Heft 1 / 2001:
Fragwürdige Dienstleistung
Bundeswehr im Umbruch
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Kriegsfähig
Über die Totale Kriegsdienstverweigerung und die Staatsräson
 

Deutschland ist spätestens seit dem Angriff der NATO gegen Jugoslawien endgültig wieder zur Krieg führenden Partei in den Konflikten dieser Welt geworden und es ist zu erwarten, daß das bereits in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" von 1992 umschriebene, imperialistisch anmutende Ziel der "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" (1) zunehmend militärisch durchgesetzt wird.
Bei gleichzeitiger Betrachtung der aktuellen sicherheitspolitischen Lage in Europa machen die Angriffshandlungen der deutschen Armee deutlich, daß die Diskussion um einen fiktiven Verteidigungsfall überholt ist und der Bundeswehr eine andere Aufgabe zugemessen wird.
Dessen ungeachtet unterliegen die sogenannten Totalen Kriegsdienstverweigerer ungebrochener Repression und Kriminalisierung, weil sie für sich das uneingeschränkte Grundrecht auf Gewissensfreiheit beanspruchen und den Kriegsdienst an der Waffe wie auch den als Zivildienst bekannten Ersatzdienst verweigern.

Das Gewissen entscheidet

In der Regel werden Totale Kriegsdienstverweigerer, die den Grundwehrdienst bei der Bundeswehr nicht antreten, wegen Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung nach dem Wehrstrafgesetz angeklagt. Totalverweigerer, die als Kriegsdienstverweigerer im Sinne des Art. 4 Abs.3 GG anerkannt und somit dem Zivildienstverhältnis unterstellt sind, werden hingegen wegen eigenmächtiger Abwesenheit oder Dienstflucht gemäß dem Zivildienstgesetz belangt.
Die Tatbestandsmäßigkeit ist stets gegeben, wenn die Verpflichteten dem Einberufungsbescheid nicht Folge leisten oder im Laufe ihres Dienstes diesen quittieren. Vor Gericht wird der Tatbestand selten bestritten und demnach auch kaum erörtert. In den Mittelpunkt der gerichtlichen Auseinandersetzung geraten vielmehr mögliche Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgründe, die sich aus der getroffenen Gewissensentscheidung ergeben könnten.
Hierfür müssen sich zuvorderst die Beweggründe für den Entschluß zur Totalen Kriegsdienstverweigerung als eine solche Gewissensentscheidung vor dem Gericht erweisen. Obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits 1960 dargestellt hat, daß die Gewissensentscheidung als jede ernste sittliche, an den Kategorien von Gut und Böse orientierte Entscheidung anzusehen ist, gegen die nicht mehr ohne ernste Gewissensnot gehandelt werden könnte (2), hat der Gewissensbegriff von den Gerichten bis heute immer wieder neue Definitionen erfahren. So wurde die Gewissensentscheidung wahlweise als "extreme und wirklichkeitsfremde Denkhaltung oder Weltanschauung" oder "Folge sektiererischer Glaubensvorstellungen" betrachtet, die zumindest nicht das Ergebnis logischer und rationeller Überlegungen sei. (3) Das Gewissen nähert sich nach dieser Auffassung einem krankhaften Zustand an. Aber auch die höchst rationellen Betrachtungen über das Wesen und die Folgen von Kriegen, die zur Gewissensentscheidung eines Totalen Kriegsdienstverweigerers geführt haben, werden von vielen Gerichten als solche schlicht nicht anerkannt und zusätzlich moralisch abqualifiziert. Oft wird ihnen zumindest als Begründung das haltlose Argument, hier handele es sich lediglich um eine politische Überzeugung, die von dem Art. 4 GG nicht geschützt sei, entgegengehalten. (4) Es wird ersichtlich, daß in vielen Hauptverhandlungen eine eindringliche und übermäßige Gewissensprüfung stattfindet. Den Kriegsdienstverweigerern wird eine Darlegungslast auferlegt, die zwar im vewaltungsrechtlichen KDV-Anerkennungsverfahren anerkannt ist, sich aber im Strafverfahren stellenweise der dem Strafprozeß fremden Beweislastumkehr annähert und nicht selten den Grundsatz "in dubio pro reo" ignoriert.
Dennoch wird normalerweise trotz dieser bisher noch nicht untergegangenen Tendenzen eine Gewissensentscheidung durch die Gerichte angenommen - ein strafloses Verhalten freilich nicht.

Der Gewissenstäter

Denn eine Rechtfertigung des nunmehr als Gewissenstäter bezeichneten Totalverweigerers, wird regelmäßig mit einem Verweis auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der Jahre 1965 und 1968 verneint. Hiernach könne sich der Totalverweigerer nicht auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen, da in diesem Bereich Art. 4 Abs. 3 und Art. 12a Abs. 2 GG eine abschließende Regelung darstellten, durch die das Grundrecht auf Gewissensfreiheit in der Weise ausgestaltet sei, daß es nicht zur Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes berechtigte. (5)
Auf der Ebene der Schuld wird teilweise der Entschuldigende Notstand nach § 35 StGB in Betracht gezogen. Hierbei wird als beeinträchtigtes Rechtsgut die körperliche Unversehrtheit des Kriegsdienstverweigerers angesehen, die durch den hervorgerufenen Gewissenskonflikt seelisch verletzt sein könnte. Gleichfalls nehmen wenige Stimmen einen übergesetzlichen Schuldausschließungsgrund an, wenn der Totalverweigerer aufgrund einer unüberwindlichen psychischen Zwangslage daran gehindert sei, der Zivildienstverpflichtung zu folgen. Der Nachweis ist schwierig zu erbringen, bewegt sich zudem erneut - wenn auch wohlwollend - in Bereich von Krankheitsbildern und wird von den Gerichten regelmäßig mit dem Hinweis, eine solche Annahme würde den Rahmen der von dem Gesetzgeber vorgesehenen notstandsfähigen Rechtsgüter überschreiten, abgewiesen. Im übrigen wird an dieser Stelle zusätzlich die Regelung des § 15a ZDG herangezogen, die üblicherweise den Zeugen Jehovas angeboten wird. Demnach kann jemand, der den Zivildienst aus Gewissensgründen verweigert, als Ersatz ein "freies Arbeitsverhältnis" in einem sozialen Dienst eingehen, welches mindestens ein Jahr länger dauert als der Zivildienst. Nach Ansicht vieler Gerichte bestünde für den Totalen Kriegsdienstverweigerer damit die Möglichkeit einerseits seinem Gewissen zu folgen und andererseits ein strafrechtliches Verhalten zu vermeiden. Eine Schuld wird demzufolge laufend bejaht. (6)

Das Gewissen unter Strafe

Die Gewissensentscheidung wirkt sich zumeist lediglich in der Strafzumessung aus, wenn die Gerichte das vom Bundesverfassungsgericht formulierte "Wohlwollensgebot" (7) gegenüber Gewissenstätern befolgen.
Die Strafurteile fallen in ihrer Höhe sehr unterschiedlich aus, sie können wenige Arbeitsstunden oder eine geringe Geldstrafe vorsehen oder eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten ohne Bewährung bedeuten, äußerst selten erfolgen Einstellungen und keiner der wenigen Freisprüche ist bisher rechtskräftig geworden. (8)
Sofern in den schriftlichen Urteilen aber keine Gewissensentscheidungen attestiert werden, gelten die Straftaten nicht als durch das Gewissen bestimmte, fortdauernde Handlungen, sondern als abgeschlossen. Es erfolgen dann oftmals wiederum Einberufungsbescheide, deren Verweigerung als neue Taten begriffen werden und wiederum Strafverfahren nach sich ziehen. Dabei kommt es bei genauerer Betrachtung permanent zu Verstößen gegen das Verbot der "Doppelbestrafung" i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG. Es kommt bei den Tatbeständen nicht auf die Gewissensgründe an, sondern vielmehr auf das Nichterbringen ein und derselben Leistung, deren fortlaufende Verweigerung demnach auch eine einheitliche Tat darstellt. (9)
Eine vergleichsweise höhere Bestrafung erfahren regelmäßig Totalverweigerer, die nicht als Kriegsdienstverweigerer gemäß Art. 4 Abs. 3 GG anerkannt sind, weil sie von vornherein jegliche Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden ablehnen. Sie werden zu gegebener Zeit durch Polizei oder Feldjäger in die Kasernen verbracht. Dort werden sie aufgrund ihrer Gehorsamsverweigerung disziplinarischen Maßnahmen unterworfen, die sich in wiederholten, mehrwöchigen Disziplinararrest ausdrücken. (10) Ihrer Verurteilung durch ein Strafgericht geht also vielfach eine Arreststrafe voran. Zudem gehen immer noch viele Gerichte paradoxerweise davon aus, daß die Totalverweigerer bei der Bundeswehr aufgrund ihrer radikalen Ablehnung auch keine Gewissensentscheidung getroffen haben. Die Folge sind schärfere Urteile und gegebenenfalls auch Doppelbestrafungen bis insgesamt eine Mindeststrafe erreicht ist, die in einem Erlaß des Verteidigungsministeriums (sog. "Rühe-Erlaß") als Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung nach dem Wehrpflichtgesetz (WPflG) vorgesehen ist.

Politische Justiz?

Daß die Urteile der Gerichte über Totale Kriegsdienstverweigerer so unterschiedlich ausfallen, ist nicht allein dadurch zu erklären, daß von Fall zu Fall und der Darstellungsfähigkeit der Angeklagten gemäß entschieden wird. Die Aufrechterhaltung des Kriegsdienstes und die damit verbundene Wehrpflicht ist eine rein politische Entscheidung, also wird im Sinne klassischer politischer Justiz auch so geurteilt. Die RichterInnen orientieren sich weniger an den weiterhin unbestimmten Definitionen des Gewissensbegriffs, sondern beziehen vielmehr Stellung in einer zunehmend polarisierten Diskussion um die Bundeswehr und die Wehrpflicht - meist leider zuungunsten der Kriegsdienstverweigerer.
Der Tenor dieser Urteile, wonach das immerhin absolute Grundrecht auf Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG durch das Interesse des Staates an der Wehrpflicht eingeschränkt werden kann, bedarf einer kritischen Betrachtung.
Natürlich werden Zivildienstleistende heutzutage, d.h. in sogenannten Friedenszeiten, weitestgehend im sozialen Bereich oder im Umweltschutz fernab jeglicher Kriegshandlungen beschäftigt. Das wird sie allerdings in einem Krieg, bei dem Deutschland größere Reserven benötigt, nicht von kriegerischen Pflichten entbinden können. Tatsächlich ist auch ihre Tätigkeit eine kriegsvorbereitende Maßnahme nach dem Wehrpflichtgesetz. Das aktuelle Konzept der "Gesamtverteidigung" hat seine kriegsentscheidenden Aufgaben in militärische und zivile Verteidigung säuberlich unterteilt.
Zivildienstleistende sind im Allgemeinen wie im Besonderen über den Notstandsartikel 12a Abs. 3 GG, über das Katastrophenschutzerweiterungsgesetz, über das Arbeitssicherstellungsgesetz und über § 79 Zivildienstgesetz (ZDG) in den Bereich der zivilen Verteidigung eingebunden.

Der zivile Kriegsdienst

Das als "Weißbuch 1994" bekannt gewordene Programm des Bundesverteidigungsministeriums beschreibt eindrucksvoll das Zusammenwirken militärischer und ziviler Verteidigung im Konzept der Gesamtverteidigung:
"Zur Gesamtverteidigung wirken militärische und zivile Verteidigung zusammen. Sie bleibt auch unter den veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ein unverzichtbares Prinzip. Dieses gilt gleichermaßen im nationalen Bereich, im Bündnis und im Rahmen weiterer internationaler Verpflichtungen. (...)
Die zivile Verteidigung umfaßt die Planung, Vorbereitung und Durchführung aller zivilen Maßnahmen, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit erforderlich sind. Ihre Aufgaben zielen im wesentlichen darauf ab, die Staats- und Regierungsfunktion aufrechtzuerhalten, die Zivilbevölkerung zu schützen, die Zivilbevölkerung und die Streitkräfte zu versorgen, die Streitkräfte mit zivilen Gütern und Leistungen unmittelbar zu unterstützen.
Angesichts des erweiterten Aufgaben- und Einsatzspektrums und geringer Ressourcen werden die Streitkräfte verstärkt zivile Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen müssen." (11)
Diese strategischen Erhebungen haben ihren Eingang in den "Richtlinien für die Gesamtverteidigung" gefunden. Hiernach wird wohl der in seiner Zivildienstzeit für "Essen auf Rädern" fahrende Ersatzdienstleistende im Falle des Krieges nicht mehr die ehemaligen sondern die aktiven Frontsoldaten verpflegen müssen, der im Krankenhaus tätige Zivi auf den Schlachtfeldern die Verwundeten bergen und aufpäppeln dürfen und der ehemals für das Forstamt tätige Zivildienstler wird statt Wandergruppen durch den Wald zu führen, in denselben Schneisen für Panzer und anderes schweres Gerät schlagen sollen.
Auch das nach § 15a ZDG geregelte sogenannte freie Arbeitsverhältnis im pflegerischen Bereich ist von diesen Planungen nicht ausgenommen und bietet entgegen der weit verbreiteten Suggestion keine Alternative. Bereits die gesetzliche Einordnung dieses Pflegedienstes zeigt auf, daß der Dienstleistende hier ebenfalls der geltenden Zivildienstüberwachung und den einschlägigen Strafbestimmungen unterstellt ist. Entscheidend ist weiterhin, daß sich für den Kriegsdienstverweigerer aus § 79 Nr.6 ZDG die Verpflichtung ergibt, sich in einem Krieg innerhalb von vier Wochen erneut in ein solches Arbeitsverhältnis zu begeben - dann mit kriegsunterstützender Wirkung - oder sich im Rahmen der allgemeinen Wehrpflicht für den unbefristeten Zivildienst zu Verfügung zu stellen. Von den Interessen der Gesamtverteidigung ist also auch er nicht ausgenommen.

Das Gewissen ist politisch

Es ist festzuhalten: Im Artikel 4 Abs. 3 GG, auf den sich alle Kriegsdienstverweigerer in ihrem Anerkennungsverfahren berufen müssen, steht: "Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden." Der Ersatzdienst widerspricht damit zumindest nicht dem Wortlaut dieses Artikels. Er ist nach der Gesamtkonzeption der Verteidigung zwar ein waffenloser aber ebenso benötigter Kriegsdienst. Das heißt also für alle Kriegsdienstverweigerer, daß sie trotz staatlicher Anerkennung und trotz abgeleisteten Zivildienstes im Falle eines Krieges gezwungen werden können, aktiv an diesem teilzunehmen.
Wehrpflichtige jedoch, die in ihrem Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angeben, sie würden zwar nicht gerne mit der Waffe hantieren, könnten sich aber vorstellen, um der Verteidigung Deutschlands willens oder aus einem anderen fragwürdigen Grund, Soldaten zu versorgen, wieder kampffähig zu pflegen und den Weg freizuholzen, deren Krieg also unmittelbar zu unterstützen, würden vermutlich wegen fehlender ernsthafter Gewissensgründe nicht nach dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz (KDVG) anerkannt werden. (12) Ein Widerspruch!
Konsequente Kriegsdienstgegner verweigern aus diesen Gründen nicht nur allein den Dienst an der Waffe, sondern den gesamten Kriegsdienst. Ihre Gewissensentscheidung läßt sich deshalb kaum mit dem Ersatzdienst und ähnlichen im Wehrdienstartikel 12a GG begründeten Zwangsdiensten vereinbaren. Insofern verwehren sich Totale Kriegsdienstverweigerer gegen sämtliche Zwangsdienste, stellen klar, daß mit ihnen kein Krieg zu machen ist und setzen so ein von ihrem Gewissen getragenes politisches Zeichen, für das sie dann in die Mühlen der Justiz geraten.

Das Gewissen ist unverletzlich

Urteile, die jemanden bestrafen, weil er als Kriegsdienstgegner aus den eingangs erläuterten Gründen sowohl den Wehrdienst als auch den Zivildienste nicht ausüben kann, weil er dann gegen sein Gewissen verstoßen würde, sind bei ernsthafter Betrachtung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich schwer zu halten.
Zunächst ist der wiederholte und von den Gerichten unentwegt befolgte Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Ersatzdienst nicht aus Gewissensgründen verweigert werden könne (13), ein unzutreffender Glaubenssatz. Der Begriff des Gewissens ist in Abs. 1 und 3 identisch. Zudem ist das Recht zur Kriegsdienstverweigerung sowohl im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte wie auch auf seinen Wortlaut als besondere bzw. beispielhafte Hervorhebung der allgemeinen Gewissensfreiheit zu verstehen. (14) Es gewährt die Freiheit des Gewissens speziell in einem Bereich, in welchem die Inanspruchnahme des Bürgers durch den Staat oft einen gravierenden Eingriff und Mißbrauch bedeutet. Die unmittelbaren historischen Eindrücke, die den Rahmen der Beratungen zum Grundgesetz bildeten, dürften dies bewußt machen. Der Zweck des Art. 4 Abs. 3 GG richtet sich demnach nicht auf eine Beschränkung sondern vielmehr auf eine Verstärkung der Gewissensfreiheit. (15) Überdies ist die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bereits seit 1969 mit der Einführung der "lex jehova", also dem § 15a ZDG überholt. Hiernach gibt es nun "Anerkannte Kriegsdienstverweigerer, die aus Gewissensgründen gehindert sind, Zivildienst zu leisten,...".
Art. 4 Abs. 1 GG gilt somit für Totale Kriegsdienstverweigerer uneingeschränkt. Die Totale Kriegsdienstverweigerung drückt sich mit einem einfachen "Nein" gegenüber der staatlichen Zumutung aus und äußert sich demzufolge als "defensive Gewissensfreiheit".(16) Diese Freiheit ist unabhängig von Gegenleistungen an den Staat. Wenn der Staat durch eine Inpflichtnahme jemanden in eine Zwangssituation mit seinen Gewissen treibt, so erlangt dieser aus Art. 4 Abs. 1 GG den Anspruch, von dieser Verpflichtung entbunden zu werden. Die Abwehrfunktion dieses Grundrechts gebietet einen Verzicht auf Zwangsmaßnahmen. (17)

Staatsräson contra Grundrecht

Nach der weiteren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 4 Abs. 1 GG könnte sich nur dann etwas anderes ergeben, wenn andere mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter durch das Verhalten des Verweigerers verletzt werden würden. (18) Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, daß mit der Einführung des Art. 78a Abs. 1 S. 1 GG (Aufstellung von Streitkräften) nicht nur eine "verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Landesverteidigung" getroffen worden sei, sondern darüber hinaus auch die Wehrpflicht durch Art. 12a Abs. 1 GG den Rang einer verfassungsrechtlichen "Grundpflicht" erreicht habe. (19) Der Wortlaut des betreffenden Artikels, der von einem "Männer können ... verpflichtet werden" spricht, gibt jedoch keinen Anlaß für diese Bewertung. (20) Tatsächlich ist die Wehrpflicht lediglich eine Ausführungsermächtigung zum Wehrdienst, die nicht einer "wirksamen militärischen Landesverteidigung" gleichgesetzt werden kann. (21) Das ergibt sich allein mit einem Hinweis auf die aktuelle Diskussion in der Bundesrepublik um die Abschaffung der Wehrpflicht und mit einem Blick auf die sicherheitspolitische Lage in Europa, die andere Staaten bereits veranlaßt hat, entsprechende Schritte zu tätigen und ihre "Verteidigung" allein den Berufsarmeen zu überlassen. Mithin hat das Grundrecht auf Gewissensfreiheit einen höheren Rang als die Wehrpflicht, die lediglich eine im Wehrpflichtgesetz geregelte einfachgesetzliche Pflicht darstellt. (22)
Die ständige Rechtsprechung gegenüber den Totalen Kriegsdienstverweigerern, die ihnen trotz vorliegender Gewissensgründe das Grundrecht auf Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 GG verwehrt und sie stattdessen bestraft, ist demzufolge verfassungswidrig. Das geschützte Gewissen der Totalverweigerer bleibt nur dann unverletzt, wenn ihre diesbezügliche Entscheidung sanktionslos bleibt, sei es nach der strafrechtlichen Dogmatik auf der Ebene der Rechtfertigung oder der Schuld. (23)
Die Tatsache, daß Totale Kriegsdienstverweigerer trotz dieser Rechtslage unvermindert verurteilt werden, muß bedenklich stimmen. In der Konsequenz wird das hohe Rechtsgut der Gewissensfreiheit unter den Vorbehalt der Staatsräson gestellt. Einer Staatsräson, die im allgemeinen für sich einnimmt, daß sämtliche Freiheiten den staatlichen Interessen untergeordnet sind, und im speziellen, daß Deutschland kriegsfähig bleibt. Sie wurde allerdings 1949 mit dem Erlaß des Grundgesetzes aus der Verfassung Deutschlands gestrichen - gerade auch hin Hinblick auf das gewissenlos staatstreue Verhalten seiner Bevölkerung und seiner Gerichtsbarkeit. (24)

Stephen Rehmke, Hamburg.

Anmerkungen:

1 DFG-VK, 1993, S.15.
2 BVerfGE 12, 45 (55).
3 BayObLG, StV 1983, S.371 und OLG Nürnberg, NStZ 1983, S.33 beide zitiert nach: Werner, in: DFG-VK, Der Widerstreit zwischen Wehrplicht und Gewissen (bros.) unter www.dfg-vk.de/zentralstelle-kdv/tkdv.
4 vgl. Werner (aaO.).
5 BVerfGE 19, 135 (138), 23, 127 (132).
6 eine solche immer wiederkehrende "Musterlösung" findet sich auch bei Eisenberg / Wolke, JuS 4/93, S. 285ff..
7 BVerfGE 27, 127 (133).
8 vgl. jüngsten Freispruch des AG Hamburg-Harburg vom 03.11.2000 ( Az.: 619 Ds 32/00); aktuelle Statistik in: DFG-VK (Hrsg.), Wehrpflicht? Ohne Uns! - Reader zur Totalen Kriegsdienstverweigerung, 7. Aufl., S. 35ff.
9 vgl. Nestler-Tremel, StV 8/85, S.343ff. m.w.N.
10 vgl. zu diesem im übrigen rechtsstaatlich höchst fragwürdiges Verfahren der Truppendienstgerichtsbarkeit: Mahrenholz, in: Grundrechte Report, 1997, S. 63 (66).
11 Bundesministerium für Verteidigung, 1994, S.133.
12 vgl. u.a. Brecht, 1992, § 1 KDVG, Rn.3.
13 BVerfGE 23, 127 (131), 27, 191 (202).
14 Stein, Staatsrecht, 1995, § 31 III, 5 b), S. 262.
15 vgl. Kempen, in: AK-GG, Art. 4 Abs. 3, Rn.26.
16 Mahrenholz, in: UrlS, 5/98, D1, Nr. 455, S.3.
17 vgl. Heinecke, DuR 1/93, S. 69 ff.; Preuß, in: AK-GG, Art. 4. Abs. 1, 2, Rn. 42ff.
18 vgl. BVerfGE 33, 23 ff.
19 BVerfGE 28, 243 (261); 48, 127 (159ff.); 69, 1 (22).
20 vgl. LG Potsdam, in: KDV-Informations-Dienst (KID), Nr.820/Ia.
21 Eckertz, 1986, S. 25ff.
22 so auch LG Potsdam, aaO.
23 so u.a. auch Heinecke, aaO., Kempen, in: AK-GG, Art. 4 Abs. 3, Rn.16, 26; Mahrenholz, aaO. (Fn.18), S.4; Stein, aaO.; Roxin, 1997, S. 868 ff.
24 vgl. Kempen, JZ 1971, S.452ff.

Literatur:

DFG-VK, Lizenz zum Töten, Kommentar zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien, 1993.
Werner, Günter, Die Entwicklung der Rechtsprechung in Strafverfahren gegen Totale Kriegsdienstverweigerer, in: DFG-VK, Der Widerstreit zwischen Wehrplicht und Gewissen (bros.) unter www.dfg-vk.de/zentralstelle-kdv/tkdv.
Eisenberg, Ulrich / Wolke, Carsten, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Totalverweigerung, Juristische Schulung (JuS) 4/93, S. 285ff..
DFG-VK (Hrsg.), Wehrpflicht? Ohne Uns! - Reader zur Totalen Kriegsdienstverweigerung, 7. Aufl.
Nestler-Tremel, Cornelius, Zivildienstverweigerung aus Gewissensgründen, Strafverteidiger (StV) 8/85, S.343ff.
Mahrenholz, Ernst Gottfried, Das Recht zur Totalverweigerung, in: Grundrechte Report, 1997, S. 63.
Bundesministerium für Verteidigung, Weißbuch 1994, Weißbuch zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Zukunft der Bundeswehr, 1994.
Brecht, Hans-Theo, Kriegsdienst und Zivildienst, 3. Aufl., 1992.
Stein, Ekkehart, Staatsrecht, 15. Aufl. 1995.
Alternativkommentar zum Grundgesetz (AK-GG).
Mahrenholz, Ernst Gottfried, Das Gewissen und die Wehrpflicht, in: Urteils- und Informationsservice Totale Kriegsdienstverweigerung (UrlS), 5/98, D1, Nr. 455, S.3.
Heinecke, Gabriele, Freispruch für Totalverweigerer, Demokratie und Recht (DuR), 1/93, S. 69 ff.
Eckertz, Rainer, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts, 1986.
Roxin, Claus, Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997.
Kempen, Otto Ernst, Staatsraison über Verfassungsraison?, Juristenzeitung (JZ) 1971, S.452ff.