren stellenweise
der dem Strafprozeß fremden Beweislastumkehr annähert und nicht selten
den Grundsatz "in dubio pro reo" ignoriert.
Dennoch wird normalerweise trotz dieser bisher noch nicht untergegangenen
Tendenzen eine Gewissensentscheidung durch die Gerichte angenommen - ein
strafloses Verhalten freilich nicht.
Der Gewissenstäter
Denn eine Rechtfertigung des nunmehr als Gewissenstäter bezeichneten
Totalverweigerers, wird regelmäßig mit einem Verweis auf die Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts der Jahre 1965 und 1968 verneint. Hiernach
könne sich der Totalverweigerer nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen, da
in diesem Bereich Art. 4 Abs. 3 und Art. 12a Abs. 2 GG eine abschließende
Regelung darstellten, durch die das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in
der Weise ausgestaltet sei, daß es nicht zur Verweigerung des zivilen
Ersatzdienstes berechtigte. (5)
Auf der Ebene der Schuld wird teilweise der Entschuldigende Notstand nach
§ 35 StGB in Betracht gezogen. Hierbei wird als beeinträchtigtes Rechtsgut
die körperliche Unversehrtheit des Kriegsdienstverweigerers angesehen,
die durch den hervorgerufenen Gewissenskonflikt seelisch verletzt sein
könnte. Gleichfalls nehmen wenige Stimmen einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund
an, wenn der Totalverweigerer aufgrund einer unüberwindlichen psychischen
Zwangslage daran gehindert sei, der Zivildienstverpflichtung zu folgen.
Der Nachweis ist schwierig zu erbringen, bewegt sich zudem erneut - wenn
auch wohlwollend - in Bereich von Krankheitsbildern und wird von den Gerichten
regelmäßig mit dem Hinweis, eine solche Annahme würde den Rahmen der von
dem Gesetzgeber vorgesehenen notstandsfähigen Rechtsgüter überschreiten,
abgewiesen. Im übrigen wird an dieser Stelle zusätzlich die Regelung des
§ 15a ZDG herangezogen, die üblicherweise den Zeugen Jehovas angeboten
wird. Demnach kann jemand, der den Zivildienst aus Gewissensgründen verweigert,
als Ersatz ein "freies Arbeitsverhältnis" in einem sozialen Dienst eingehen,
welches mindestens ein Jahr länger dauert als der Zivildienst. Nach Ansicht
vieler Gerichte bestünde für den Totalen Kriegsdienstverweigerer damit
die Möglichkeit einerseits seinem Gewissen zu folgen und andererseits
ein strafrechtliches Verhalten zu vermeiden. Eine Schuld wird demzufolge
laufend bejaht. (6)
Das Gewissen unter Strafe
Die Gewissensentscheidung wirkt sich zumeist lediglich in der Strafzumessung
aus, wenn die Gerichte das vom Bundesverfassungsgericht formulierte "Wohlwollensgebot"
(7) gegenüber Gewissenstätern befolgen.
Die Strafurteile fallen in ihrer Höhe sehr unterschiedlich aus, sie können
wenige Arbeitsstunden oder eine geringe Geldstrafe vorsehen oder eine
Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung bedeuten, äußerst selten
erfolgen Einstellungen und keiner der wenigen Freisprüche ist bisher rechtskräftig
geworden. (8)
Sofern in den schriftlichen Urteilen aber keine Gewissensentscheidungen
attestiert werden, gelten die Straftaten nicht als durch das Gewissen
bestimmte, fortdauernde Handlungen, sondern als abgeschlossen. Es erfolgen
dann oftmals wiederum Einberufungsbescheide, deren Verweigerung als neue
Taten begriffen werden und wiederum Strafverfahren nach sich ziehen. Dabei
kommt es bei genauerer Betrachtung permanent zu Verstößen gegen das Verbot
der "Doppelbestrafung" i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG. Es kommt bei den Tatbeständen
nicht auf die Gewissensgründe an, sondern vielmehr auf das Nichterbringen
ein und derselben Leistung, deren fortlaufende Verweigerung demnach auch
eine einheitliche Tat darstellt. (9)
Eine vergleichsweise höhere Bestrafung erfahren regelmäßig Totalverweigerer,
die nicht als Kriegsdienstverweigerer gemäß Art. 4 Abs. 3 GG anerkannt
sind, weil sie von vornherein jegliche Zusammenarbeit mit den zuständigen
Behörden ablehnen. Sie werden zu gegebener Zeit durch Polizei oder Feldjäger
in die Kasernen verbracht. Dort werden sie aufgrund ihrer Gehorsamsverweigerung
disziplinarischen Maßnahmen unterworfen, die sich in wiederholten, mehrwöchigen
Disziplinararrest ausdrücken. (10)
Ihrer Verurteilung durch ein Strafgericht geht also vielfach eine Arreststrafe
voran. Zudem gehen immer noch viele Gerichte paradoxerweise davon aus,
daß die Totalverweigerer bei der Bundeswehr aufgrund ihrer radikalen Ablehnung
auch keine Gewissensentscheidung getroffen haben. Die Folge sind schärfere
Urteile und gegebenenfalls auch Doppelbestrafungen bis insgesamt eine
Mindeststrafe erreicht ist, die in einem Erlaß des Verteidigungsministeriums
(sog. "Rühe-Erlaß") als Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung nach
dem Wehrpflichtgesetz (WPflG) vorgesehen ist.
Politische Justiz?
Daß die Urteile der Gerichte über Totale Kriegsdienstverweigerer so unterschiedlich
ausfallen, ist nicht allein dadurch zu erklären, daß von Fall zu Fall
und der Darstellungsfähigkeit der Angeklagten gemäß entschieden wird.
Die Aufrechterhaltung des Kriegsdienstes und die damit verbundene Wehrpflicht
ist eine rein politische Entscheidung, also wird im Sinne klassischer
politischer Justiz auch so geurteilt. Die RichterInnen orientieren sich
weniger an den weiterhin unbestimmten Definitionen des Gewissensbegriffs,
sondern beziehen vielmehr Stellung in einer zunehmend polarisierten Diskussion
um die Bundeswehr und die Wehrpflicht - meist leider zuungunsten der Kriegsdienstverweigerer.
Der Tenor dieser Urteile, wonach das immerhin absolute Grundrecht auf
Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG durch das Interesse des Staates
an der Wehrpflicht eingeschränkt werden kann, bedarf einer kritischen
Betrachtung.
Natürlich werden Zivildienstleistende heutzutage, d.h. in sogenannten
Friedenszeiten, weitestgehend im sozialen Bereich oder im Umweltschutz
fernab jeglicher Kriegshandlungen beschäftigt. Das wird sie allerdings
in einem Krieg, bei dem Deutschland größere Reserven benötigt, nicht von
kriegerischen Pflichten entbinden können. Tatsächlich ist auch ihre Tätigkeit
eine kriegsvorbereitende Maßnahme nach dem Wehrpflichtgesetz. Das aktuelle
Konzept der "Gesamtverteidigung" hat seine kriegsentscheidenden Aufgaben
in militärische und zivile Verteidigung säuberlich unterteilt.
Zivildienstleistende sind im Allgemeinen wie im Besonderen über den Notstandsartikel
12a Abs. 3 GG, über das Katastrophenschutzerweiterungsgesetz, über das
Arbeitssicherstellungsgesetz und über § 79 Zivildienstgesetz (ZDG) in
den Bereich der zivilen Verteidigung eingebunden.
Der zivile Kriegsdienst
Das als "Weißbuch 1994" bekannt gewordene Programm des Bundesverteidigungsministeriums
beschreibt eindrucksvoll das Zusammenwirken militärischer und ziviler
Verteidigung im Konzept der Gesamtverteidigung:
"Zur Gesamtverteidigung wirken militärische und zivile Verteidigung zusammen.
Sie bleibt auch unter den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen
ein unverzichtbares Prinzip. Dieses gilt gleichermaßen im nationalen Bereich,
im Bündnis und im Rahmen weiterer internationaler Verpflichtungen. (...)
Die zivile Verteidigung umfaßt die Planung, Vorbereitung und Durchführung
aller zivilen Maßnahmen, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der
Verteidigungsfähigkeit erforderlich sind. Ihre Aufgaben zielen im wesentlichen
darauf ab, die Staats- und Regierungsfunktion aufrechtzuerhalten, die
Zivilbevölkerung zu schützen, die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte
zu versorgen, die Streitkräfte mit zivilen Gütern und Leistungen unmittelbar
zu unterstützen.
Angesichts des erweiterten Aufgaben- und Einsatzspektrums und geringer
Ressourcen werden die Streitkräfte verstärkt zivile Unterstützungsleistungen
in Anspruch nehmen müssen." (11)
Diese strategischen Erhebungen haben ihren Eingang in den "Richtlinien
für die Gesamtverteidigung" gefunden. Hiernach wird wohl der in seiner
Zivildienstzeit für "Essen auf Rädern" fahrende Ersatzdienstleistende
im Falle des Krieges nicht mehr die ehemaligen sondern die aktiven Frontsoldaten
verpflegen müssen, der im Krankenhaus tätige Zivi auf den Schlachtfeldern
die Verwundeten bergen und aufpäppeln dürfen und der ehemals für das Forstamt
tätige Zivildienstler wird statt Wandergruppen durch den Wald zu führen,
in denselben Schneisen für Panzer und anderes schweres Gerät schlagen
sollen.
Auch das nach § 15a ZDG geregelte sogenannte freie Arbeitsverhältnis im
pflegerischen Bereich ist von diesen Planungen nicht ausgenommen und bietet
entgegen der weit verbreiteten Suggestion keine Alternative. Bereits die
gesetzliche Einordnung dieses Pflegedienstes zeigt auf, daß der Dienstleistende
hier ebenfalls der geltenden Zivildienstüberwachung und den einschlägigen
Strafbestimmungen unterstellt ist. Entscheidend ist weiterhin, daß sich
für den Kriegsdienstverweigerer aus § 79 Nr.6 ZDG die Verpflichtung ergibt,
sich in einem Krieg innerhalb von vier Wochen erneut in ein solches Arbeitsverhältnis
zu begeben - dann mit kriegsunterstützender Wirkung - oder sich im Rahmen
der allgemeinen Wehrpflicht für den unbefristeten Zivildienst zu Verfügung
zu stellen. Von den Interessen der Gesamtverteidigung ist also auch er
nicht ausgenommen.
Das Gewissen ist politisch
Es ist festzuhalten: Im Artikel 4 Abs. 3 GG, auf den sich alle Kriegsdienstverweigerer
in ihrem Anerkennungsverfahren berufen müssen, steht: "Niemand darf gegen
sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Der Ersatzdienst
widerspricht damit zumindest nicht dem Wortlaut dieses Artikels. Er ist
nach der Gesamtkonzeption der Verteidigung zwar ein waffenloser aber ebenso
benötigter Kriegsdienst. Das heißt also für alle Kriegsdienstverweigerer,
daß sie trotz staatlicher Anerkennung und trotz abgeleisteten Zivildienstes
im Falle eines Krieges gezwungen werden können, aktiv an diesem teilzunehmen.
Wehrpflichtige jedoch, die in ihrem Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
angeben, sie würden zwar nicht gerne mit der Waffe hantieren, könnten
sich aber vorstellen, um der Verteidigung Deutschlands willens oder aus
einem anderen fragwürdigen Grund, Soldaten zu versorgen, wieder kampffähig
zu pflegen und den Weg freizuholzen, deren Krieg also unmittelbar zu unterstützen,
würden vermutlich wegen fehlender ernsthafter Gewissensgründe nicht nach
dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG) anerkannt werden.
(12) Ein Widerspruch!
Konsequente Kriegsdienstgegner verweigern aus diesen Gründen nicht nur
allein den Dienst an der Waffe, sondern den gesamten Kriegsdienst. Ihre
Gewissensentscheidung läßt sich deshalb kaum mit dem Ersatzdienst und
ähnlichen im Wehrdienstartikel 12a GG begründeten Zwangsdiensten vereinbaren.
Insofern verwehren sich Totale Kriegsdienstverweigerer gegen sämtliche
Zwangsdienste, stellen klar, daß mit ihnen kein Krieg zu machen ist und
setzen so ein von ihrem Gewissen getragenes politisches Zeichen, für das
sie dann in die Mühlen der Justiz geraten.
Das Gewissen ist unverletzlich
Urteile, die jemanden bestrafen, weil er als Kriegsdienstgegner aus den
eingangs erläuterten Gründen sowohl den Wehrdienst als auch den Zivildienste
nicht ausüben kann, weil er dann gegen sein Gewissen verstoßen würde,
sind bei ernsthafter Betrachtung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich
schwer zu halten.
Zunächst ist der wiederholte und von den Gerichten unentwegt befolgte
Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Ersatzdienst nicht
aus Gewissensgründen verweigert werden könne (13),
ein unzutreffender Glaubenssatz. Der Begriff des Gewissens ist in Abs.
1 und 3 identisch. Zudem ist das Recht zur Kriegsdienstverweigerung sowohl
im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte wie auch auf seinen Wortlaut
als besondere bzw. beispielhafte Hervorhebung der allgemeinen Gewissensfreiheit
zu verstehen. (14) Es gewährt
die Freiheit des Gewissens speziell in einem Bereich, in welchem die Inanspruchnahme
des Bürgers durch den Staat oft einen gravierenden Eingriff und Mißbrauch
bedeutet. Die unmittelbaren historischen Eindrücke, die den Rahmen der
Beratungen zum Grundgesetz bildeten, dürften dies bewußt machen. Der Zweck
des Art. 4 Abs. 3 GG richtet sich demnach nicht auf eine Beschränkung
sondern vielmehr auf eine Verstärkung der Gewissensfreiheit.
(15) Überdies ist die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts
bereits seit 1969 mit der Einführung der "lex jehova", also dem § 15a
ZDG überholt. Hiernach gibt es nun "Anerkannte Kriegsdienstverweigerer,
die aus Gewissensgründen gehindert sind, Zivildienst zu leisten,...".
Art. 4 Abs. 1 GG gilt somit für Totale Kriegsdienstverweigerer uneingeschränkt.
Die Totale Kriegsdienstverweigerung drückt sich mit einem einfachen "Nein"
gegenüber der staatlichen Zumutung aus und äußert sich demzufolge als
"defensive Gewissensfreiheit".(16)
Diese Freiheit ist unabhängig von Gegenleistungen an den Staat. Wenn der
Staat durch eine Inpflichtnahme jemanden in eine Zwangssituation mit seinen
Gewissen treibt, so erlangt dieser aus Art. 4 Abs. 1 GG den Anspruch,
von dieser Verpflichtung entbunden zu werden. Die Abwehrfunktion dieses
Grundrechts gebietet einen Verzicht auf Zwangsmaßnahmen.
(17)
Staatsräson contra Grundrecht
Nach der weiteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art.
4 Abs. 1 GG könnte sich nur dann etwas anderes ergeben, wenn andere mit
Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte
Dritter durch das Verhalten des Verweigerers verletzt werden würden.
(18) Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang
die Auffassung vertreten, daß mit der Einführung des Art. 78a Abs. 1 S.
1 GG (Aufstellung von Streitkräften) nicht nur eine "verfassungsrechtliche
Grundentscheidung für die militärische Landesverteidigung" getroffen worden
sei, sondern darüber hinaus auch die Wehrpflicht durch Art. 12a Abs. 1
GG den Rang einer verfassungsrechtlichen "Grundpflicht" erreicht habe.
(19) Der Wortlaut des betreffenden Artikels, der
von einem "Männer können ... verpflichtet werden" spricht, gibt jedoch
keinen Anlaß für diese Bewertung. (20)
Tatsächlich ist die Wehrpflicht lediglich eine Ausführungsermächtigung
zum Wehrdienst, die nicht einer "wirksamen militärischen Landesverteidigung"
gleichgesetzt werden kann. (21)
Das ergibt sich allein mit einem Hinweis auf die aktuelle Diskussion in
der Bundesrepublik um die Abschaffung der Wehrpflicht und mit einem Blick
auf die sicherheitspolitische Lage in Europa, die andere Staaten bereits
veranlaßt hat, entsprechende Schritte zu tätigen und ihre "Verteidigung"
allein den Berufsarmeen zu überlassen. Mithin hat das Grundrecht auf Gewissensfreiheit
einen höheren Rang als die Wehrpflicht, die lediglich eine im Wehrpflichtgesetz
geregelte einfachgesetzliche Pflicht darstellt. (22)
Die ständige Rechtsprechung gegenüber den Totalen Kriegsdienstverweigerern,
die ihnen trotz vorliegender Gewissensgründe das Grundrecht auf Gewissensfreiheit
nach Art. 4 Abs. 1 GG verwehrt und sie stattdessen bestraft, ist demzufolge
verfassungswidrig. Das geschützte Gewissen der Totalverweigerer bleibt
nur dann unverletzt, wenn ihre diesbezügliche Entscheidung sanktionslos
bleibt, sei es nach der strafrechtlichen Dogmatik auf der Ebene der Rechtfertigung
oder der Schuld. (23)
Die Tatsache, daß Totale Kriegsdienstverweigerer trotz dieser Rechtslage
unvermindert verurteilt werden, muß bedenklich stimmen. In der Konsequenz
wird das hohe Rechtsgut der Gewissensfreiheit unter den Vorbehalt der
Staatsräson gestellt. Einer Staatsräson, die im allgemeinen für sich einnimmt,
daß sämtliche Freiheiten den staatlichen Interessen untergeordnet sind,
und im speziellen, daß Deutschland kriegsfähig bleibt. Sie wurde allerdings
1949 mit dem Erlaß des Grundgesetzes aus der Verfassung Deutschlands gestrichen
- gerade auch hin Hinblick auf das gewissenlos staatstreue Verhalten seiner
Bevölkerung und seiner Gerichtsbarkeit. (24)
Stephen Rehmke, Hamburg.
Anmerkungen:
1 DFG-VK, 1993, S.15.
2 BVerfGE 12, 45 (55).
3 BayObLG, StV 1983, S.371 und OLG
Nürnberg, NStZ 1983, S.33 beide zitiert nach: Werner, in: DFG-VK, Der
Widerstreit zwischen Wehrplicht und Gewissen (bros.) unter www.dfg-vk.de/zentralstelle-kdv/tkdv.
4 vgl. Werner (aaO.).
5 BVerfGE 19, 135 (138), 23, 127
(132).
6 eine solche immer wiederkehrende
"Musterlösung" findet sich auch bei Eisenberg / Wolke, JuS 4/93, S. 285ff..
7 BVerfGE 27, 127 (133).
8 vgl. jüngsten Freispruch des AG
Hamburg-Harburg vom 03.11.2000 ( Az.: 619 Ds 32/00); aktuelle Statistik
in: DFG-VK (Hrsg.), Wehrpflicht? Ohne Uns! - Reader zur Totalen Kriegsdienstverweigerung,
7. Aufl., S. 35ff.
9 vgl. Nestler-Tremel, StV 8/85,
S.343ff. m.w.N.
10 vgl. zu diesem im übrigen rechtsstaatlich
höchst fragwürdiges Verfahren der Truppendienstgerichtsbarkeit: Mahrenholz,
in: Grundrechte Report, 1997, S. 63 (66).
11 Bundesministerium für Verteidigung,
1994, S.133.
12 vgl. u.a. Brecht, 1992, § 1
KDVG, Rn.3.
13 BVerfGE 23, 127 (131), 27,
191 (202).
14 Stein, Staatsrecht, 1995, §
31 III, 5 b), S. 262.
15 vgl. Kempen, in: AK-GG, Art.
4 Abs. 3, Rn.26.
16 Mahrenholz, in: UrlS, 5/98,
D1, Nr. 455, S.3.
17 vgl. Heinecke, DuR 1/93, S.
69 ff.; Preuß, in: AK-GG, Art. 4. Abs. 1, 2, Rn. 42ff.
18 vgl. BVerfGE 33, 23 ff.
19 BVerfGE 28, 243 (261); 48,
127 (159ff.); 69, 1 (22).
20 vgl. LG Potsdam, in: KDV-Informations-Dienst
(KID), Nr.820/Ia.
21 Eckertz, 1986, S. 25ff.
22 so auch LG Potsdam, aaO.
23 so u.a. auch Heinecke, aaO.,
Kempen, in: AK-GG, Art. 4 Abs. 3, Rn.16, 26; Mahrenholz, aaO. (Fn.18),
S.4; Stein, aaO.; Roxin, 1997, S. 868 ff.
24 vgl. Kempen, JZ 1971, S.452ff.
Literatur:
DFG-VK, Lizenz zum Töten, Kommentar zu den Verteidigungspolitischen
Richtlinien, 1993.
Werner, Günter, Die Entwicklung der Rechtsprechung in Strafverfahren
gegen Totale Kriegsdienstverweigerer, in: DFG-VK, Der Widerstreit zwischen
Wehrplicht und Gewissen (bros.) unter www.dfg-vk.de/zentralstelle-kdv/tkdv.
Eisenberg, Ulrich / Wolke, Carsten, Zur strafrechtlichen Beurteilung
der Totalverweigerung, Juristische Schulung (JuS) 4/93, S. 285ff..
DFG-VK (Hrsg.), Wehrpflicht? Ohne Uns! - Reader zur Totalen Kriegsdienstverweigerung,
7. Aufl.
Nestler-Tremel, Cornelius, Zivildienstverweigerung aus Gewissensgründen,
Strafverteidiger (StV) 8/85, S.343ff.
Mahrenholz, Ernst Gottfried, Das Recht zur Totalverweigerung, in:
Grundrechte Report, 1997, S. 63.
Bundesministerium für Verteidigung, Weißbuch 1994, Weißbuch zur
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Zukunft der
Bundeswehr, 1994.
Brecht, Hans-Theo, Kriegsdienst und Zivildienst, 3. Aufl., 1992.
Stein, Ekkehart, Staatsrecht, 15. Aufl. 1995.
Alternativkommentar zum Grundgesetz (AK-GG).
Mahrenholz, Ernst Gottfried, Das Gewissen und die Wehrpflicht,
in: Urteils- und Informationsservice Totale Kriegsdienstverweigerung (UrlS),
5/98, D1, Nr. 455, S.3.
Heinecke, Gabriele, Freispruch für Totalverweigerer, Demokratie
und Recht (DuR), 1/93, S. 69 ff.
Eckertz, Rainer, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
als Grenzproblem des Rechts, 1986.
Roxin, Claus, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997.
Kempen, Otto Ernst, Staatsraison über Verfassungsraison?, Juristenzeitung
(JZ) 1971, S.452ff.
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